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Schwanensee. Am Seebecken warten die Vögel auf Brotkrumen der Spaziergänger.
© Ulf Lippitz

Zürich: Warum Seefeld gerade zum Trendviertel wird

Eine versponnene Kunstsammlerin, ein aufrechter Fischer und Badegäste ohne lästige Sammeltickets. Der Zürichsee macht sie alle gleich.

Vom Dach aus sieht man es: das Gewässer der Gleichheit. Der Zürichsee kennt keine Unterschiede zwischen Millionär und Tagelöhner. In Badesachen ist jeder nur ein Wesen in Fetzentextil. Vielleicht hat das die High Society einst abgeschreckt. So erzählt es jedenfalls Villenbesitzerin und Kunstsammlerin Katrin Bechtler auf ihrem Dach: „Eigentlich wollte man nicht am See leben, sondern weiter oben am Hang.“

Sollten die Züricher wirklich einmal ihre Pfütze vernachlässigt haben, holen sie den Liebesentzug gerade in atemberaubendem Tempo nach. Das Viertel Seefeld, in dem Becherts Villa liegt, gehört zu den beliebtesten der Stadt. Im Kreis 8, wie er offiziell heißt, öffnen Cafés, Restaurants und Szene-Läden in Erdgeschossen. Das Londoner Trendmagazin „Monocle“ hat sich eine schicke Kaffeebar mitsamt Büroetage gegönnt, und ins alte Pornokino ist das Restaurant Razzia mit meterhohen Plüschgiraffen eingezogen.

Abends wird aus der Promenade in Seefeld eine Mischung aus Riviera und Baggersee. Spaziergänger bummeln zum Seebecken, dem nördlichen Ende des 48 Kilometer langen Gewässers. Teenager hören John Lennon auf dem Rasen, junge Pärchen knutschen mit dem Furor von Urlaubsverliebten. Wenn die Sonne über der Altstadt untergeht, hält der Streifenwagen an – und die Polizistin knipst ein Romantikfoto.

Auf der gegenüberliegenden Südseite hat gerade das hochpreisige Alex Lake Designhotel eröffnet, nur ein paar Hundert Meter hinter dem einzigen Campingplatz der Stadt, auf dessen Gelände sich das lässigste Fischlokal Zürichs befindet: das Fischers Fritz. Das gesamte Ufer säumen beliebte Badeanstalten, einige von ihnen sind architektonische Denkmäler. Im Sommer sitzen Besucher vor einer riesigen Kinoleinwand im See, im Herbst lockt ein Theaterschiff aufs Wasser – und das gesamte Jahr über hat die Kunst ihr Zuhause am Gewässer.

Das Haus der Millionenerbin wirkt wie eine Baustelle

Katrin Bechtler, jenseits der 70, guckt jeden Tag aufs Wasserblau. Vorausgesetzt, sie müht sich aus der riesigen Hängematte in der obersten Etage hinaus und die Treppe aufs Dach hinauf. In ihrer Villa hat sie das Projekt „Chemicalmoonbaby“ initiiert, eine öffentliche Ausstellung selbst erworbener Kunst, die nur einem kuratorischen Diktat folgt: Es muss Bechtler gefallen. Die Millionenerbin stammt aus einer alten Zürcher Familie, der Vater hat mit Belüftungstechnik ein Vermögen verdient. Die Tochter erzählt es hinter vorgehaltener Hand, als sei das irgendwie ordinär.

Lieber schwärmt sie von der Kunst. In der Villa warten vier Etagen mit Installationen, Gemälden und Plastiken darauf, entdeckt zu werden. Und die Besucher müssen schon mit genauem Auge und offenem Verstand hineingehen, um sie auszumachen. Das Haus wirkt wie eine Baustelle. Putz bröckelt, Gemälde lehnen an Wänden, ein Stuhl-Mobile hängt von der Decke, die Kellerinstallation mit den bunten Plastikschnipseln erinnert an ein Serienmörderversteck, es gibt Löcher im Mauerwerk und viel „work in progress“.

Die Hausherrin empfängt in einem Outfit, das auf den ersten Blick wie ein Neuköllner Seidenballon-Ensemble aussieht. Auf den zweiten Blick dechiffriert man feine Hosen aus Indien, einen teuren Pullover und schicke Sneakers. Vor einigen Jahren war das Haus besetzt, Frau Bechtler spricht noch heute mit einem gewissen Schrecken vom „Tyrann von Berlin“, dem Anführer der Truppe.

Viele Künstlerinnen hat die Erbin gesammelt, darunter die bauchigen Plastiken von Niki de Saint-Phalle, eine kleine Statue des Expressionisten Max Ernst steht auf dem Parkett. Bechert erzählt von Begegnungen mit Marc Chagall und Andy Warhol – gesättigt von einer weltgewandten Beiläufigkeit, die lebenslange Sorglosigkeit und bedingungslose Kunstliebe mit sich bringen. Von Warhol hat sie sich zeichnen lassen, eine Auftragsarbeit aus den 60er Jahren für den Vater, das Bild lehnt achtlos an einer Scheibe. Nachdem es fertig gemalt war, zog Bechert mit dem Warhol-Clan nach Rom, suchte die Anerkennung des Meisters, musste jedoch einsehen, dass Geld nicht alles kaufen kann. „Zu bünzlig“ sei sie gewesen, sagt sie heute, zu spießig.

