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"Euthanasie"-Programm der Nazis: Als Ärzte mordeten

Sigrid Falkenstein hat dem vergessenen Schicksal ihrer Tante nachgespürt, die im „Euthanasie“-Programm der Nazis getötet wurde.

Anna ist eine von vielen. Sie gehört zu den über 200 000 Menschen, die während des NS-Regimes als „lebensunwert“ und „minderwertig“ galten und dem geplanten Massenmord, besser bekannt unter dem beschönigenden Begriff „Euthanasie“, zum Opfer fielen. Anna war auch die Tante von Sigrid Falkenstein. Diese Nichte, die seit 1971 in Berlin lebt und hier lange Jahre als Lehrerin arbeitete, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, sie hat ihre Tante Anna nie kennengelernt. Auch nicht in Erzählungen. Vor neun Jahren ist Falkenstein dann im Internet auf das Familiengeheimnis gestoßen. Da wollte sie eigentlich ihre Großmutter googeln. Stattdessen fand sie eine Person desselben Namens auf einer englischsprachigen Seite, aufgeführt in einer Liste von „Personen, die durch deutsche Ärzte ermordet wurden“. Ihre Tante Anna, wie sie nach dem ersten Schock herausfand.

Anna Lehnkering wurde 1935 als „erbkranker“ Mensch zwangssterilisiert, ein Jahr später von der Familie getrennt und in eine Heil- und Pflegeanstalt im rheinischen Bedburg-Hau eingewiesen. Im Jahr 1940 wurde sie mit 24 Jahren schließlich in einer Gaskammer ermordet. Ihre Patientenakte liegt heute im Bundesarchiv in Berlin. Sigrid Falkenstein hat die Akten über das Mädchen Anna, das in der Schule Schwierigkeiten beim Lernen hatte und keine Ausbildung machen durfte, intensiv studiert. Und sie hat ein Buch zur Erinnerung an Annas Schicksal geschrieben. Wenn jemand wie ihre Tante spurlos aus der Familiengeschichte verschwinden würde, „damit wäre ja das Ziel der Nazis erreicht“, so begründet Sigrid Falkenstein ihr Buchprojekt.

Lange Zeit schien das Schicksal der psychisch kranken, in ihrer Sinneswahrnehmung oder im Denken behinderten Menschen, die Opfer der zentral organisierten Zwangssterilisationen und Massenvernichtungsaktionen der NS-Zeit wurden, nicht allein aus den Familiengeschichten, sondern auch aus denen der mitverantwortlichen ärztlichen Fachgesellschaften verschwunden zu sein. Im Unterschied zu einigen Tätern, die in der Fachwelt auch nach dem Krieg wichtige Positionen behielten. Inzwischen stellt sich die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) dem Thema, etwa auf Kongressen. „Ohne Initiative und Unterstützung von Psychiatern und anderen Ärzten hätte das nationalsozialistische ’Euthanasie’-Programm nicht in die Tat umgesetzt werden können“, ist auf der Homepage der Fachgesellschaft zu lesen.

Es waren Mediziner, die eingeschüchterte, im Denken langsame Mädchen wie Anna, die damals gerade die Hilfsschule absolviert hatte, mit der zweifelhaften Diagnose „angeborener Schwachsinn“ versahen. Und es waren ebenfalls Mediziner, die einige Jahre später der nunmehr 19-Jährigen auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 die Eileiter unterbanden, damit sie keine Kinder bekommen konnte. Wer an Schizophrenie, an manisch-depressiven Erkrankungen, aber auch an erblichen Formen von Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung oder schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Über die Sterilisation entschieden „Erbgesundheitsgerichte“, die zu diesem Zweck neu gegründet wurden.

Vor allem aber waren es Ärzte, die einige Jahre später in der Berliner Tiergartenstraße Nummer 4 saßen und als Gutachter anhand von Meldebögen über die Tötung von „Ballastexistenzen“ entschieden, durch ein rotes Pluszeichen auf einem Aktenstück. Zur Begutachtung von Anna Lehnkering kamen einige von ihnen noch persönlich in die Pflegeanstalt. Schließlich wurde ihr Schicksal schon in der Frühphase der „Aktion T4“ besiegelt.

Sigrid Falkenstein nennt in ihrem Buch die Namen der ärztlichen Führungskräfte, die ihre Tante zusammen mit 457 anderen Frauen und Männern von Bedburg-Hau ins 500 Kilometer entfernte Grafeneck im heutigen Baden-Württemberg „überwiesen“ und „verlegten“: Begriffe, die ebenso beschönigend sind wie der der „Euthanasie“, des „schönen, friedlichen Todes“. Die Wirklichkeit hielt für sie einen Massentransport in zehn engen Reichsbahn-Waggons und ein Ersticken in der Gaskammer bereit. „Weit über 10 000 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen werden innerhalb eines Jahres allein in Grafeneck vergast“, schreibt Sigrid Falkenstein. Dazu kommen andere Orte des organisierten Gasmordes wie Brandenburg/Havel, Bernburg, Hadamar, Hartheim und Pirna-Sonnenschein.

Die Zentrale, eine Villa, wo die gesamte „Aktion T4“ gesteuert wurde, war in Berlin: Dort, wo heute der Vorplatz der Philharmonie und das Foyer des Scharoun-Baus liegen. Eine Gedenkplatte in der Nähe soll Passanten an die Geschichte des Ortes erinnern, ebenso eine abstrakte Plastik. Sigrid Falkenstein findet, dass das nicht reicht. Als Teilnehmerin des „Runden Tisches T4“ setzt sie sich für einen echten Gedenk-, Erinnerungs- und Informationsort ein. Schon vor einiger Zeit wurde mit einer Informationstafel ein Anfang gemacht. Im November 2011 hat der Bundestag beschlossen, auf dem historischen Areal einen Gedenkort zu errichten. Jetzt läuft ein Wettbewerb des Landes Berlin für die Umgestaltung.

Menschen wie Anna seien noch lange nach der NS-Zeit für viele Angehörige etwas gewesen, für das man sich schämen musste, vermutet Sigrid Falkenstein. Mindestens so wichtig wie Gedenkorte ist deshalb der Abbau von Unwissenheit und Vorurteilen gegenüber Menschen, die „im Kopf nicht ganz richtig“ wirken.

Mehr unter: www.sigrid-falkenstein.de oder im Buch von Sigrid Falkenstein: Annas Spuren. Ein Opfer der NS-„Euthanasie“. Unter Mitarbeit des Psychiaters Prof. Dr. med. Frank Schneider. Herbig 2012.

Adelheid Müller-Lissner

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