Liegen die Wurzeln in Stuttgart?: Wie aus diffuser Corona-Angst eine Protestbewegung wurde
Früher als anderswo begann Michael Ballweg „Querdenken“-Demos zu organisieren. Vom Sturm auf den Reichstag distanziert er sich jetzt. Wie glaubwürdig ist das?
Schwaben, die es nach Berlin zieht, haben ja eine gewisse Tradition. Insofern ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass einer der Initiatoren der Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung vom vergangenen Samstag in Berlin ein Stuttgarter ist: Michael Ballweg, IT-Unternehmer und Kopf der Bewegung “Querdenken 711” aus Stuttgart. Früher als anderswo begann Ballweg Mitte April in Stuttgart Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu organisieren.
Warum ausgerechnet Stuttgart?
Tausende folgten seinem Aufruf, gemeinsam veranstalteten sie sogenannte “Mahnwachen für das Grundgesetz”. Wer in der Szene etwas auf sich hielt, kam in Stuttgart vorbei: Ken Jebsen, Youtube-Verschwörer, Max Otte, Mitglied der Werte-Union, und Heiko Schöning von den sogenannten “Ärzten für Aufklärung”, um nur drei zu nennen. Die Frage, die sich schon damals stellte: Warum ausgerechnet liegt die Keimzelle dieses Protests in Stuttgart?
Eine Verbindung zur gewachsenen Protestkultur der Stuttgart-21-Gegner schien naheliegend, war es aber nicht. Zwar mag es eine gewisse Schnittmenge beider Bewegungen geben, insbesondere unter allzu esoterischen Impfgegnern, dennoch zeichneten sich die Stuttgart-21-Proteste vor allem durch eine hohe Quote an Wissenschaftlern und Wissenschaftsgläubigen aus - was man von den Corona-Demonstranten nicht wirklich sagen kann. Die Organisatoren der S21-Proteste beeilten sich dann auch, sich von der neuen Bewegung zu distanzieren.
Parallele zu Stuttgart 21?
Es gibt andere Erklärungsansätze. Eine gewisse Obrigkeitsskepsis ist den Schwaben nicht abzusprechen, Pietismus und Anthroposophie waren hier immer verbreiteter als anderswo. Wer es beim Thema Impfen mit den Erkenntnissen der Schulmedizin nicht so genau nimmt, glaubt möglicherweise auch schneller an eine Corona-Weltverschwörung.
[Alle aktuellen Entwicklungen nach den Corona-Demonstrationen finden Sie hier in unserem Live-Blog]
Hinzu kommt, und das ist dann doch eine Parallele zu den S21-Protesten: Den Stuttgartern gelang es eindrucksvoll, sich früh professionell aufzustellen. IT-Unternehmer Ballweg setzte gleich zu Beginn der Proteste eine strukturierte Website auf, die seine Anhänger mit allen Infos versorgt. Auf seinem Youtube-Kanal postet er Reden und Interviews, via Telegram kündigt er Termine an, mit einem Partner bietet er Busreisen zu den Demos nach Berlin an. Als im Mai ein Brandanschlag auf die Lastwagen seines Technikteams verübt wurde, trieb Ballweg in wenigen Tagen knapp 225.000 Euro an Spendengeldern ein.
Merchandise für die Verschwörung
Parallel versorgt er seine Anhänger mit Merchandise. Es gibt Querdenken-T-Shirts, Pullover, Turnbeutel, Sticker. Je nach Stadt, aus der man kommt, kann man sich die passende Vorwahl auf das Shirt drucken lassen: 711 für Stuttgart, 615 für Darmstadt. Und Ballweg weiß den Hype um seine Demos nicht nur wirtschaftlich zu nutzen - auch politisch schlägt er er Kapital: Im November, kündigte er an, wolle er sich bei der Wahl zum Oberbürgermeister von Stuttgart aufstellen lassen.
So strukturiert Ballwegs wirtschaftliche und politische Ambitionen wirken, so verschwurbelt ist sein Weltbild. Links und rechts, sagt er gern, existierten für ihn nicht, stattdessen proklamiert er Liebe und Freiheit. Wer zuletzt in Berlin hörte, wie er sich von Kaiserreichsflaggenträgern auf den Stufen des Reichstags distanzierte, konnte ihn für eine geradewegs vernünftige Stimme im Vielklang der Corona-Leugner halten.
Halbherzige Distanzierung
Wer allerdings seine Demos in Stuttgart besuchte, zum Beispiel Anfang Juni am Börsenplatz, der konnte sehen, dass Ballweg es mit der Distanzierung nicht immer so genau nahm. Neben Esoterikern, Impfgegnern und Trump-Fans liefen schon damals rechte Hetzer mit durchgestrichenem Davidstern und Compact-Magazin in Stuttgart auf. Ein Mann auf der Demo warnte Journalisten, die sich Notizen machten, sie sollten “das Richtige” schreiben - er würde das überprüfen. Fragte man nach, was das Richtige und vor allem, wer er sei, sagte er unverhohlen: “Ich bin Nationalist.”
"Kauft nicht bei Juden"
Eine Demonstration, sagte derweil Ballweg auf der Bühne, sei keine Veranstaltung mit Eintrittskarten und Eingangskontrollen. Er wolle betonen, dass rechtes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut in der Bewegung dennoch keinen Platz habe – genau wie linksextremes. Während er sprach, erhob sich in der Menge ein Mann und schrie: “Kauft nicht beim Juden ihr Arschlöcher.”
Weil niemand auf den Spinner reagierte, veröffentlichten wir die Anekdote auch im Tagesspiegel. Ballweg reagierte prompt: Per Mail erklärte er, den Autor des Texts “nach Rücksprache mit unserer Rechtsberatung wegen unterlassener Hilfeleistung" verklagen zu wollen. Statt die Anekdote zu notieren und im Tagesspiegel zu schildern, hätte man eingreifen müssen. Auf welchen Paragraphen er seine Anzeige stützen wollte, verriet Ballweg nicht. Sie ist bis heute nicht eingetroffen.
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