600 Sorten Lakritz: Süßholz neu geraspelt
Bärendreck nennen sie Verächter: Richtige Lakritze wird entweder gehasst oder geliebt. Im Supermarkt ist sie auf dem Rückzug, in der Sterneküche kommt sie nun groß raus.
Mein ganzes Vermögen habe ich in Lakritz investiert. Woche für Woche trug ich mein Taschengeld zur Schluckerbude in Essen-Frillendorf, für 50 Pfennige bekam ich dort einen ganzen Berg: Silberlinge und Knöteriche, Salinos und Schnecken, kleine Münzen und große Smileys, jedes einzeln ausgesucht. Das dauerte. Danach klebten wir uns Salmiakpastillen mit Spucke auf die Hände und schleckten sie ganz ganz langsam ab. Und in den großen Ferien fuhren wir immer ins Lakritz-Paradies, nach Holland, wo jede Drogerie eine große Bar zur Selbstbedienung hat, von süß bis salzig, von zacht bis dubbel zout.
Und dann, vor 25 Jahren, zog ich in die Diaspora: nach Berlin. Eine Stadt ohne Büdchen. Blieben nur Tankstelle, Kaufhaus, Supermarkt. Dort allerdings ist es im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, schwarzes Lakritz zu finden (von bunten Mischungen – Lakritz für Warmduscher – rede ich nicht, die kriegt man nach wie vor und überall). Seit meine Schöneberger Tankstelle sich schick gemacht und in Deli2go umbenannt hat, gibt’s dort praktisch nur noch buntes bis quietschbuntes Zuckerzeug. Schnecken und Salzheringe wurden in die untersten Etagen verbannt. Ein Symptom der allgemeinen Infantilisierung der Gesellschaft womöglich?
Lakritz ist wie Marzipan: Man liebt es oder man hasst es. Wobei man es auch lieben lernen kann, wie die koreanische Illustratorin Sohyun Jung einmal erzählt hat. Für sie ein eindeutiges Zeichen, in Deutschland angekommen zu sein. Dabei gibt es ein deutliches Nord-Südgefälle, der Lakritzäquator liegt ungefähr auf der Höhe des Mains. Die Süddeutschen haben so wenig für „Bärendreck“ übrig wie Schweizer und Österreicher.
Immerhin, in Bamberg hat sich jetzt eine Süßholzgesellschaft gegründet, die Gärtner beim Anbau der Pflanze unterstützt. Was offenbar gar nicht so einfach ist. Denn wirklich zu Hause ist Glycyrrhiza glabra eher im Mittelmeerraum. Vor allem im tiefsten Süden Italiens wächst es – in die Tiefe. Denn das Interessante an der Pflanze ist die Wurzel, die unterirdisch meterweise wuchert. Die wird zerquetscht und eingekocht, bis man einen schwarzen Klumpen hat.
Für viele scheint allein die Farbe eine abschreckende Wirkung zu haben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Lakritz gerade im Ruhrgebiet so beliebt war. Im Land der Steinkohle macht Schwarz niemandem Angst. Beim Essen aber ist es eine Rarität. Tintenfischpasta, Blutwurst, Pumpernickel, Bitterschokolade, da hört’s fast schon auf. Aber die munden ja auch nicht jedem. Lebensmittel für den fortgeschrittenen Geschmack – Essen für Erwachsene.
Für Kinder nicht geeignet, die Warnung liest man bei Kadó, dem Kreuzberger Laden häufiger. Kein Wunder: Ilse Böge und Frank Büttner bieten 600 Sorten an, von süß bis superscharf reicht das Angebot, von Island bis Italien. Lakritz zum Kauen und Lutschen, Knabbern und Trinken, als Tee oder Likör, Lakritz-Pralinen und -Toffeebonbons, als Marmelade oder Lutscher, mit Schokolade umhüllt. Seit 17 Jahren gibt es Deutschlands ersten Lakritzfachhandel schon.
Jakobsmuscheln mit Lakritzbalsamico
Eine bemerkenswerte Entwicklung. Während Lakritz als industriell gefertigtes Massenprodukt schwindet, taucht es anderswo als Spezialität auf: In Bio-Eisdielen und Fachgeschäften, die es inzwischen auch in Charlottenburg, Prenzlauer Berg und Potsdam gibt, in Programmkinos – und in der gehobenen Küche.
Als vor zwei Wochen bekannt wurde, dass die Berliner Köchin Sonja Frühsammer ihren ersten Stern bekommt, war das den Zeitungen eine Schlagzeile auf der Titelseite wert: dass sie mit Gerichten wie Reh mit Roter Bete und Lakritz die strengen Michelin-Kritiker überzeugt hat. Offenbar klingt das für viele noch immer unglaublich kurios. Ist es aber schon lange nicht mehr. Nicht nur Crème brûlée und Panna cotta werden in feinen Restaurants damit parfümiert, auch herzhafte Gerichte wie Lamm. Zweisternekoch Daniel Achilles hat im Reinstoff schon mit Lakritz kandierte Algen auf Fenchel serviert und Süßholzsauce zum Hirschkalbtatar. Gerade ist auch das erste – sehr schöne – Lakritz-Kochbuch erschienen, im Landwirtschaftsverlag, von einer Schwedin verfasst. Elisabeth Johansson würzt Wild mit Süßholz, serviert Jakobsmuscheln mit Lakritzbalsamico und backt Lakritzgugelhupf mit Orange.
