Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer: Von der Seele reden
Er hilft Paaren aus der Krise, in seiner Praxis spielen sich Dramen ab. Kein Thema scheint dem Therapeuten fremd. Doch berühmt machte Wolfgang Schmidbauer das Helfersyndrom. Ein Besuch anlässlich seines 75. Geburtstages.
Dem Doktor sind Ungewöhnlichkeiten nicht fremd. Nun aber liegt da eine Visitenkarte vor ihm auf dem Wirtshaustisch, die ihn stutzen lässt. Ein älterer Herr mit sorgsam getrimmtem Bart und ebenso sorgsam gehemmten Bewegungen hat sie hingeschoben. Ein Ingenieur. Auf der Karte steht der Name des Mannes und dieses: „Zentrum für systemisches Denken“. Doktor Wolfgang Schmidbauer ist überrascht, denn auch er selbst ist ein Vertreter systemischen Denkens. In der Psychologie ist es eine eigene therapeutische Schule.
Davon hat der Ingenieur noch nie gehört. Er stellt sich als Schadensanalyst vor. Für eine große deutsche Versicherung war er als Unfallgutachter tätig. Er hatte mit folgenschweren Katastrophen zu tun. Wenn er sie nach allen Regeln der Gutachterkunst auseinandernahm, erzählt er dem Doktor streng, habe er oft hinter dem technischen Versagen die Kalkulation von Kaufleuten entdeckt, die Kosten hatten drücken wollen. Das war für den Ingenieur frustrierend. Er wollte nicht länger Fehler suchen, wenn sie geschehen waren. Sondern vorher finden. Deshalb das systemische Denken. Ein neuer Ansatz.
Wolfgang Schmidbauer lächelt mit eingefrorenen Mundwinkeln. Er macht das oft, wenn er Zeit für eine Antwort gewinnen will. Er ist geübt darin, denn irgendwie will jeder Antworten von ihm haben. Meist ist allerdings die Frage gar nicht klar. Die Menschen erzählen von sich, und er, der Therapeut, Bestsellerautor und Talkshowgast, soll das Problem ausfindig machen. Was ist wohl die Frage des Ingenieurs? Ob er ihm helfen kann?
In die Ismaninger Wirtshausszene ist Schmidbauer geraten, weil er nach einem Vortrag an der örtlichen Volkshochschule noch eine Kleinigkeit essen wollte. Der Ingenieur und einige weitere Herren hatten sich angeschlossen, sitzen nun um einen mit Bierkrügen beladenen Wirtshaustisch. Und einer der Herren fragt verstohlen, wer das denn überhaupt sei, der komische Gelehrte mit den langen, weißsträhnigen Haaren. Ob man den kennen müsse. Nun ja. Im „Zeitmagazin“, das jede Woche eine Kolumne von Wolfgang Schmidbauer druckt, wird er als „einer der bekanntesten Paartherapeuten Deutschlands“ tituliert. Was den Paartherapeuten selbst ein bisschen amüsiert, einer der bekanntesten … Auch so eine Unart, aus einem Menschen gleich ein Event zu machen. Immerhin wurde auf Schmidbauers Bitte das ursprünglich vorgesehene „der bekannteste“ abgeschwächt.
Er landete bei der kleinsten Therapie-Gruppe: dem Paar.
Schmidbauers Vortrag hatte von „dummen Dingen“ gehandelt. Von technischen Innovationen, die das Leben des Menschen bequemer machen, ihn selbst aber leider immer gedankenloser. Aus der Bereicherung des Alltags sei eine Abhängigkeit geworden, sagte Schmidbauer. Fitnessgeräte zählte er dazu, ebenso die Automatikschaltung oder den Reißverschluss. Das liebste dumme Ding aber sei ihm der Bleistiftanspitzer, sagte er, eine komplette Fehlkonstruktion. Die Drehbewegung lasse die Grafitminen brechen, weil die Scherkräfte zu groß sind. Seine Mutter habe dagegen nur ein scharfes Messer benötigt, mit dem sie den Stift wie einen primitiven Pfeil angespitzt habe. Wer das tue, übe seine Feinmotorik und erreiche mehr mit weniger Aufwand.
