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Leslie Malton.
© Mike Wolff

Schauspielerin Leslie Malton: „Warum wurde Marion krank und nicht ich?“

Vor einem Jahr las Leslie Malton im "Tagesspiegel" etwas, das ihr Leben veränderte. Plötzlich hatte die Behinderung ihrer Schwester einen Namen.

Frau Malton, Sie sind Schauspielerin, bekannt vom Wiener Burgtheater oder Filmen wie „Der große Bellheim“. Aber Sie wollen über Ihre Schwester sprechen, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit.

Ja. Meine Schwester ist der Grund, warum ich Schauspielerin geworden bin. Marion hat eine seltene Krankheit. Sie kann nicht sprechen, nicht wie wir an der Welt teilnehmen. Schauspieler zu sein, heißt ja, etwas auszudrücken, etwas zu deuten, das andere erfunden haben. Meine Schwester ist ein Wesen, das sich nicht artikulieren kann, also habe ich immer versucht, herauszufinden, was sie sagen wollte, was sie bewegte. So ergab sich mein Weg.

Worunter leidet sie?

Marion war knapp zwei Jahre alt und ganz normal entwickelt, als mein Großvater sagte: Das Kind macht seltsame Handbewegungen. So, als wolle sie etwas auswringen oder waschen. Es war ein schleichender Prozess. Dazu kam das unaufhörliche Weinen und Schreien. Irgendwann hörte sie auf zu sprechen, konnte nicht mehr allein essen. Mit der Pubertät fing sie an, immer auf einem Fuß zu sitzen, und man sah, dass sich die Wirbelsäule verschob. Meine Eltern rannten von einem Spezialisten zum anderen. Keiner wusste, was mit ihr los war.

Ihre Familie lebte jahrzehntelang mit einer Krankheit, die allen ein Rätsel war.

Ich habe mich sogar oft gefragt, ob ich verantwortlich bin. Habe ich sie mit meinem hohen Fieber, das ich als Kind hatte, angesteckt? Warum wurde Marion krank und nicht ich? Als ich jünger war und darüber nachdachte, Kinder zu bekommen, fragte ich mich: Was ist, wenn das Kind so wird wie Marion?

Was sagten die Ärzte?

Dass sie eine Gehirnhautentzündung gehabt haben muss und deswegen vom Gehirn her behindert sei. Blödsinn, wie sich später herausstellte. Meine Eltern haben alles getan, um Marion zu helfen, einen Weg zu ihr zu finden. Sie haben Spezialisten konsultiert, die neuesten Therapien ausprobiert. Sogenannte Patternings etwa, Übungen, mit denen man damals in den 60er Jahren glaubte, das Gehirn erreichen zu können. Drei Menschen brauchte es dazu. Marion lag auf einem Tisch auf einer Matte, links und rechts stand jemand, am Kopf ein dritter. Die rechte Seite des Körpers hat man zusammengezogen, die linke gestreckt, den Kopf zur Seite gedreht. Es war qualvoll.

Dazu hatten Sie als Kinder auch noch ein sehr unstetes Leben.

Mein Vater war amerikanischer Diplomat, Europa war sein Wirkungsgebiet. Wir lebten in Berlin, in den USA, in Wien und wieder Berlin. Bei jedem Umzug waren es dieselben Fragen: Was ist gut für Marion, wie findet man eine Einrichtung, die sie fördert? Ein ewiges Ratespiel, viel ist danebengegangen.

Warum ihre Schwester für Leslie Malton ein Kind bleibt

Wann erfuhren Sie, dass Marion das seltene Rett-Syndrom hat?

Zufällig, an einem Sonntag vor einem Jahr. Ich sah im Tagesspiegel einen Artikel mit der Überschrift: „Wenn es nicht mehr weitergeht.“ Es ging um ein Mädchen mit Rett. Das allein sagte mir nichts, aber als ich den Text las, dachte ich: Das ist die Biografie meiner Schwester! Alles traf zu, die Waschbewegungen der Hände, die verdrehte Wirbelsäule, das Verhalten. Ich war wie im Vakuum – plötzlich gab es einen Namen für das alles.

