Perfide Argumente in der Lockerungsdebatte: Und plötzlich entdeckt die Politik das Leid der Kinder
Marode Schulen, kaputtes Klima, Kita-Notstand – die Politik schert sich selten um Kinder. Es sei denn, es geht um Corona-Lockerungen. Ein Kommentar.
Kinder, ihr Leid und ihr Wohl, sind plötzlich ganz wichtig. „Sie brauchen andere Kinder wie der Fisch das Wasser“, sagt zum Beispiel Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. CDU-Chef Armin Laschet sorgt sich um ihre Persönlichkeit, die sie nur mit mehr Kontakten entfalten könnten. Und Familienministerin Franziska Giffey argumentierte: Bei allen Einschränkungen müsse „gerade für die Kinder und Jugendlichen das Kindeswohl und der Kinderschutz berücksichtigt werden“.
Wer wagt da zu widersprechen? Selbst gegen Angela Merkel, die für einen härteren Kurs in der Pandemie war und ist, wurde das Kinder-Argument schon in Stellung gebracht, sie musste sich rechtfertigen: „Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle!“
Und so öffnen an diesem Montag in den meisten Bundesländern die Schulen wieder. Das ist insofern bemerkenswert, als im Sieben-Tage-Mittel in Deutschland derzeit annähernd 500 Menschen täglich am Coronavirus sterben. Also mehr als am 13. Dezember, als die Schließung der Schulen beschlossen wurde.
Auch die Infiziertenzahlen sind anhaltend Anlass für Sorgen. Die bundesweiten Fallzahlen stagnieren laut dem Robert-Koch-Institut, die Inzidenz geht bereits wieder hoch. Wie es aussieht, verbreitet die britische Mutante B117 sich so schnell, dass Wissenschaftler längst eine dritte Welle befürchten.
Politiker sollten ihr Handeln in der Krise gut verkaufen. Besonders, wenn Krise und Wahljahr zusammenfallen. Mit den Zahlen lassen sich die Lockerungen schwer zusammenbringen. Stattdessen haben sich viele Länderchefs deshalb eine Art argumentative Wunderwaffe zugelegt: Kinder.
Perfide an der Kindeswohl-Argumentation ist vor allem, dass manche Politiker tun, als hätten sie ein Kinderparadies erschaffen, das nur das tückische Virus ihnen kaputtgemacht habe. Dabei machen in Berlin Kinder lieber in die Hose, als die maroden Klos der kaputtgesparten Schulen aufzusuchen. Dabei wird ein Klimaziel ums andere verfehlt, und Jugendliche werden damit abgespeist, Politik solle man lieber den Profis überlassen. Dabei fehlen allerorten Lehrer, Kitaplätze und Ausstattung, und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in Deutschland so schlecht, dass es sich in der Geburtenrate niederschlägt.
Kinder interessieren nur, wenn sie nützlich sind oder im Weg
Näher an der Wahrheit ist wohl: Kinder sind der Politik nur wichtig, wenn sie nützlich oder im Weg sind. In Coronazeiten sind sie beides. Nützlich, um Lockerungen durchzudrücken. Und im Weg vor allem den Werktätigen – also Eltern, die im Homeoffice die Wirtschaft am Laufen halten sollen. Beides hat mit dem Wohl der Kinder aber nichts zu tun.
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Dass ihr Wohl in Gefahr ist, ist indes unbestritten. Jedes dritte Kind zeigt inzwischen psychische Auffälligkeiten, Ängste, Essstörungen, Depressionen. Ob die Gewalt gegen Kinder im Lockdown zunimmt, ist umstritten, sicher jedoch ist, dass es für die Jugendämter fast unmöglich zu kontrollieren ist.
[Eine ganze Generation coronageschädigt? Was die Pandemie mit den Kindern macht]
Die Alarmzeichen sind so eklatant und so lange bekannt, dass der von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nun angeregte „Kindergipfel“ eher der Gipfel der Dreistigkeit ist. Mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie in Deutschland. Seit Mai vergangenen Jahres ist eine Strategie für das Wohl der Kinder sowohl von den Linken als auch von den Grünen eingefordert worden, Experten warnten auf allen Kanälen vor den gravierenden Folgen, während die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sich noch um die Bundesliga, den Einzelhandel und die Friseure sorgten.
Es ist Aufgabe von Politik, schwierige, auch unliebsame Entscheidungen zu treffen. Und die Belange der Wirtschaft, sind die Belange aller, die an Wohlstand interessiert sind. Doch damit wir uns nach der Pandemie gegenseitig viel verzeihen können, ist eines Voraussetzung: Ehrlichkeit. Kinder als Türöffner für die eigentliche Agenda zu missbrauchen, ist etwas anderes.