Von der Mutter wird noch zu reden sein. Aber erst mal erntete Schmidbauer mit dieser Bemerkung zustimmendes Gemurmel in Ismaning. Der Ingenieur hatte triumphierend seinen eigenen Bleistift aus der Jackentasche gezogen und gemeint, dass er es genauso mache wie Schmidbauers Mutter. Später berichtet der Mann von seiner Leidenschaft für Maschinen, die man, anders als dumme Dinge, reparieren könne. Neulich erst habe er eine kaputte Nähmaschine aus den 60er Jahren wieder in Gang gebracht. Zwei kleine Federn hätten ersetzt werden müssen. Er besorgte sich eine Explosionszeichnung der Apparatur, auf der sämtliche Bauteile in der richtigen Anordnung abgebildet waren. Die Nähmaschine schnurrt wieder einwandfrei. Schmidbauer nickt.
Ein Jammer, dass es keine Explosionszeichnungen für menschliche Beziehungen gibt. Wie praktisch es wäre, bei einer defekten Ehe einfach ein paar Sprungfedern auszutauschen.
Weil das nicht geht, kommt Wolfgang Schmidbauer ins Spiel. Auf seine Art ist er ebenfalls Schadensanalyst. Seit er in den 70ern die Gruppentherapie für sich entdeckte und schließlich bei der kleinsten Gruppe landete, die man als Therapeut behandeln kann, dem Paar, blickt er den Deutschen in ihre gepeinigte Seele. An diesem Sonntag wird er 75 und ist immer noch ein unglaublich stark beschäftigter Zeitgenosse.
Wenn er nicht als Paartherapeut arbeitet, schreibt er Bücher, mindestens zwei pro Jahr, und hält Vorträge. Zwei Tage nach Ismaning wird er in Bremen über Ritual und Krise in der Liebe sprechen, dann an der Evangelischen Akademie Tutzing über „Bruder Terrorist“. Es gibt kein Thema, das ihm fremd wäre. Mit seinem weiß lodernden Haarschopf und der grundgütigen niederbayrischen Unerschütterlichkeit ist er der Klekih-petra des deutschen Gefühlslebens. Der „weise Vater“, wie es in Karl Mays Winnetou-Saga heißt. Er versöhnt das Wilde in uns mit dem Fortschritt.
Eine großzügige Schwabinger Wohnung, nur noch wochentags von Schmidbauer und seiner Frau benutzt, die sich sonst gerne am Ammersee aufhalten. Knarzendes Parkett, Biedermeier-Möbel, dunkles, glanzlackiertes Holz, auf den Kommoden und Schränkchen sind afrikanische Götzenfiguren aufgereiht, Sammlungsstücke aus einer mit seiner Natur verbundenen Kultur, vor den Fenstern brechen die Bäume das Licht auf. Dramen spielen sich in diesem Raum ab, herzzerreißende Szenen, wenn zwei Menschen miteinander um ihre Gefühle ringen. Streitgespräche zwischen Paaren sind so ziemlich das Peinlichste, was es gibt. Wie hält er das aus?
„Wenn Sie so wollen“, sagt Schmidbauer, „habe ich grundsätzlich Mitleid mit uns Menschen, dass wir mehr oder weniger zwangsläufig in solche Situationen geraten. Niemand hat das gewollt. Niemand hat den Kapitalismus erfunden oder die Konsumgesellschaft. Das ist eben so passiert.“ Er seufzt. Letztlich, fährt er nach einer Gedankensekunde fort, erlebe er „die Begrenztheit und Schwäche des Vernünftigen“.
Mit anderen Worten: Auch er, der Doktor, ist betroffen und versteht nur zu gut den Wunsch, dass alles anders sein müsste, und zwar sofort. Aber das helfe, sagt er.
Wie jetzt?
„Meist sind die Partner von sich selbst enttäuscht, dass sie die Gefühle vom Anfang nicht aufrechterhalten und gute Gefühle nicht umsetzen konnten. Dass die Frau in ihrem Eifersuchtswahn halt wieder das Handy ihres Mannes ausspioniert hat und natürlich abermals auf Dinge gestoßen ist, die ihr verborgen bleiben sollten. Und dann natürlich wieder die Szene schlimm war. Ich will dann selbst eine Position finden nach dem Motto: Shit happens, get over it.“
Sind die Deutschen therapierbar?
