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Eine Beileidsbekundung auf einer Werbetafel am Breitscheidplatz.
© John MacDougall/AFP

Von Paris bis Berlin: Wir müssen um den öffentlichen Raum kämpfen

Attentate, Kundgebungen, jetzt der Anschlag an der Gedächtniskirche: Dieser Essay über unseren Umgang mit dem Terror erschien Ende 2015 nach den Anschlägen von Paris - und ist doch weiterhin aktuell.

Es ist der Alptraum schlechthin, für Politiker und Organisatoren, Veranstalter und Besucher: dass dort, wo sich besonders viele Menschen versammeln, im Fußballstadion, am Bahnhof, in der Konzerthalle, ein Anschlag verübt wird. Der Alptraum ist dieses Jahr wahr geworden, am 13. November, dem schwarzen Freitag in Paris. Wahllos schossen die IS-Attentäter in die Menge; das Fußballstadion blieb zwar verschont, aber sie töteten Rockkonzertbesucher, Kneipen- und Restaurantgäste.

Die Bedrohung des öffentlichen Raums ist nicht neu. Seit 9/11, seit den Terroranschlägen auf U-Bahnen und Züge in London und Madrid, auf Badehotels und Touristenstrände in Ägypten und Tunesien, ist schmerzlich ins Bewusstsein gerückt, wie gefährdet er sein kann. Und wie sehr der Terror von Al Qaida bis IS darauf zielt, die Demokratie eben hier zu verletzen, in ihrem Kern: beim Grundrecht auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit.

Neuerdings muss das Grundrecht manchmal eingeschränkt werden, auch im demokratischen Westen. In Brüssel, dem Herkunftsort einiger Täter vom 13. November, blieben die Metro, Schulen und Universitäten tagelang geschlossen. Meiden Sie größere Versammlungen, Flughäfen, Bahnhöfe, Nahverkehr, so die Regeln der höchsten Terrorwarnstufe. In Hannover musste ein Länderspiel kurz vor dem Anpfiff abgesagt werden – und eine Lesung von Helge Schneider. In Frankreich gilt der Ausnahmezustand, drei Monate lang.

Bangemachen gilt? Die Furcht, öffentlich aufzutreten und ein großes Publikum zu versammeln, nimmt jedenfalls zu: Nach dem schwarzen Freitag im November wurden glamouröse Filmpremieren auf einen bescheideneren Rahmen heruntergedimmt oder ganz gestrichen, Prince cancelte seine Europatournee. Im Januar, nach den Attentaten auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris, war in Belgien wegen Bombendrohungen ein komplettes Filmfestival abgesagt worden. Wegen zwei Produktionen, die vom internationalen Terror handeln, hatte es Bombendrohungen gegeben.

Viele trotzen dem Kalkül mit der Angst

Andere reagieren offensiv und trotzen dem Kalkül mit der Angst. Einen Tag nach dem 13. November trat Madonna in Stockholm auf und fragte in einer bewegenden Rede: „Warum sollte ich ihnen erlauben, mich und uns davon abzuhalten, die Freiheit zu genießen?“ Im Dezember gab die Queen of Pop auf ihrer „Rebel Heart“-Tournee auch in Paris ein Konzert und sang ein paar Zugaben am der Place de la République.

Plätze gehören allen. Wo einst die Untertanen den Herrschern huldigten, wo Pranger und Galgen standen, wo bis heute auf dem Markt Handel betrieben und an Silvester das Feuerwerk bejubelt wird, manifestiert sich der Geist einer Gesellschaft, sein Machtgefüge, seine Offenheit. Hier feiern, demonstrieren, versammeln sich die Bürger.

Nähe suchen, man tut es auf dem Platz

Der 33.000 Quadratmeter große Platz der Republik mit dem Mariannen-Monument als Freiheitssymbol in der Mitte ist der größte Platz von Paris. Wer trauert, Solidarität bekunden oder auch einfach nur mit seiner Furcht und seiner Empörung nicht alleine sein will, trifft sich dort mit Gleichgesinnten. Nähe suchen, man tut es auf dem Platz. Schon die Solidaritäts-Demo nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ mit eineinhalb Millionen Menschen und mehreren Dutzend Staatschefs endete auf der Place de la République. Eine gewaltige Gemeinschaftsaktion zur Verteidigung demokratischer Werte.