Das Rett-Syndrom ist eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung, die hauptsächlich Mädchen trifft. Entdeckt hat sie der Arzt Andreas Rett, in den 60er Jahren in Wien.

1970 zog unsere Familie nach Wien, meine Eltern, die von Dr. Rett gehört hatten, brachten meine Schwester zu ihm, aber er hat es nicht diagnostiziert. Man hat sie dort medikamentös so eingestellt, dass sie uns erst nicht mehr erkannte. Wir durften sie drei Monate nicht sehen, haben weder eine Diagnose noch eine Krankenakte bekommen.

Wo lebt Ihre Schwester heute?

Nahe bei meiner Mutter, in einer Einrichtung. In Kalifornien, weil das einer der wenigen US-Staaten ist, der Behinderte unterstützt. Wenn ich sie besuche, schläft sie bei mir im Bett, ich bade mit ihr, wir gehen wie früher ins Schwimmbad. Da bin ich mit ihr auf dem Rücken durchs Becken geschwommen. Als ich klein war, habe ich sie geschminkt, verkleidet, sie war meine lebendige Puppe. Ich wasche sie von oben bis unten, kitzle sie, creme sie ein, das mag sie sehr. Alle Rett-Kinder haben eine irrsinnige Wärme, den Drang zu kommunizieren. Aber manchmal ist ihre Verzweiflung so groß, weil sie etwas ausdrücken will und es nicht kann. Ihre Augen werden riesig, quellen fast aus ihrem Gesicht. Ihr Gehirn ist nicht tot, sie konnte ja ein bisschen sprechen als Kleinkind.

Nehmen Sie Marion als Kind oder Frau wahr?

Sie ist 53, elfeinhalb Monate jünger als ich, sie ist natürlich eine Frau. Aber für mich bleibt sie ein Kind. Man muss sie anziehen, ihr die Zähne putzen, die Haare bürsten, den Po abwischen. Sie kann inzwischen wieder ein bisschen allein essen, aber sich nichts aus dem Kühlschrank holen.

Erkennt Marion Sie immer?

Ja, bis auf einmal, da hat es 15 Minuten gedauert, ich dachte, der Schmerz zerreißt mich. Sie reagiert auf ihre Umgebung, sie ist ja nicht autistisch. Das wird oft missverstanden. Bis heute werden Eltern dieselben Sachen gesagt wie uns vor 52 Jahren. Da heißt es, sie ist halt ein bisserl langsam. Rett ist die zweithäufigste Behinderung von Mädchen. Hilfe ist nur möglich, wenn man informiert.

„Warten und rumsuchen.“ So beschreibt in dem Artikel eine Frau ihr Leben mit einem Rett-Kind. Wie reagierte Ihre Familie, als die Diagnose feststand?

Meine Mutter zögerte lange, bis sie einem Bluttest zustimmte. Ich verstehe das, sie hatte das ganze Leben meiner Schwester mit der Krankheit zu tun, und dann komme ich mit einem Zeitungsartikel und reiße all die Sicherheitspolster herunter. Es ist wichtig zu wissen, dass es sich um eine Genmutation in einer kranken Samenzelle handelt. Egal, wie viel meine Eltern unternommen hätten – sie hätten aus der runden Welt keine viereckige machen können. Leider hat es mein Vater nicht mehr erfahren, er starb 1998.

Kann man das Leben von Betroffenen erleichtern?

Professor Bernd Wilken, der deutsche Spezialist für das Rett-Syndrom, befürwortet Reittherapie. Interessanterweise sitzen die Kinder auf dem Pferd aufrecht, das ist wichtig, damit ihre Wirbelsäule gerade bleibt. Sonst dreht man diesen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes die Organe ab. Leider unterstützen das viele Krankenkassen nicht, obwohl es viel kostengünstiger ist als hinterher all die Korsetts. Es wurde auch eine „unterstützte Kommunikation“ entwickelt. Damit kann man mit Bildern auf dem iPad feststellen, ob das Kind eine Banane oder einen Apfel will.

Mütter lernen auch, die Gesten ihres Babys zu deuten.

