Weinpublizist im Interview: „So was hat die Welt noch nicht gesehen“
Rolf Bichsel verrät drei Geheimtipps und wie sich Mythos und Preisirrsinn des Bordeaux erklären.
Herr Bichsel, Sie leben als Weinpublizist im Bordeauxgebiet, müssen junge Jahrgänge mit knirschenden Gerbstoffen probieren, dazu kommen der Rummel um Preise, Subskriptionen und chinesische Investoren. Schmeckt Ihnen Bordeaux überhaupt noch?
Ich trinke viel Bordeaux, mit Vorliebe alte Jahrgänge. Man wartet 20 Jahre und hat dann oft ein tolles Weinerlebnis. Ich hatte das Glück, schon in den 80er Jahren auf Bordeaux zu stoßen und konnte mir, noch vor der Preisexplosion der 90er Jahre, für relativ wenig Geld eine Sammlung aufbauen. Davon profitiere ich bis heute. Mein Weinkeller ist meine Bibliothek.
Sie sind immer noch vom Mythos Bordeaux ergriffen?
Wie ein Löschblatt bin ich getränkt davon.
Heute produzieren unzählige Anbauregionen Weine nach Bordeaux-Muster, also Cabernet-Merlot-Blends. Warum dieser ewige Kult um sündteuren Bordeaux?
Es gibt drei Antworten, zuerst die historische: Das typische Château als schlossartiges nobles Weingut wurde in Bordeaux erfunden. Schon im 13. Jahrhundert hat die Region so viel Wein nach England exportiert, wie heute die ganze Schweiz erzeugt. Außerdem wurde im Bordeaux die Marke erfunden und damit das Weinmarketing. 1666, kurz nach der Feuersbrunst von London, schickte die Familie de Pontac von Château Haut Brion ihre Söhne unter dem Namen Ho Brian nach England und ließ den Wein im besten Restaurant Londons ausschenken. Der Wein war teuer, die Reichen waren beeindruckt. Der dritte Punkt ist das früh geknüpfte Händlernetz, ein ungeheuer effizientes, weltweites Verteilsystem.
Ein gutes Marketing und Händlernetz haben heute auch andere Regionen.
Jetzt müssen wir über das Einzigartige von Bordeaux reden. Bordeaux hat der Weinwelt nicht die Kraft und Fülle gebracht, nicht das Fette und Muskulöse, sondern Ausgewogenheit, Harmonie. Alle Komponenten sind fast perfekt aufeinander abgestimmt. Deshalb lassen einen die Weine nicht los.
Inzwischen hat auch Bordeaux Fett angesetzt. Der Alkoholgehalt liegt bei 14 Volumenprozent, die Weine sind süßlicher geworden, die Machart hat sich geändert. Bordeaux wurde weichgespült und füllig.
Es begann in den 70er Jahren mit einer Vergleichsverkostung in Paris. Da lagen plötzlich drei Amerikaner an der Spitze. Es wurde blind verkostet, und typischerweise gewinnt dann immer der kräftigste Wein. Es war zugleich die Zeit der Krise und Weinskandale, Bordeaux erlebte eine Schwächeperiode. Ein Château Palmer, der heute 300 Euro kostet, wurde damals auf der Straße an Touristen verkauft, die zum Nacktbaden gingen, um ihn überhaupt loszuwerden. Dann kam 1982, ein extrem warmes Jahr. Ich lief schon im März mit kurzen Hosen herum. 1982 brachte Bordeaux einen Weintyp, wie man ihn seit Jahrzehnten nicht kannte. Üppig, dick, süßlich, viel Farbe, Kraft, Alkohol. Das hat einem Mann sehr gefallen: dem US-Weinkritiker Robert Parker, der als Trinker von Bourbon-Whiskey spezielle Vorlieben hatte für Holzgeschmack, Vanille usw. Parker erklärte 1982 zum Spitzenjahr – es war der Anfang des modernen Bordeaux.
Wie groß ist heute Parkers Einfluss, zittern die Weingüter noch vor seinem Urteil?
Es zittert niemand mehr. Aber was hat Parker tatsächlich verändert? Er hat vor allem dafür gesorgt, dass die Weine des rechten Ufers der Gironde, also Saint Emilion und Pomerol, gleichgezogen haben mit denen des Médoc vom linken Ufer. Er hat für mehr Fülle im Wein gesorgt und für den Rummel um die Spitzenweine. In der Ära Parker sind aus 100 guten Bordeaux 500 oder 1 000 geworden. Aber: Wir dürfen nicht die Klimaveränderung vergessen, bessere Technik und Vinifikation, ein viel besserer Anbau. Es war nicht nur Parker.
In jedem Fall hat sich die Stilistik verändert. Die Weine würden teilweise schlecht altern, weil sie auf schnelle Trinkbarkeit getrimmt sind, sagen Kritiker.
