Gesellschaft: Wilder Pfad durch die Geschichte
Im Müritz-Nationalpark darf man das Heiligste betreten: die Kernzone des Unesco-Weltnaturerbes rund um den Serrahnsee. Preußische Fichten und amerikanische Roteichen erzählen dabei deutsche Geschichte.
Die Aussicht von der Kanzel am Westufer des großen Serrahnsees im Müritz-Nationalpark verrät viel über die Kämpfe zwischen Wald und Wasser. Das Moor drängt in den Wald und die Birken gleich neben dem Pfad zur Kanzel merken es: Sie mögen den steigenden Wasserspiegel nicht und sterben von den nassen Füßen her weg. Auf der anderen Seite des Sees gewinnt der Wald gegen das Moor, er ringt dem nassen Grund Meter um Meter ab. Dabei war hier mal alles See: Als sogenanntes Verlandungsmoor verdankt dieses Sumpfland seine Existenz einer erst um 1800 von Menschen vorgenommenen Absenkung des Wasserspiegels. So entwickelte sich ein nährstoffarmes Moor, eine botanische Kostbarkeit, die bis heute durch menschgesteuerte Wasserspiegelschwankungen erhalten wird. Die Aussichtsplattform am Serrahnsee steht ungefähr in der Mitte des »Wald-Erlebnis-Pfads Serrahn« im Müritz-Nationalpark. Es ist der kleinere Teil des Nationalparks: Der größere schmiegt sich östlich an die Müritz an; diese Ecke hier wird »Teilgebiet Serrahn« genannt und liegt im Übergang zwischen der Mecklenburgischen Seenplatte zur Feldberger Seenlandschaft. Zwischen den Stücken des Nationalparks pflügt die A96 durch die Region, zwischen ihnen liegt auch das Städtchen Neustrelitz. Der Waldpfad durch den Serrahn geht durchs Zentrum: Denn im Unterschied zu fast allen anderen Nationalparks Deutschlands und Europas ist dieses Zentrum zugänglich. In Nationalparks wie dem im Bayerischen Wald gibt es deshalb eine Kernzone, in die niemand, auch keine spazieren gehenden Besucher, hineingehen darf. Hier soll sich der Wald ohne jeden menschlichen Einfluss entwickeln, wie es ihm gefällt. An der Müritz gibt es diese strikte Zone nicht.
Der Müritz-Nationalpark gehört zum Unesco-Weltnaturerbe, das 15 Gebiete von den Buchenurwäldern der Karpaten bis zu den alten Buchenwäldern Deutschlands umfasst. Dazu zählen neben dem Müritz-Wald auch der Nationalpark Hainich in Thüringen und der Nationalpark Kellerwald-Edersee. Wobei man mit der Bezeichnung »Urwald« vorsichtig sein sollte. Rotbuchenwälder sind mit einem Alter von knapp 4000 Jahren ein relativ junges und rein europäisches Phänomen. Buchenwälder werden immer wieder gern als der »echt natürliche« Wald dargestellt, der – wenn man unsere Landschaft in Ruhe ließe – alles bewachsen würde. Dabei hat der deutsche Buchenwald auch eine Kultur-Geschichte. Buchen wurden hierzulande erst mit der Besiedlung Germaniens zu den vorherrschenden Bäumen. Mit der Gründung von Städten, Burgen und Klöstern und der Ausbreitung des Ackerbaus wurden immer mehr Wälder gelichtet. Es wurden aber nicht nur Bäume gefällt, man pflanzte auch Bäume – schon damals. An die wurden andere Ansprüche gestellt als heute: Zuerst sollten sie zusätzliche Nahrung liefern, man trieb die Schweine zum Bucheckern-Suchen in den neuen Forst. Erst in zweiter Linie ging es um zusätzliches Werk- und Brennholz. Es gehört zu den Schönheiten des sieben Kilometer langen Waldpfades, dass er die Geschichte der Wälder erzählt. Der Weg beginnt im Dorf Zinow, in einer buchstäblich gebrauchten Landschaft. Zwischen beackerten Feldern hindurch kommt man zuerst in einen