Für die Fischer wird der See im Sommer zum Horror

Arbeit. Fischer Adrian Gerny geht seinem Job nach.
Arbeit. Fischer Adrian Gerny geht seinem Job nach.
© Zürich Tourismus/Geatan Bally

Auf dem Dach stellt Bechert zwei Packungen Luxemburgerli auf den Tisch, quietschbunte Macarons aus Züricher Herstellung, öffnet eine Flasche Prosecco und sagt: „Die müssen wir aber austrinken!“ Es klingt nach Befehl. Während die Sonne tiefer sinkt, klirren die Gläser. Die Sammlerin nippt nur an ihrem Getränk, sie scheint mehr Vergnügen daran zu finden, ihrem Gast zuzusehen.

Auf der anderen Uferseite steht zur selben Zeit Adrian Gerny im Wasser und bereitet sich auf die Ausfahrt vor. Der 31-Jährige ist der einzige Berufsfischer des Kantons Zürich, um 17 Uhr verlässt er seinen Ankerplatz neben dem Restaurant Fischers Fritz und fährt hinaus, um die Netze auszuwerfen. Im Sommer sei das „der Horror“, sagt er. So viele Boote auf dem See, so viele Missverständnisse. Winkt er, weil ein Boot zu dicht an ihn herangefahren ist, tuckern die Sonntagsschipper noch näher heran, weil sie wissen wollen, warum der nette junge Mann in Gummihosen mit den Armen rudert. Selten kämen sie auf die Idee, dass er damit meint: „Verpisst euch, sonst geht das Netz kaputt!“ Der Fischer schüttelt den Kopf.

Gerny ist hünenhaft groß, trägt ein Basecap und links drei Ohrstecker. Jeder steht für eine Situation, die ihn beinahe das Leben gekostet hat: ein heftiger Sturm, ein plötzliches Unwetter. „Der See zeigt dir, wie klein du gegen die Natur bist.“ Schon als Bub habe er eine Anziehung auf ihn ausgeübt, erzählt Gerny. Aus einer unromantischen Verbundenheit zur Natur heraus, zur Stille. Deshalb liebt er es, am frühen Morgen hinauszufahren, um drei Uhr, wenn es dunkel ist und ruhig. Wenn er die Netze in Akkordarbeit einholt, im Sommer mit Felchen, im Herbst mit Barschen und im Winter mit Hechten drin.

Redet er vom „Produkt“, meint er den Fang. Und erzählt, wie nachgefragt dieser ist. Das Fischers Fritz ist sein Hauptabnehmer. Hat er mal zu wenig gefangen, gehen die Knusperli, frisch frittierte Felchen für 27,50 Franken (etwa 25 Euro), im schlimmsten Fall aus. Aber das darf nun wirklich nicht passieren.

Nur einen Nachteil habe der See. „Zu sauber“, sagt Gerny. Kein Pflanzendünger sickert mehr ins Wasser, das heißt auch, keine zusätzlichen Nährstoffe – und damit weniger Futter für Fische.

Immer mehr Gäste besuchen ein Badi

Was den Fischer ärgert, freut den Badegast. Jedes Jahr springen Tausende Menschen ins kristallklare Seewasser. Viele Einheimische und immer mehr Gäste besuchen für diesen Spaß eine der Badeanstalten – oder wie die Schweizer sagen: ein Badi. Keines ist so beliebt wie das am Utoquai. Morgens stehen die Manager vor dem Eingang und „scharren mit den Füßen“. Berichtet Betriebsleiter Stefan Lenz, 53 Jahre alt, Rettungsschwimmer und Poolmanager in einer Person. Wenn er um sieben Uhr die Tür aufschließt, eilen die Badebehosten ins Wasser, um vor ihrem Acht-Uhr-Meeting den Fitnessplan des Personal Trainers abzuarbeiten und danach beanzugt ins Büro zu flitzen.

Vergnügen. Die Gäste der Badeanstalt am Utoquai springen ins Wasser.
Vergnügen. Die Gäste der Badeanstalt am Utoquai springen ins Wasser.
© Zürich Tourismus/Siggi Bucher

Das Badi ist ein Kastenbad, eine ins Wasser hineingebaute Holzkonstruktion, zum Ufer hin nicht einsehbar, zum Wasser hin offen. Es kommt altmodisch daher, rechts ein Abteil für Frauen, links für Männer, und in der Mitte dürfen sich beide Geschlechter treffen und sonnen. Lenz meint, eine Durchmischung täte dem Betrieb ganz gut. Bei den Frauen sei es übervoll, bei den Männern oft überschaubar.

Der Bademeister nennt seinen Arbeitsplatz „das Prominentenbad“. Die Gäste seien „anspruchsvoll“, erwarten flinken Service im Restaurant und eine höfliche Ansprache. Da drüben, er zeigt aufs andere Ufer, müssten die Bademeister ihre Straßenerfahrung aufbringen, um die Jungs mit den Ghettoblastern zu beruhigen. Am Utoquai walten Takt und Trinkgeld. Die Gäste, auch wenn sie täglich kommen, kaufen immer die Standardkarte. Dass sie mit einem Saisonticket billiger schwimmen, interessiert sie nicht. Sie kaufen ja auch keine Rabattmarken.

Erst im See fällt die Ungleichheit ab, fühlen alle dasselbe, sobald sie hinunter zum Wasser gehen, sich von der Holztreppe abstoßen und von der Kühle erfrischen lassen: der erste Zug ein Schreck-, der zweite ein Glücksmoment. Kraftvoll schwimmen die Gäste drauflos, Zürich ist topfit. Herr Lenz muss kaum retten: „Wir hatten letztes Jahr nur einen Herzinfarkt – und der war an der Kasse.“

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