Das ist Quatsch. Was Reifung und Haltbarkeit angeht, unterscheiden sich die Weine sehr stark. Die wirklich über Jahrzehnte lagerfähige Spitze macht nur etwa vier Prozent aus. Viele Spitzenweine haben heute ein größeres Alterungspotenzial. Schlechter reifen diejenigen Weine, die unbedingt beeindrucken wollen mit 15 Prozent Alkohol, extremem Holzeinsatz, weichen Tanninen, tiefer Säure und anderen Mätzchen. Diese Weinroboter, wie ich sie nenne, bleiben in ihrer Entwicklung oft stehen, sie reifen ganz seltsam.
Dann haben die Kritiker doch recht.
An einem Punkt, ja: Die Strategie der 90er Jahre, am rechten Ufer mit reinsortigem Merlot aufzutrumpfen, war eine Riesendummheit. Hier wurde versucht, die Weine fülliger, weicher, gefälliger zu machen, damit sie schon in der ersten Lebensphase – wenn die Journalisten kommen – hoch bewertet werden. Die Handelspreise entstehen genau in dieser Phase, wenn der Wein noch unfertig ist.
Dann muss man zu diesem Zeitpunkt Eindruck schinden?
So ist es. Als ich in den 80er Jahren mit der Verkostung junger Primeurweine in Bordeaux begann, waren wir eine kleine Gruppe von 20 Journalisten, die 120 Weine probierten. Heute treffen sich 5000 Leute, die in fünf Tagen mehrere tausend Muster beurteilen sollen.
In fünf Tagen 5000 Weine? Wie halten Sie und Ihre Leber das aus?
Meine Mitarbeiterin und ich dürfen uns einen ganzen Monat Zeit nehmen und beschränken uns auf 600 Muster.
Verkosten Sie die Proben blind?
Blindverkostungen sind der größte Unsinn, den sich Weinjournalisten jemals ausgedacht haben. Dann läuft man tatsächlich blind durch die Welt. In der Oper sitzen Sie doch auch nicht mit geschlossenen Augen.
Eine Bordeauxflasche ist keine Operndiva.
Ich erzähle Ihnen mal was: Es war bei einer Blindverkostung von Spitzen-Bordeaux, als der große Lafite abgeschlagen auf dem 12. Platz landete. Dann kam das Essen, und die Weine wurden getrunken. Obwohl der Lafite in der Blindprobe hinten lag, haben sich dieselben Journalisten, die vorher gefeixt haben, auf die Flasche gestürzt und sich fast geprügelt. Sie war in fünf Minuten leer. So viel zum großen Mist der Blindverkostung. Auch die Callas war an schlechten Tagen immer noch die Callas. Und ein schlechter Lafite ist immer noch ein Lafite.
Entzückt ein großer alter Bordeaux eigentlich auch ganz normale Weintrinker oder muss man Weinintellektueller sein, um ihn zu genießen?
Man muss kein Intellektueller sein. Als ich vor 20 Jahren umgezogen bin, kam ich abends von einer Probe zurück. Im Gepäck hatte ich eine angebrochene Flasche 66er Palmer. Als ich eintraf, machten die Umzugsarbeiter Wurstvesper, und weil sie so geschuftet hatten, wollte ich nicht geizig sein. Also habe ich den 66er-Palmer ausgeschenkt. Die kannten weder Palmer noch Jahrgang – und waren hellauf begeistert. Natürlich kann man auch Enttäuschungen erleben, die Ausfallquote alter Weine ist hoch. Aber gerade die in den 90er Jahren mit immer größerer Sorgfalt gemachten Weine sind grandios. Wenn wir sie in zehn Jahren trinken, garantiere ich mit all meiner Erfahrung: So was hat die Welt noch nicht gesehen.
Dafür zahlt man in der Spitze aber vierstellige Beträge. Und selbst die dritte oder vierte Reihe kostet noch dreistellig. Ist es das wert?
Ich setze die Grenze bei 200 Euro. Wenn Sie mit Ihrer Frau in die Oper gehen, sich fein machen, in der Pause einen Schampus trinken, kostet es fast genauso viel. Auch wenn Sie gut essen gehen, sind schnell 200 Euro weg. Das sind Erlebnisse, die man sich nicht jeden Tag leistet.
Zum Schluss bitte einen Tipp vom Insider: ein toller, bezahlbarer Bordeaux gegen miese Winterlaune.
Moulin Haut Laroque im Fronsac wird wie ein Grand Cru produziert und kostet unter 25 Euro. Dann der Montbrison für 20 Euro, wunderbar. Ein Wein, den kaum jemand kennt und der unverschämt gut ist: Château Brondelle aus dem Gebiet Graves. Das sind drei Geheimtipps.
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