Kiefernwald, der, wenn auch vereinzelt von Laubbäumen unterbrochen, das eintönige Bild einer menschgemachten Pflanzung abgibt. Angelegt wurde der Kiefernwald nach dem II. Weltkrieg auf übernutzten und ausgemergelten Freiflächen, um den akutesten Holzmangel zu beheben, erzählt der Ranger Hendrik Fulda, der die Besucher durch den Wald führt. Hinter den Kieferstücken setzen sich die Buchen immer mehr durch. Das Leitbild des Parks ist ein weitgehend von menschlichen Nutzungen und Eingriffen »befreiter« Wald. Aber manche Rotbuchenstücke werden ohnehin schon seit 50 Jahren nicht mehr von Förstern oder Bauern genutzt. Das Besondere: Je nach Jahreszeit ändert sich der Lichteinfall im Buchenwald drastisch. Die erst durchsichtig maigrünen, später dunkelgrünen Blätter diktieren den niedrigeren Pflanzen den Lebensrhythmus. Und nicht nur das Licht, auch die Tiere passen sich dem Wald an: Vögel, die im Wald einen Partner suchen oder auch nur ihre Anwesenheit bekunden wollen, müssen ihre Töne nach der Umgebung richten. Im Wald filtert die Vegetation Schallsignale und dämpft manche Töne. Vögel müssen also, wenn sie Laute von sich geben wollen, damit rechnen, dass die Klänge nicht sonderlich weit tragen und auch nicht so beim Empfänger ankommen, wie sie ausgesandt wurden. Kohlmeisen singen im Wald darum anders als auf Wiesen und Steppen, generell singen Vögel im Wald melodiöser und kunstvoller als im offenen Gelände. Flötenähnliche Töne gehören darum zur typischen Waldgeräuschelandschaft.
Der bis heute weltweit einmalige Erfolg der »nachhaltigen« Forstwirtschaft, der dazu führt, dass aktuell 31 Prozent des deutschen Staatsgebietes Wald sind, verdankt sich zwei günstigen Gegebenheiten. Bäume lassen sich auf hiesigen Böden jederzeit nachpflanzen. Das funktioniert weder in tropischen Regenwäldern noch in den nordamerikanischen Kalt-Urwäldern. Wenn diese Wälder einmal gefällt sind, sind sie auf immer zerstört. Und dann gedeihen hier zwei äußerst robuste Baumarten: die Fichte (Picea abies) und die Waldkiefer (Pinus silvestris). Mit diesen beiden Standardarten der deutschen Forstwirtschaft ließen sich zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts jene riesigen Monokulturen anlegen, die bis heute die Landschaften um Berlin prägen – ein Erbe Preußens. »Ich gestehe, dass, Libyen ausgenommen, wenige Staaten sich rühmen können, es uns an Sand gleich zu thun«, schrieb Friedrich der Große am 10. Januar 1776 an Voltaire, an den französischern Philosophen und Schriftsteller, der seit 1750 einige Jahre am Hof des Königs in Sanssouci bei Potsdam verbracht hatte und mit dem Friedrich sich später regelmäßig in Briefen austauschte. Friedrich unterlässt in seiner Regentschaft keine Anstrengungen, dort, wo Sand ist, Wald werden zu lassen, und ist damit einer der Herrscher, die Deutschland zum »Vaterland der Forstwirtschaft« gemacht haben. Auch die Kiefern im Müritz-Nationalpark zeugen noch von dieser nationalen Anstrengung preußischen Kampfgeistes. Zu Friedrichs Waldplan gehörte aber nicht nur die Bepflanzung von Sandflächen, sondern auch die groß angelegte Trockenlegung von Sümpfen und Mooren. Über Jahrhunderte haben im Müritzgebiet Bauern und Förster Seespiegel abgesenkt und versucht, trockenes Land zu gewinnen. Das Land gab aber wegen der sehr dünnen Humusdecke nie über längere Zeit ausreichende Erträge. Die Region blieb immer das Armenhaus Mecklenburgs.
