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© dpa

Spitzenküche: Topfs Schlager

Vor 30 Jahren geschah das Unglaubliche: Ein deutscher Koch bekam drei Sterne verliehen. Eckart Witzigmann hat alte Rezepte zerfetzt, die Kalbsbrust gerettet – und eines nie vergessen.

München, die Nacht zum 20. November 1979: In „Gratzers Lobby“, der edlen Innenstadt-Bar, ist die Hölle los. Eine Truppe von Köchen und Kellnern hält die Plätze besetzt und lässt es krachen. Champagner, Weizenbier, Cocktails, mehr Champagner – bis die Vorräte zur Neige gehen. Am Morgen, als die Sonne aufgegangen ist und sich der Nebel im Kopf lichtet, begreift Eckart Witzigmann, dass sich sein Leben soeben grundlegend geändert hat.

Denn am Vorabend, nach dem Dessert in seinem Restaurant „Aubergine“, war er von den drei Gästen an Tisch 12 zum Gespräch gebeten worden. Ihre Botschaft: Er habe die „trois étoiles“ erkocht und werde im bald neu erscheinenden Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet – als erster Koch in Deutschland.

Witzigmann hatte ein Ziel erreicht, von dem vorher niemand wusste, ob es außerhalb von Frankreich und Belgien erreichbar sei, und fragte sich nun, wie es weitergehen würde: „Wahrscheinlich soll ich jetzt weiße Kaninchen zaubern und dabei Salto mortale vor- und rückwärts machen“, mutmaßte er damals.

Heute, 30 Jahre nach dem legendären Abend, ist die Erinnerung noch höchst präsent. „So stelle ich mir auch einen Olympiasieg oder eine Weltmeisterschaft vor“, sagt Witzigmann, „mehr ging in diesem Moment nicht.“ Mit dem Abstand sei die historische Dimension hinzugekommen, „ich habe etwas auf den Weg gebracht, eine Lawine losgetreten, die immer noch nicht im Tal angekommen ist“.

Wer die kommunikationsfreudigen Köche kennt, der weiß: Es war keine totale Überraschung für den damals 38-jährigen Österreicher. Ein Michelin-Oberer hatte gegenüber Witzigmanns Lehrmeister Paul Haeberlin im Elsass durchsickern lassen, ja, dieser Bursche da in München koche ein Millefeuille vom Reh, wirklich très formidable – eine diskrete Botschaft, die blitzschnell in der „Aubergine“ ankam. Zwei Sterne hatte das Restaurant schon, die Auszeichnung war mit dem Chef vom erfolgreichen „Tantris“ herübergewandert, was also könnte der nächste Schritt sein?

Im Grunde war die Sache also längst entschieden, als Witzigmann den drei Gästen am 19. November sein Tagesmenü kochte. Dennoch kann er die Speisenfolge, die damals nur handschriftlich und in Kopien existierte und aus dem Einkauf des Morgens geboren war, heute sofort aus seinem Computer abrufen: Timbale von Gänseleber und Wildente, Königskrabbe mit Erbsenschotensalat und Sevruga-Kaviar, Jakobsmuscheln und Seeigel-Zungen auf Wirsing mit Curry und Ingwer, Steinbutt auf Kartoffelpüree mit Alba-Trüffel, Kalbsbries mit Stachys, Topinambur und Périgord-Trüffeln, Rehrückenmedaillons mit Nusskruste, Maronen und Rotkrautwickeln, dann Käse und ein Dessert „rund um die Mandarine“.

Noch heute liest sich das wie ein Beleg für den Ausnahmerang des Jahrhundertkochs. Denn in den seither vergangenen 30 Jahren hat sich die Gourmet-Küche total verändert – aber dieses Menü könnte noch heute in einem vergleichbaren Restaurant serviert werden, ohne im Geringsten unmodern zu wirken; allenfalls der Stachys, zu deutsch Knollenziest, hat sich als kurzlebiges Modeprodukt herausgestellt. Doch sein fester Biss gehörte komplementär zum elastischen Kalbsbries, das hatte Witzigmann instinktiv herausgefunden, sehr lange, bevor eine sich pseudowissenschaftlich spreizende Gourmet-Theorie über Texturen und Aggregatzustände zu sinnieren begann.