Genau, denn Rett-Kinder leben nicht in ihrer eigenen Welt. Als mein Vater starb, zog Marion in ihrem Zimmer Schubladen auf, riss alles heraus, schrie und weinte, war drei Tage lang nicht zu besänftigen. In einer Einrichtung in Österreich, die von Nonnen geführt wurde, war sie mit Schulkindern zusammen. Wenn die ihre Hausaufgaben gemacht haben, hat sie einen Radiergummi aufs Papier geworfen. Sie wollte mitmachen. Die Nonnen haben sie festgebunden. Einen Menschen, der niemandem etwas tut!

Von Inklusion war in den 70er und 80er Jahren noch nicht die Rede.

Meine Eltern – das bewundere ich bis heute – haben meine Schwester nie weggesteckt, obwohl es damals ein Leichtes gewesen wäre. Wenn sie Empfänge gaben, kam Marion oft im Pyjama herunter, sie mag es, unter Menschen zu sein.

Die Schauspielerin Angela Winkler, die eine Tochter mit Downsyndrom hat, sagte, sie habe sich von ihr abgeschaut, zu reden, sich zu bewegen.

Ich habe mehr von Marion gelernt als sie von mir. Das Beobachten von Körperlichkeit, die Fähigkeit zu deuten, was einen anderen Menschen bewegt. Sie kann ja nicht sagen: Mir tut es hier weh. Es ist ein permanentes Ablesen: Wie geht es dir, was hast du, wo befindest du dich gerade, was kann ich tun, damit es dir besser geht? Nichts anderes ist die Zusammenarbeit mit den anderen Figuren auf der Bühne und vor der Kamera. Marion hat mir ein Alphabet an Körperlichkeit gegeben, das ich lesen kann.

Sie gehörten dem Ensemble des Burgtheaters an, waren an der Seite von Klaus-Maria Brandauer Ophelia, haben mit George Tabori zusammengearbeitet. In welcher Rolle konnten Sie das besonders gut umsetzen?

Als Ruthie in Taboris „Weisman und Rotgesicht“, einem „jüdischen Western“, wie Tabori das nannte. Die Rolle hat er mir geschenkt. Ruthie ist geistig behindert. Ich konnte sehr viel von dem, was ich durch meine Schwester erfahren habe, hineinbringen. In einer Szene will der Vater Ruthie töten, er hält es nicht mehr aus mit ihr. Er steckt sie in einen Tümpel, aber sie bricht aus eigener Kraft heraus. Sie spricht, wenn auch sehr gebrochen. Auf der Bühne habe ich eine eigene Sprache entwickelt, stellvertretend für meine Schwester, die ja nicht redet. Meine Ruthie ruft ganz klar: Mama.

Wie oft sich die beiden Schwestern sehen

Wie artikuliert sich Marion?

Einmal haben mein Mann und ich an unserem letzten Abend in den USA Koffer gepackt. Marion lag auf dem Bett und schaute zu, wie wir wie die aufgescheuchten Hühner hin und her rannten. Plötzlich kam ein lautes Lachen vom Bett. Von einem Menschen, von dem du normalerweise nie etwas hörst. Sie hat die Situation ganz genau begriffen und uns ausgelacht.

Sie leben in Berlin, Ihre Schwester in Kalifornien. Wie oft sehen Sie sich?

Viel zu selten. Mein größter Wunsch wäre, dass sie nach Deutschland kommt, aber das zahlt der deutsche Staat nicht. Ich bin ja nicht Deutsche und sie auch nicht. Und ihre Pflege privat zu bezahlen, schaffen wir finanziell einfach nicht.

Haben Sie Ihre Schwester denn in die Theaterwelt mitgenommen?

Das kann sie nicht. Ich werde ihr bald meine Filme auf DVD zeigen. In einem, „Die Umarmung des Wolfes“, habe ich eine Frau gespielt, die als junges Mädchen missbraucht wurde. Da konnte ich ebenfalls viel von meiner Schwester mit in die Rolle nehmen.

Wollen Sie damit sagen, Ihre Schwester wurde auch sexuell missbraucht?

In einer Einrichtung in den USA. Ich will nicht in Details gehen, es war eindeutig zu spüren und wahrzunehmen.

Gab es juristische Konsequenzen?