Wir queren eine alte Schneise zwischen den Kiefern. Hier stand einst eine alte Stromtrasse, unter der alles Baumhafte regelmäßig kurz gehalten wurde. Seit einigen Jahren wird dieses Flurstück nun wieder von den verschiedensten Pionierbäumen besiedelt. Birken, Espen, Vogelbeeren und Kiefern holen sich als Jungwald zurück, was frühere Rodungen ihnen genommen hatten. Hier entwickelt sich der Wald von Grund auf neu, und gerade diese Übergangsstadien zwischen nicht-mehr-Nutzforst und noch-nicht-wieder-wilder-Wald machen diese Waldformation spannend. Denn auch weil man an der Müritz die Spuren der alten Nutzungspflanzungen nicht durch Kahlschläge beseitigt hat, bekommt der Wald seine Vielfalt: Nach den Kiefern und Pionierpflanzen führt der Weg durch eine streng in Reih und Glied gepflanzte Schonung amerikanischer Roteichen. Die Roteichen gehören zu den schnellwachsenden Baumarten, die gleichzeitig relativ hochwertiges Holz liefern. Ihre Blätter wechseln im Herbst in ein warm strahlendes Rot – daher der Name. Als amerikanische Einwanderer stören sie eigentlich die Nationalparkidee von der heimischen Natürlichkeit. Man lässt sie aber (zumal sie nur höchstens 400 Jahre alt werden) und geht davon aus, dass sie irgendwann vom naturbelassenen Wald überwachsen werden und verschwinden. Das entspricht dem Leitbild des Parks als einem weitgehend von menschlichen Nutzungen und Eingriffen »befreiten« Wald. Wie der natürlich gewachsene Wald in einigen Jahrhunderten dann aber aussehen wird, das weiß niemand so genau. Nicht amerikanische Roteichen und preußische Kiefern sind schuld daran: Alte Wälder, die ganz ohne menschliche Eingriffe und Einflüsse gewachsen sind, gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr.
Der Text stammt aus dem Magazin "Tagesspiegel - Mecklenburgische Seenplatte". Für 6,50 Euro im Tagesspiegel-Shop oder am Kiosk.
Weitere Themen der Ausgabe: Auf einen Blick. Leute, Landschaften und die wichtigsten Fakten zur Mecklenburgischen Seenplatte; Schweizerisch. 125 Gipfelmeter reichen für den Titel "Schweiz"; Die Besten Schlösser und Burgen des Nordens; Mit dem Rad. Sechs Radtouren durch die Region; Im Land der großen Seen. Paddling, Radfahren, Kuchenessen - Ein perfekter Tag an der Müritz; Action! Wasserski und Paragliding auf den Großseen; Plötze, Barsch und Ukelei. Mit den Kindern zum Angeln; Malchow. Wo eine Brücke Dreh- und Angelpunkt ist; Nationalpark. Die Buchenwälder bei Serrahn sind Teil des Unexco-Weltnaturerbes; Die Besten Touren mit dem Hausboot auf den Großseen; Mit dem Kanu ins Kino. Auf dem Kultur- und Naturtrip an den Mecklenburgischen Kleinseen; Pilze sammeln deluxe. Ein Experte hilft finden und ein Sternekoch macht daraus leckeres Essen. Die Besten Campingplätze, die man auch mit dem Kanu erreicht. Essen & Trinken. Die Top Ten der Mecklenburgischen Seenplatte; Freizeit & Kultur. Ausflugsziele und Termine 2016; Übernachten. Unsere Empfehlungen für eine gute Unterkunft
Marcus Franken