Dieser Instinkt trieb ihn gerade mit dem dritten Stern im Rücken immer wieder voran: „Ich habe mich nie mit den alten Stiefeln aufgehalten“, sagt er heute, „habe stetig experimentiert, aufkommende Routine bekämpft, häufig auch während des Abends, das war Kochen an der Grenze des Machbaren.“ Seine Schüler können vielstimmige Lieder davon singen, wie der Chef mittags noch irgendwelche Produkte anschleppte, in die er sich beim Einkauf verliebt hatte, wie er aus einer Inspiration heraus kurz vor Küchenbeginn das ganze Menü umwarf.

Dabei ist der Stil Witzigmanns durchaus nicht einfach zu beschreiben. Er hatte nach der Kochlehre in Bad Gastein, seinem Heimatort, fast 13 Jahre im Ausland verbracht und war zur Stelle, als um 1970 herum die großen französischen Stars wie Bocuse, Troisgros, Vergé und Haeberlin die Last der klassischen Küche abwarfen und jene kulinarische Revolution inszenierten, die als „nouvelle cuisine“ heute nur noch klischeehaft im Bewusstsein ist – dabei ging es um nichts weniger als die Freiheit des Küchenchefs, die alten Rezeptbücher wegzuwerfen und zu kochen, was immer ihm selbst einfiel.

Witzigmann saugte die Ideen der Vorbilder auf und zeigte schon in seinen ersten Münchner Jahren, dass er ihnen ebenbürtig war, weil er ein absolutes Gespür für geschmackliche Harmonien besaß und auf dieser Basis Gerichte fürs Kochbuch des 20. Jahrhunderts konzipierte: Lauch mit Trüffeln, Gänseleber mit Rotkraut, Flusskrebse mit Blumenkohl. Was er sich ausdachte, ist heute längst unerkannt auf den Speisekarten von Allerweltsbistros in der halben Welt gelandet; er allein ist schuld daran, dass heute im Frühling der Bärlauch in Deutschland hektarweise abgemäht wird. Er rückte Gemüse in den Mittelpunkt des Menüs, die die meisten Kollegen allenfalls als Beigabe in einer Fleischbrühe duldeten, er reanimierte die gefüllte Kalbsbrust und andere klassische Braten und Schmorgerichte, die wegen Filetsteak und Entenbrust für die feine Küche verloren schienen – aber immer mit dem Produktfanatismus und der Präzision des Drei-Sterne-Kochs. Der ist man, der bleibt man.

Veritable Klassiker sind so vor allem in den 70er Jahren entstanden, zumal, wenn Journalisten wie Wolfram Siebeck und stilbildende Fotografen wie Johann Willsberger seine Kreativität anstachelten. Das „Kalbsbries Rumohr“ war ein solcher Genieblitz, Bries, Trüffel und Gänseleber eingehüllt in einen Mantel aus Lauch und Parmaschinken, gebacken in dünnem Strudelteig. Oder das Lebkuchen-Soufflé mit Altbiersabayon, das den Blick auf ein kleines Universum neuer Dessert-Möglichkeiten öffnete. Nichts davon hat seinen Rang verloren – unvergesslich, wie Witzigmann vor einigen Jahren wie ein Buddha in der Küche des Berliner Palace-Hotels saß und an die Partygäste fröhlich grantelnd unzählige Portionen Kalbsbries austeilte, die Champagnerflasche immer im Blick.

Der Höhenflug der „Aubergine“ dauerte 15 Jahre, immer ganz oben am Himmel der Kulinarik. Der Druck der drei Sterne muss abnorm gewesen sein, dagegen kann sich kein noch so routinierter Chef immunisieren. Witzigmann versuchte, Kreativität und Kondition mit weißem Pulver zu erhöhen, wie es unzählige auf hohem Niveau rotierende Kollegen auch heute noch tun; er geriet in private Turbulenzen, wurde denunziert und mit einem Gramm Kokain erwischt, ein Vorfall, den ihm die ehrenwerte Münchner Obrigkeit bis heute nicht verziehen hat. Er verlor die Konzession.