Nein, meine Eltern haben sie sofort aus der Einrichtung herausgenommen. Es war extrem belastend für sie, sie stellten sich ohnehin immer die Frage: Ist das ein guter Ort? Und plötzlich hat sie einen blauen Fleck von der Größe eines Männerschuhs auf dem Oberschenkel. Marion ist oft misshandelt worden, sie hatte Verletzungen, Platzwunden. Die meisten Rett-Kinder haben eine hohe Schmerztoleranz, und sie kann sich an viele Dinge nicht erinnern. Das ist ein kleiner, wirklich nur sehr kleiner Trost.

Geschwister von behinderten Kindern müssen früh Verantwortung tragen und kommen oft zu kurz.

Ich wurde nicht zur Seite geschoben. Meine Eltern sagten: Du brauchst vielleicht mehr Hilfe bei den Hausaufgaben, deine Schwester braucht Aufmerksamkeit beim Essen. Marion liebt Musik, wie beim Thermostat kann man damit bei ihr die Laune einstellen, sie fängt an zu lachen und freut sich. Wenn sie weint, gibt es zwei Lieder, die sie besänftigen, „Ein Männlein steht im Walde“ und „Hurra, ich bin ein Schulkind“. Wenn ich für jedes Mal Singen einen Cent bekommen hätte, würde mir der halbe Ku’damm gehören.

War Ihnen Marion in der Pubertät manchmal peinlich?

Nie. Einmal habe ich einem älteren Jungen Schläge angedroht, weil er sich lustig gemacht hat. Wenn die Leute fragten: Wieso redet die denn nicht?, sagte ich: Sie hat keine Lust. Mit zwölf wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass sie nicht ist wie andere Schwestern.

Hatten Sie Marion gegenüber deshalb ein schlechtes Gewissen?

Unter einer Situation leide ich bis heute. Ich wollte meine Eltern in Washington zu ihrem 25. Hochzeitstag überraschen. Marions Betreuerin machte die Tür auf, meine Schwester kam herbei, strahlte. Ich bin, ohne sie richtig zu begrüßen, an ihr vorbeigegangen, ich wollte nicht, dass meine Mutter uns hört, wegen der Überraschung. Das Licht, das in dem Moment in Marions Gesicht ausging, werde ich nie vergessen.

Gehen wir in Deutschland gut mit Behinderungen um?

Die Menschen sind hier oft verhalten. Man schaut drei Mal hin, bevor man jemanden im Rollstuhl fragt, ob er Hilfe braucht. Wenn ich in den USA mit meiner Schwester unterwegs bin, hört man so nette Sachen wie: „Hi, Sweetie!, Oh, Honey!“ Und im Restaurant kommt es vor, dass wir nichts bezahlen müssen. Die oft zitierte, fast kindliche Begeisterung der Amerikaner erstreckt sich auch auf behinderte Menschen. In Deutschland finde ich die Inklusionsschulen großartig. Der Horizont wächst, auch für die nichtbehinderten Schüler. Behinderung kann ein großes Geschenk sein. Sie bringt einen dazu, sich mit anderen Dingen auseinanderzusetzen, bewusst zu werden für die Bedürfnisse anderer.

Im Film „Ziemlich beste Freunde“ lässt sich ein Schwerstgelähmter von einem Ex-Kriminellen pflegen. Weil er „kein Mitleid“ will. Darf man mit Behinderten Mitleid haben?

Wenn kleine Kinder sabbern, in die Hose machen, findet man das noch süß. Wenn sie älter werden, sind sie uns ähnlicher, da kommt eine komische Scham ins Spiel, furchtbar. Jemand im Rollstuhl ist auf eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang angewiesen. Dass man die Tasche aufhebt, über die Straße hilft. Nur weil er Speichelfluss hat und im Rollstuhl sitzt, ist er geistig nicht kleiner als ich. Mitleid macht diese Menschen klein und steckt sie in eine Dose.

Ärzte sagen, Behinderungen wie das Down-Syndrom könnten bald seltener vorkommen. Durch pränatale Diagnostik werden Defekte früh erkannt, die Föten abgetrieben.

Ich finde es schon seltsam, dass man während der Schwangerschaft herausfinden will, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Diese Ungewissheit ist doch etwas Schönes. Das Leben ist kein Kirschenessen, wir wachsen an einer solchen Last.

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