Das Bedürfnis nach spürbarer Solidarität ist größer denn je

"Je suis Charlie" hieß es im Januar 2015 bei einer Kundgebung gegen Terror, Rassismus und Ausgrenzung.
"Je suis Charlie" hieß es im Januar 2015 bei einer Kundgebung gegen Terror, Rassismus und Ausgrenzung.
© dpa

Das Paradox des öffentlichen Raums ist die Gleichzeitigkeit von Ohnmacht und Macht. Menschenmengen sind unter freiem Himmel, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an frei zugänglichen Orten wie Schulen und Kinos Angriffen von Amokläufern und Massenmördern leichter ausgesetzt als in Privaträumen. Gleichzeitig können OpenAir-Versammlungen aber auch eine gewaltige Wirkung entfalten. Nach den Pariser Anschlägen gingen überall in der Welt Menschen mit der Parole „Wir sind Charlie“ auf die Straße, stellten Kerzen auf, legten Blumen nieder, hielten Schweigeminuten ab, in Fußgängerzonen, vor Botschaften, an Bahnhöfen und Plätzen mit hohem Publikumsverkehr.

Das Bedürfnis öffentlicher, physischer, haptischer Solidarität ist größer denn je. Ein Wir-Gefühl tut sich kund, dem Twitter und die sozialen Netzwerke nicht genügen. Während die Community der Nutzer sich jederzeit in virtuellen Foren zusammentun kann, erfährt das analoge Kollektiv neue politische Bedeutung. Als Selbstvergewisserung einer internationalen Wertegemeinschaft, die den Islamisten bekundet: Ihr tötet im Namen Allahs, uns ist die Freiheit heilig. Und auch wir stehen für unsere Überzeugungen ein. Ganz real, auf unseren Straßen und Plätzen.

Das griechische Modell der Agora - im Grundgesetz verankert

Der Platz ist der Geburtsort der Demokratie, der Nukleus von Öffentlichkeit. Das griechische Modell der Agora hat noch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Eingang gefunden: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, heißt es in Artikel 8. Mit dem Zusatz, dass dieses Recht unter freiem Himmel eingeschränkt werden kann, allerdings nur auf gesetzlicher Grundlage.

In den Bürgerrevolutionen der letzten Jahre erlebte die Idee der Agora weltweit eine eindrucksvolle Renaissance. Ausgetragen wird der uralte Konflikt zwischen Volk und Macht, wenn auch oft nicht mit glücklichem Ende. 1989 fing es an, auf dem Pekinger Tiananmen-Platz, bei den Leipziger Montagsdemos, auf dem Alexanderplatz in Berlin. Später wurde der Arabische Frühling auf dem Tahrir-Platz in Kairo ausgetragen, zuletzt auf dem Maidan in Kiew und dem Taksim-Platz in Istanbul. Auch die Occupy-Bewegung besetzte weltweit Straßen und Plätze, um der oft unsichtbaren Macht des Kapitalismus die Stirn zu bieten.

Wir sind das Volk. Wer draußen demonstriert, debattiert, campiert, musiziert und agitiert, wird vom Bewohner zum Bürger, der Mitbestimmung einklagt. Auch in Berlin drehte sich eine der wichtigsten politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre um eine Freifläche, um die Tempelhofer Freiheit beim Volksbegehren gegen die Bebauung des Flughafenfelds.

Öffentlichkeit reklamieren

Plätze besetzen bedeutet, Öffentlichkeit zu reklamieren. Die offensive Geste hat weiterhin Konjunktur. Aber 2015 hat sich die Konfliktlinie verschoben. Statt um Volk und Macht geht es mehr um die Frage Freiheit oder Sicherheit. Wer Anschläge ausschließen will, schränkt die offene Gesellschaft mit Sicherheitsmaßnahmen drastisch ein oder schafft sie gar ab – womit die Terroristen ihr Ziel erreicht hätten. Also gehen jetzt nicht die Rechtlosen auf die Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen, sondern die bürgerliche Mehrheit drängt ins Offene und verteidigt ihre bedrohte Freiheit.

Taschenkontrollen oder Rucksackverbot auf dem Weihnachtsmarkt sollen nicht zum Alltag werden; und die Fußball-EM 2016 in Frankreich ist ohne Public Viewing und Fanmeilen nicht denkbar. Und wenn sich auf dem Dresdner Theaterplatz vor der Semperoper montags die Pegida-Anhänger versammeln, dann machen auch sie vom kostbaren Gut der Versammlungsfreiheit Gebrauch. Es ist konstitutiv, sie auch den Feinden der Demokratie zuzugestehen.

Die Globalisierung hat die Welt kleiner gemacht. Gleichzeitig ist ihr mit dem Internet ein unendlich großer öffentlicher Raum zugewachsen, der die Teilhabe aller gestattet – soweit Staaten wie China oder Saudi-Arabien den Datenfluss nicht blockieren. Die politischen, kulturellen, geografischen Räume sind entgrenzt, Informationen, Waren und Ideen können frei kursieren wie nie. Nur wenn die Menschen dies tun – darauf machte Frank Rieger vom Chaos Computer Club kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“ aufmerksam –, sollen sie mit Zäunen und Grenzkontrollen aufgehalten werden.