Für Schmidbauer sind Liebesbeziehungen im Prinzip Handelsbeziehungen, sie leben von Austausch und Tausch und sind vorstrukturiert durch Erfahrungen der Kindheit. Man möchte etwas haben, was man in der Kindheit nicht besaß. Und man möchte vermeiden, was einen als Kind gestresst hat. Der Rest ist Verhandlungssache. Schon Goethe sprach: „Mann mit zugeknöpften Taschen / Dir tut niemand was zulieb / … Wenn du haben willst, so gib.“ So sind Paarberatungen vor allem Friedenskonferenzen. Man braucht, sagt Schmidbauer oft, vor allem Humor, um den blöden narzisstischen Mechanismus zu ertragen, nach dem der Partner einen Fehler viel schneller bei jemand anderes suchen wird als bei sich selbst.
Sind die Deutschen therapierbar, Herr Schmidbauer?
Da lacht er. Die Frage sei abzuweisen, meint er. Von wegen des Kollektivcharakters, den es nicht gebe. Doch dann erinnert er sich einer exemplarischen Erfahrung in Paris. Als 20-Jähriger war er dorthin gereist. In Versailles stellte er fest, wie stolz die Franzosen auf den Pomp ihrer absolutistischen Könige sind, aber auch wie stolz auf Bastille-Erstürmung und die Revolution, die diesen Königen den Kopf abgehackt hat. „Das kam mir unglaublich wankelmütig und treulos vor. Man konnte doch nicht gleichzeitig für und gegen eine Sache sein. Musste man sich nicht entscheiden?“
Die Deutschen wollen auch in der Liebe alles richtig machen. Aber, sagt Schmidbauer, „Übel gedeihen oft im Schutz hoher Ideale.“ Mit dem, was diese Idealisierung unter den Menschen anrichtet, beschäftigt er sich seit Langem. Wie viele Stürze hätten die Deutschen nach Phasen nationaler Euphorie nicht zu verkraften gehabt. „Ich bin immer noch dabei“, sagt Schmidbauer, „für mich die Folgen dieser Brüche zu verstehen, die mit Arbeitseifer und Rechthaberei kompensiert werden.“ Die Deutschen, die nicht stolz sein dürften, weil die Geschichte es ihnen verbiete, nähmen die Dinge, wie sie sein sollten, wichtiger als den Zustand, in dem sie sich befänden. Der Mangel an historischer Kontinuität werde mit Traumbildern überkompensiert. Kurz: Wegen Hitler gehen immer noch Ehen in die Brüche.
Seine eigenen Eltern hat er als Paar nie erlebt. Der Vater fiel 1944 im Krieg, da war Schmidbauer zwei Jahre alt. Seine Mutter zog ihn und seinen älteren Bruder fortan alleine groß in bäuerlichen Verhältnissen. Später sollte er ein Buch über das Muttersöhnchen schreiben, zu dem er hätte werden können, zu einem hysterischen Mann, überempfindlich und machtgeil, von der eigene Mutter zur emotionalen Geisel gemacht. Doch war Schmidbauers Mutter in der Schule eine geistige Hochbegabung gewesen, Abiturnote 1,0. Sie wollte alte Sprachen studieren – und hatte im Nationalsozialismus nicht mehr die Chance dazu. Aber sie habe sich einen äußerst rationalen Zugang zu Welt bewahrt. Für vernünftige Argumente sei sie immer zugänglich gewesen, sagt der Sohn. „Einmal, als ich heftige Eheprobleme hatte und sie deshalb mit mir schimpfte, meinte ich: ,Mutti, verglichen mit dir habe ich doch erheblich mehr Eheerfahrung.‘ Was stimmte. Ihr Mann war 1939, ein Jahr nach der Hochzeit, Soldat geworden. Sie lebte mit meinem Bruder, mir und ihren Büchern. ,Du hast recht‘, sagte sie und hat mir nie wieder solche Vorhaltungen gemacht.“
Schmidbauers Generation ist geprägt von dem Typus der gebrochenen Eltern. Ihm setzten die 68er das Bild einer heiteren Liebeslust entgegen, das aber die Verkrampfung nicht zu lösen vermochte. Ein bisschen sehr angestrengt bemühten sich auch die Kinder um ihre Utopie, die freie Liebe. Als die Ernüchterung darüber einsetzte, schrieb Schmidbauer die Studie, die ihn weltberühmt machen sollte. Bis heute hat „Helfersyndrom“ großen Einfluss auf die pädagogische Arbeit, es ist ein Schlüsselwerk zum Verständnis von Schuldkomplex und Weltrettungswahn.
