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Passanten waten in der Nähe der Rialto-Brücke durch das Hochwasser in Venedig.
© Luca Bruno/AP/dpa

Der bürokratische Wahnsinn um „Mose“: Warum Venedig noch immer nicht vor Hochwasser geschützt ist

Seit drei Jahrzehnten wartet die Lagunenstadt auf ein Sperrwerk zum Schutz vor Hochwasser. Eine italienische Geschichte von Korruption und Gleichgültigkeit.

Nach der Sturmflut, bei der der Pegel auf 187 cm gestiegen war, ist in Venedig inzwischen wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Am Donnerstag feierten die Venezianer in der Lagunenstadt wie jedes Jahr das Fest der „Madonna della Salute“: Die religiöse Tradition erinnert an das Ende der Pest-Epidemie, bei der zwischen 1630 und 1631 etwa 80.000 der damals 150.000 Einwohner dahingerafft wurden. Zum Ausmaß der aktuellen Flutschäden gibt es weiterhin nur Schätzungen.

Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro sprach von bis zu einer Milliarde Euro. Fest steht aber, dass die verheerende Überschwemmung hätte verhindert werden können: Die Stadt mit ihren immensen Kulturgütern sollte eigentlich längst durch eine am Eingang der Lagune auf dem Meeresboden installierte, aufklappbare Sperre aus Stahl geschützt sein. Doch das „Modulo Sperimentale Elettromeccanico“, im Volksmund nur „Mose“ genannt, ist nicht einsatzbereit.

Bei „Mose“ handelt sich um Italiens größtes Infrastrukturprojekt der Nachkriegszeit – und zugleich um das große Unvollendete des Belpaese: ein Symbol für politische Gleichgültigkeit, Korruption und bürokratischen Wahnsinn. Von der dringenden Notwendigkeit, das Weltkulturgut Venedig vor dem drohenden Untergang zu retten, redet man in Italien spätestens seit dem 4. November 1966, als das „Acqua Alta“ die Rekordmarke von 194 cm erreichte.

Die ganze Welt nahm Anteil angesichts der immensen Schäden, die das Meerwasser angerichtet hatte. Doch erst 20 Jahre später kündigte der sozialistische Ministerpräsident Bettino Craxi den Bau eines aufklappbaren Sperrwerks an, das 1995 in Betrieb gehen sollte.

Zwei Jahre danach präsentierte Craxis Vizepremier Gianni De Michelis, ein gebürtiger Venezianer, zum ersten Mal ein Modell. „Für Venedig ist das ein historischer Tag: Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt beschränkt man sich nicht mehr auf das übliche Geplapper und auf hehre Absichten, sondern man nimmt ein konkretes Projekt in Angriff.“

Von ihm stammt auch der Name „Mose“. Seit der Ankündigung Craxis sind 33 Jahre vergangen – „fast so viele wie Moses und das israelitische Volk gebraucht hatten, um die Wüste zu durchqueren und das Heilige Land zu erreichen“, wie der „Corriere della Sera“ kürzlich ironisch anmerkte.

Schmiergelder in Höhe von 250 Millionen Euro

Tatsächlich erfolgte erst im Jahr 2003 unter Silvio Berlusconi der erste Spatenstich; die geplante Inbetriebnahme war inzwischen auf 2016 verschoben worden. Der Bau des Jahrhundertwerks wurde aber durch nicht weniger als vier Ermittlungsverfahren wegen Korruption verzögert; Dutzende von lokalen Politikern und Unternehmern, die sich an Mose unrechtmäßig bereichert hatten, wanderten hinter Gitter. Insgesamt sollen Schmiergelder in Höhe von 250 Millionen Euro geflossen sein.

So soll Venedig vor Hochwasser geschützt werden.
So soll Venedig vor Hochwasser geschützt werden.
© dpa; Tsp/Böttcher

Die ursprünglich veranschlagten Kosten sind von 5,5 Milliarden Euro auf 7 Milliarden Euro angewachsen. Nun soll einmal mehr eine Sonderkommissarin die ewige Baustelle auf dem Meeresgrund zum Erfolg führen. Die Architektin und Managerin Elisabetta Spitz, die in Venedig schon andere Sanierungsprojekte geleitet hat, soll dafür sorgen, dass der Hochwasserschutz nun endlich fertiggestellt und in Betrieb genommen werden kann. Angeblich ist „Mose“ bereits zu 94 Prozent fertig.

Als neuer Starttermin ist nun der Jahresanfang 2021 festgelegt; es heißt, dass für die Fertigstellung noch rund 400 Millionen Euro erforderlich seien. Um die Kredite leichter freigeben zu können, hat die italienische Regierung über Venedig den Notstand verhängt.