Die Flüchtlinge an den griechischen und italienischen Stränden, die Asylbewerber, die tagelang draußen vor dem Lageso frieren, rücken den öffentlichen Raum noch einmal auf andere Weise ins Bewusstsein. Er kann auch zum notgedrungenen, provisorischen Aufenthaltsort derer werden, denen Privatheit verwehrt ist, weil sie ihre eigenen vier Wände verloren haben, ihre Heimat, Sicherheit, Schutz. Der Platz wird zum Campingplatz, zum Gegenteil von Behaustheit. Mit dem freien, hoffentlich milden Winterhimmel als einzigem Dach über dem Kopf.

Asylbewerber auf dem Oranienplatz

Wem gehört die Stadt? Fast eineinhalb Jahre zelteten Asylbewerber auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Die Diskussion über urbane Räume, die Bürgerbeteiligung bei den Planungen zur Historischen Mitte, die Initiativen und Proteste zur Erhaltung von Nachkriegsarchitektur in zahlreichen Städten – im digitalen Zeitalter sensibilisiert sich die Wahrnehmung für die gewachsene, gebaute analoge Umgebung, die bitte nicht vollständig der Investorenarchitektur der Shopping Malls und Hotelketten überlassen werden soll. Und mit der Standortsuche für Flüchtlingsunterkünfte verändert sich auch die Vorstellung, wie frei das Tempelhofer Feld bleiben soll.

Nicht zuletzt verschiebt sich das Verhältnis von innen und außen in der Kultur. Die Bühnen, die Museen, die Kinoleinwände verstehen sich gewöhnlich als Schutzzone, als Freiraum für Wunsch- und Wahnfantasien, für den offenen, tabufreien Diskurs. Besonders eindrücklich war das dieses Jahr beim Berlinale-Siegerfilm „Taxi Teheran“ zu sehen. Der mit Berufsverbot belegte Regisseur Jafar Panahi spielt selbst den Taxifahrer und kutschiert seine Landsleute durch die iranische Hauptstadt, dabei wird unentwegt über politisch heikle Themen diskutiert, von der Todesstrafe bis zu den Frauenrechten. Ein Auto ist beides, draußen und drinnen, eine Schutzzone mitten in der Öffentlichkeit. In einem Land, das seinen Bewohnern Mobilität und Demokratie verweigert, eröffnet Panahi einen Transitraum, in dem die Sehnsucht sich wenigstens versuchsweise frei bewegen kann. Versammlungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille.

Der öffentliche Raum ist umkämpft wie nie

Die Kultur als Gegenwelt zur Wirklichkeit braucht Ruhe und Konzentration. Deshalb findet sie meistens in Innenräumen statt. Früher war das anders, die Darstellende Kunst wurde unter freiem Himmel aus der Taufe gehoben, in den Amphitheatern unter der Sonne des Mittelmeers. Vielleicht besinnen sich die Musentempel ja auf ihre Anfänge, wenn etliche ihre Pforten nun wieder weit öffnen. Früher gab es Kirchenasyl, heute leben Flüchtlinge im Theater, Ensembles und Chöre treten in Notunterkünften auf, Asylbewerber spielen auf der Bühne mit, werden in Projekte eingebunden.

Bei so viel Wirklichkeitsnähe sind Kollisionen unvermeidlich: Regisseur Alvis Hermanis will nicht an einem „Refugee Welcome Centre“ wie dem Hamburger Thalia Theater inszenieren, und die Berliner Schaubühne trifft sich mit der AfD vor Gericht. Auch die kulturelle Öffentlichkeit ist in Bewegung geraten. Die Documenta, altehrwürdiges Weltkunstevent in Kassel, verlässt erstmals seine Stammadresse und hat annonciert, dass 2016 auch Athen bespielt werden wird. Der Schauplatz der Krise als Schauplatz der Kunst.

Der öffentliche Raum ist umkämpft wie nie. Das Bild des Jahres dazu? Wieder die Place de la République, Ende November, vollgestellt mit Schuhen, Tausenden von Schuhen. Keine Konzeptkunst, kein Happening, kein Marketinggang, sondern ein symbolischer Protest der Klimaaktivisten, denen wegen des Ausnahmezustands das Demonstrieren untersagt worden war. Schuhe als Stellvertreter: Auch so lässt sich für die Freiheit einstehen.

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