Das Coronavirus als gemeinsamer Feind: So könnte das Gemeinwesen genesen
Um Gewohnheiten zu ändern, braucht es Druck von außen – der ist jetzt da. Neues muss ausprobiert werden, alle zusammenrücken. Ein Kommentar.
Wenn die Bewohner der globalisierten Welt freiwillig für ein „Retreat“ ins Kloster gehen, dann tun sie das, um sich dort auf das sogenannte „Wesentliche“ zu konzentrieren. Man geht also davon aus, dass das Wesentliche noch da ist, ja eventuell sogar schärfer zu sehen ist, wenn die Welt außen vor bleibt. Muss man sich vor diesem Hintergrund wirklich davor fürchten, wenn ab diesem Wochenende für die meisten Berliner die Welt, die wir einfach „Alltag“ nennen, vor der Wohnungstür bleibt?
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Kinder und Erwachsene die kommenden Wochen im Rückblick als eine intensive Zeit in Erinnerung haben werden, in denen die Familie einzigartig zusammenwuchs, weil sich plötzlich ohne Schule, Sport und Kultur ein Ozean an Zeit auftat. Vielleicht wird es sein, wie nach dem Sommermärchen 2006: ein Babyboom, neun Monate später?
Der zuletzt sehr bröckelnde Zusammenhalt unserer gespaltenen Gesellschaft, heißt es oft, sei auch dadurch gefährdet, dass ein gemeinsamer Gegner fehlt. Ab sofort stimmt das nicht mehr. Der Gegner ist jetzt da, in Gestalt eines Virus. Und vielleicht ist jetzt – neben allen schmerzhaften Härten – auch die Gelegenheit für Veränderungen, die wir immer schon einmal anstoßen wollten.
Gewohnheitstier unter Druck
Psychologen sagen, dass es für das Gewohnheitstier Mensch ungeheuer schwierig sei, Gewohnheiten zu ändern. Dafür müssten sich am besten auch äußere Umstände ändern. Vielleicht war es deshalb nie einfacher, unsere Gewohnheiten als Gesellschaft auf den Prüfstand zu stellen.
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Trifft diese Pandemie nicht auf eine Welt, die ohnehin seit Jahren versucht, die Nebeneffekte der Globalisierung für Menschen und Klima abzufedern? Wir sind jetzt alle Teil eines Globalisierungs-Experiments, einer Nagelprobe, die sich ohne Sars-CoV-2 aus gutem Grund niemand zu unternehmen getraut hätte: Was bedeutet es, die Globalisierung anzuhalten?
Was passiert, wenn wirklich alle weniger fliegen, handeln, reisen, kaufen und produzieren, während Wachstum nur noch bei der Zahl der Infizierten zu verzeichnen ist? Es ist, als hätten Naomi Klein und Greta Thunberg plötzlich Schützenhilfe von einem Virus bekommen.
Mut für Neues
Auf diese Art hätte sich das niemand gewünscht, aber man registriert mit Erstaunen, wie sich im Satellitenbild über Peking schon nach zwei Wochen Stillstand immense Luftverbesserungen messen lassen. Andererseits ist es die erste Pandemie, die auf eine weitgehend digitalisierte Menschheit trifft.
Digitalisierung ist heute, wenn der Pianist Igor Levit zu Hause auf Socken für alle ein herzerwärmendes, kostenloses Hauskonzert spielt, das er per Twitter live überträgt. Die Gemeinde kommentiert: Ich weiß jetzt wieder, wofür mein Smartphone gut ist!
Könnte es sein, dass in diesem Fall nicht du der Digitalisierung dienst, sondern die Digitalisierung dir? Es gibt Lieferplattformen, Whats-App-Gruppen und Cybersex. Quarantäne ist heute schon allein deshalb keine mittelalterliche Maßnahme mehr, als die sie oft beschrieben wird, weil der Faden nach draußen niemals reißt.
Überall werden ab sofort notgedrungen Neuerungen ausprobiert, zu denen die Gesellschaft in diesem Ausmaß sonst nie den Mut gefunden hätte: Arbeitgeber werden erkennen, dass ihre Mitarbeiter im Homeoffice tatsächlich arbeiten.
Erdnussschälchen ohne Urinspur
Dort sitzend kommt einem zwischen Stoßseufzern und empfohlenem Stoßlüften der Gedanke: Bislang mussten Familien etwa nach Frankreich auswandern, wenn sie mit ihren Kindern den Schulstoff selber durchnehmen wollten. Ab kommender Woche: Homeschooling! Hätte man das sonst einfach mal ausprobiert?
In einer positiven Utopie wäre es denkbar, dass nach dieser Zeit auch in der Politik Prioritäten anders gesetzt werden. Dass man – nun aber wirklich! – Geld für Digitalisierung an Schulen ausgeben will. Und weil Berlin sich endlich flächendeckend die Hände wäscht, werden, wenn alle wieder ausgehen dürfen, in den Erdnussschälchen auf den Tresen der Stadt keine Urinspuren mehr nachweisbar sein.
Daheim meditieren die Leute möglicherweise eine Weile über ihrer Palette Mehl, die sie vorsorglich eingekauft haben. Und nie war so viel Zeit, in Ruhe einem Hefeteig bei der Arbeit zuzuschauen, einen Sauerteig zu führen. Und – Unabhängigkeitserklärung an die Konservendose! – zu Kochen mit der Zeit, die wir vorher glaubten, nicht zu haben.
Welle der Hilfsbereitschaft
Alle sind auf eine erkenntnisfördernde Art auf sich selbst zurückgeworfen und zugleich aufeinander angewiesen. Nachbarn kaufen füreinander ein. In der Stadt geht die Anzahl der Einbrüche zurück, weil die Leute tagsüber zu Hause sind. In den Familien bricht die Zeit der Brettspiele an, zwischendurch lüftet man sich in der Natur.
Gut möglich, dass sich die Laune heben wird, die Zuversicht zurückkommt, die Gesellschaft zusammenwächst wie bei den tatkräftigen Hilfsaktionen nach der Oderflut 1997. Die Welle der Hilfsbereitschaft gewinnt schon jetzt an Schwung. Es wäre ein großartiges Paradox, wenn man am Ende sagen könnte: An diesem Virus ist unser Gemeinwesen genesen.
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