Nicht wenige Venezianer begegnen den neuen Ankündigungen mit Skepsis – zu oft sind die Termine für die Einweihung von „Mose“ bisher verschoben worden. Außerdem steht eine Frage im Raum, die außer den „Mose“-Gegnern bisher niemand gestellt hat: Kann ein Projekt, dessen Planung vor 40 Jahren begonnen hatte, heute überhaupt noch funktionieren?

Die schon vor Jahren montierten, 42 Tonnen schweren Scharniere, welche die aufklappbaren Stahltanks bei den Lagunen-Eingängen am Meeresgrund fixieren, sollen bereits angerostet sein – werden sie dem gewaltigen Druck des aufgepeitschten Meeres überhaupt standhalten?

Hinzu kommen die Folgen des Klimawandels: Die Stürme, die das Wasser in die Lagune drängen, sind in den letzten Jahren bereits heftiger geworden. Vor allem aber wird laut den Prognosen der Klimaforscher der Meeresspiegel in der oberen Adria, wo sich die Lagune von Venedig befindet, um 50 bis 60 Zentimeter ansteigen. „Dann wird man ,Mose’ jeden Tag einmal schließen müssen. Das wird nicht mehr praktikabel sein“, betont der deutsche Ozeanograph Georg Umgiesser vom italienischen Meeresforschungsinstitut Ismar in Venedig. Das ökologische Gleichgewicht in der Lagune würde kippen und das schon heute verschmutzte Wasser zur stinkenden Kloake werden.

Eintrittsgeld für Tagestouristen

Das jüngste „Acqua Alta“ hat in Venedig auch die Diskussion über den Massentourismus und die Invasion der Kreuzfahrtschiffe neu entfacht. Im vergangenen Jahr wurden 33 Millionen Besucher gezählt, durchschnittlich 90.000 am Tag: In der Stadt selbst leben nur etwas mehr als 50.000 Menschen. Für die Kreuzfahrtschiffe – und für die Öltanker, die zum Industriehafen von Mestre fahren – wurden in der empfindlichen Lagune tiefe Fahrrinnen ausgebaggert. Dies erleichtert bei Sturmfluten das Eindringen des Wassers. Die Einrichtung von immer mehr Gästebetten hat die Immobilien-Preise explodieren lassen; viele junge Venezianer können sich eine Wohnung nicht mehr leisten und ziehen nach Mestre.

Abhilfe gegen die Invasion der Tagestouristen soll nun ein Eintrittsgeld von 3 bis 10 Euro schaffen, das vom kommenden Juli erhoben wird. Die meisten Venezianer glauben nicht, dass so die Zahl der Gäste sinkt: „Glauben Sie wirklich, dass Touristen, die sich von Straßenhändlern ein in China produziertes Ramsch-Souvenir für 20 Euro andrehen lassen oder für einen Espresso auf der Piazza San Marco 5 Euro bezahlen, sich von einer einmaligen Abgabe von 3 Euro abschrecken lassen?“ fragt ein Rentner, der seit seiner Geburt in der historischen Altstadt lebt.

Die Einführung eines „Eintrittsgelds“ für Tagestouristen war ein Wahlversprechen von Bürgermeister Brugnaro gewesen. Der rechtspopulistische Unternehmer, von seinen Kritikern als „Lagunen-Trump“ verspottet, hatte sich zuvor nie als Kritiker des Massentourismus hervorgetan: „Ich vermag nichts Negatives darin zu erkennen, wenn unsere Hotels und Restaurants voll sind“, pflegt Brugnaro zu sagen, wenn es um Beschränkungen für den Tourismus geht.

Anwohner kaufen bei Hochwasser in einer Bar ein.
Anwohner kaufen bei Hochwasser in einer Bar ein.
© Andrea Merola/dpa

An Vorschlägen zur Eindämmung der Touristen-Invasion wäre kein Mangel. Der Präsident der Region Veneto, Luca Zaia, verlangt schon lange die Einführung einer Obergrenze für Touristen und eine Reservierungspflicht. Die Bürgerinitiative „No Grandi Navi“ wiederum will die Kreuzfahrtschiffe, die heute bis vor die Piazza San Marco fahren, vollständig aus der Lagune verbannen.

Doch von solchen Forderungen will Bürgermeister Brugnaro nichts wissen. Wahrscheinlich deshalb, weil diese Maßnahmen die Zahl der Touristen tatsächlich senken würde, im Unterschied zu seinem Eintrittsgeld.

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