"Die elektronischen Medien wirken wie Kunstdünger auf die Eifersucht"
Warum führen Ärzte kein gesundes Leben? Warum reiben sich Sozialarbeiterinnen in Problemen auf, die nicht ihre sind? Der Helfer ist seinem psychologischen Muster nach das Kind, das sich von seinen mit sich selbst beschäftigten Eltern nicht wahrgenommen fühlt und eine eigene Fantasie des besseren Elternseins entwickelt. Diese Fantasie hat eine gewisse tyrannische Qualität. Sie treibt den Menschen in die Abhängigkeit von bedürftigen Beziehungen. Er wird ein emotionaler Gefangener des Familien- und Umfeldsystems.
Als Schmidbauer das Buch in Angriff nahm, war er 35. Er hatte sich nach dem Psychologiestudium einem romantischen Bedürfnis folgend in die Toskana begeben, doch die Erfüllung seiner schriftstellerischen Träume war ausgeblieben. Nach München zurückgekehrt baute er in den 70er Jahren ein psychoanalytisches Institut mit auf. Jeder Psychoanalytiker will seine eigene Sekte haben, sagt er schmunzelnd. Was daran liege, dass er von wenig Gesichertem ausgehen könne. Wenigstens seine eigene Rolle als Seelenhelfer wollte er verstehen. Nun wartet er auf den Moment, da jemand zu ihm sage, „Herr Schmidbauer, ich habe ein Helfersyndrom, wissen Sie, was das ist?“
Auf die Frage, was sich verändert habe in den 40 Jahren, die er das Beziehungsunheil hierzulande nun schon beobachtet, folgt die Antwort prompt: die Eifersucht. „Die modernen elektronischen Medien wirken wie Kunstdünger auf die Eifersucht.“ Auch Liebesbriefe, mühsam von Hand geschriebene, parfümierte und heimlich abgeschickte, konnten schon mal in die falschen Hände geraten, sodass eine Affäre aufflog. Aber der Brief war ein singuläres Ereignis. „Wenn Sie heute den Mailwechsel Ihres Partners erbeuten inklusive sämtlicher mit einer dritten Person intim getauschter Fotos, ist das ein gewaltiger Schock. Es gibt dann auch so Aberwitzigkeiten, dass der eifersüchtigen Ehefrau, um die Harmlosigkeit eines Verhältnisses zu beweisen, das aber doch nicht ganz so harmlos ist, 60 klein gedruckte Seiten mit entsprechender Mailkorrespondenz ausgehändigt werden. Da soll sie sich jetzt reinlesen, um zu verstehen, dass es eine harmlose Geschichte ist. 60 klein gedruckte Seiten, die auch von der NSA stammen könnten.“
Es war der Traum der 68er, dass es in Partnerschaften keine Geheimnisse mehr geben sollte. Durch Smartphones wird er auf teuflische Weise wahr. Liebe wird plötzlich in Byte gemessen. Und man merkt an Schmidbauers geistesblitzender Freude über solche Gedanken, dass sie es sind, die ihn von den Patienten weg an den Schreibtisch ziehen. Wo er dann auch über das Unwesen von Bleistiftanspitzern sinniert.
Man sollte ihn allerdings nicht für einen Nostalgiker halten. „Die menschliche Natur strebt halt zum Mercedes, selbst wenn es gesünder wäre, Rad zu fahren“, glaubt er. Wir brauchen Apparate, die klüger funktionieren, die seelische Reifungsprozesse anregen und nicht zu immer mehr kindlicher Bequemlichkeit verführen. Was ihm vorschwebt, sei eine „übende Technologie statt einer komfortablen“.
Da will der Ingenieur im Wirtshaus wissen: „Sie spitzen Ihre Bleistifte also mit dem Messer an?“
„Ja. Wie ich es gelernt habe. Fünf, sechs kurze Schnitze.“
„Und mit welchem Stein schleifen Sie Ihr Messer?“