Am Silvesterabend 1994 knallten die letzten Korken in der „Aubergine“. Dennoch legt der Chef Wert darauf, dass nicht diese Affäre der Grund für die Schließung gewesen sei: „Drei Sterne und 19,5 Gault-Millau-Punkte waren nicht mehr zu toppen, wie sollte das weitergehen?“ Er begann einen neuen Lebensabschnitt als kulinarischer Berater, Kochbuchautor, reiste, inspirierte. Die Zusammenarbeit mit einem wesentlich schlechteren Koch, aber viel besseren Selbstdarsteller sprengte den Kochbuchmarkt: Die vegetarischen Rezepte, die er sich zusammen mit Alfred Biolek ausgedacht hatte, erreichten angeblich eine Auflage von 300 000.

Die Bühne war nun frei für die Nachfolger, die meist in seiner Brigade gelernt hatten. Aber bislang hat kein anderer deutscher Küchenchef einen ähnlich großen, auch international bedeutenden Einfluss gewinnen können. Es kamen handwerklich perfekte Eklektizisten wie Harald Wohlfahrt und global denkende Experimentierer wie Joachim Wissler nach vorn, die technisch immer anspruchsvoller arbeiten und deren Arbeit Witzigmann sehr schätzt. Doch die Streberteller, die dabei häufig herauskommen, sind nicht sein Stil. Er meint, er selbst sei heute „dem Bauhaus näher als dem Rokoko: weniger, klarer, radikaler“.

Sein Credo „Das Produkt ist der Star“ ist nach wie vor hochaktuell, führt allerdings im Technikrausch des 21.Jahrhunderts zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Witzigmann ist ein guter Freund des führenden Avantgardisten Ferran Adrià, erklärt sich also für befangen, was die Moderne angeht. „Jede Gegenwart ist irgendwann einmal auch wieder Vergangenheit“, philosophiert er vorsichtig und erinnert daran, dass er selbst vor etwa zehn Jahren mit dem Wissenschaftler Peter Schleicher ein Buch über physikalische und chemische Grundlagen des Kochens herausgegeben habe.

Es gebe wenig wirklich Neues, sagt er, von den neuen technischen Hilfsmitteln einmal abgesehen, „aber die machen noch lange nicht den guten Koch aus“. Die Küche ist anders geworden, das gibt er zu, hat neue Dimensionen erreicht in Optik, Exaktheit, Präsentation, Produktqualität, „aber ist sie dadurch besser geworden?“ Stärker kann sich Witzigmann für den neuen Drang zur Region begeistern. Als Berater des Salzburger Restaurants „Ikarus“, das jeden Monat einen anderen internationalen Koch von Welt vorstellt, hat er einen lückenlosen Überblick über die Arbeit stilprägender Stars wie René Redzepi, die sich gegen den Sog der globalen Küchenfusion stemmen und Traditionen ihrer Umgebung mit den Augen der Moderne sehen. „Das freut mich natürlich wie einen Zaunkönig“, sagt Witzigmann, „denn das habe ich mit auf den Weg gebracht.“ Vor 30 Jahren, so erinnert er sich, war die Sucht nach den üblichen Luxusprodukten so groß, „dass ich oft verbale Prügel bekam, wenn ich in der Aubergine regionale Gerichte und Produkte serviert habe“. Heute werde überall das hohe Lied dieser Küche gesungen, „bitte weiter so, ich fühle mich bestätigt“!

Die Lawine rollt also weiter. Neun Drei-Sterne-Restaurants gibt es derzeit in Deutschland, mehr als in jedem anderen europäischen Land außerhalb Frankreichs, daran war 1979 nicht zu denken. Um die Münchner Szene ist es ruhiger geworden. Die Zwei-Sterne-Chefs Hans Haas vom „Tantris“ und Diethard Urbansky vom „Dallmayr“ kochen konservativ, gelassener als Witzigmann, aber ohne dessen fortwährende Neugier und Konsequenz.

Im Sommer ließ sich Witzigmann von der „Bild“-Zeitung zu einem Treffen mit Tim Mälzer überreden, dem Star der neuen Haudrauf-Küche. Beide waren nett zueinander, und Mälzer formulierte ein endgültiges Lob: „Sie sind der Grund, warum ich den Lammrücken heute rosa brate.“ Die Revolution frisst ihre Lämmer, und zwar schön saftig. Kann ein Koch in 30 Jahren mehr erreichen?  

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