Auch bei den Verkostungen, die ein paarmal im Jahr bei Kadó stattfinden, können die Teilnehmer etwas aus der Küche probieren. Am letzten Wochenende gab’s gratinierten Ziegenkäse auf Salat, mit Birne und italienischer Lakritzkonfitüre, danach Lachs, mit Lakritzsalz gebraten. Das, schwärmt Ilse Böge, schmeckt auch auf Gurke. Dafür muss man nur Salzflocken mit ein bisschen Lakritzpulver vermischen.
All das ist mehr als Mode oder Spinnerei von ein paar Aficionados. Süßholz, als Pulver oder Paste, lässt sich als Gewürz einsetzen wie Vanille, Muskat oder Zimt. Aber dezent: Das dominante Lakritz soll andere Geschmäcker nicht übertünchen, sondern einem Gericht eine besondere Note verleihen. Für Böge, als Ostfriesin nahe der holländischen Grenze, also mit vielerlei Lakritz aufgewachsen, ist es ein idealer Geschmacksverstärker.
Dass es immer aufs rechte Maß ankommt, musste vor zehn Jahren auch jene Berlinerin lernen, die sich drei Monate lang jeden Tag eine 400-Gramm-Tüte der Lakritzmischung Matador einverleibte – um abzunehmen. Ist doch fettfrei. Nach drei Monaten war sie krankenhausreif, wurde mit Herzbeschwerden eingeliefert. Und verklagte Haribo: Die Firma hätte sie warnen müssen. Das Gericht schmetterte die Klage ab.
Es treibt der Blutdruck hoch
Eigentlich gilt Lakritz seit jeher als Medizin, gegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit, auch gegen Magenbeschwerden. Das haben schon die alten Griechen und Römer gewusst. Auch Napoleon ging nie ohne Süßholzpulver aus dem Haus. Neuerdings soll es sogar dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Aber, wie gesagt, die Menge macht’s. Und die Schärfe. Die Italiener lieben ihr pures, herbes Lakritz in kleinen Dosen. Je höher der Salmiakgehalt, desto schärfer und gefährlicher, für Diabetiker, Schwangere und Menschen mit Bluthochdruck. Denn Lakritz treibt ihn nach oben. Für Menschen mit niedrigem Blutdruck eine gute Nachricht.
Haribo ist zwar der größte Lakritzproduzent der Welt, nicht zuletzt durch den Aufkauf von Firmen in süßholzaffinen Ländern, etwa Skandinavien. Aber eine Manufaktur, so Ilse Böge, gibt es in ganz Deutschland nicht mehr. Ihr hauseigenes Ingwer- und Zimt-Lakritz läßt sie in Belgien herstellen.
In der Weihnachtszeit hat auch Lakritz, geschmacklich mit Fenchel und Anis verwandt, Hochsaison. In den Fachgeschäften kann man Adventskalender kaufen, bei Kadó „schwillt das Geschäft zwischen Nikolaus und Heiligabend zum Crescendo an“ an, so die Betreiber. Kadó, das heißt auf holländisch Geschenk.
Mein Neffe hat sich zu Weihnachten Lakritzeis gewünscht. Das kann man jetzt, da die meisten Eisdielen geschlossen sind, verblüffend einfach selber machen. 200 ml Milch aufkochen, erfährt man im Internet, 100 Gramm Lakritz, z. B. Schnecken, hineingeben, fünf Minuten köcheln und anschließend zwölf Stunden lang ziehen lassen. Am nächsten Tag mit dem Passierstab pürieren, drei Eigelb mit 125 Gramm Zucker schaumig schlagen, Lakritzmilch hineinrühren und ein Töpfchen geschlagene Sahne (200 ml) unterheben. Ab ins Gefrierfach und regelmäßig durchrühren, damit sich das Lakritz nicht absetzt. Das Experiment schmeckte auch Nicht-Fans verblüffend gut.
TIPPS:
Einkaufen:
Kadó, Graefestraße 20., Kreuzberg, samstags auch auf den Märkten am Winterfeldtplatz, am Kollwitzplatz und Hackescher Markt. www.kado.de
Schwarzes Gold, Uhlandstraße 98, Wilmersdorf. www.schwarzes-gold-lakritz.de
Lakritzeria, Stubbenkammer 3, Prenzlauer Berg. www.la-kritzeria.de.
Lecker Lakritz, auf dem Markt am Maybachufer und online. http://lecker-lakritz.de/
Potsdamer Lakritzkontor, Jägerstraße 20, Potsdam. www.lakritzkontor.de
Lesen:
Klaus-D. Kreische, Lakritz. Die schwarze Leidenschaft. Thorbecke Verlag, 8,90 Euro.
www.lakritzplanet.de
Kochen:
Elisabeth Johansson, Lakritz. Süße und herzhafte Rezepte. Landwirtschaftsverlag, 19,95 Euro.
Susanne Kippenberger
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