Digitale Nomaden: Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?
Sie ziehen mit dem Laptop um die Welt und arbeiten, wo es ihnen gerade gefällt. Sie besitzen nur das Nötigste, den Rest organisieren sie sich online. Seine letzten Möbel hat Thorsten Kolsch schon im Sommer verkauft.
Während seine gute Freundin ein Jahr um die Welt reiste, zog Thorsten Kolsch in ihre Wohnung im schicken Hamburger Viertel Blankenese und goss Blumen. Als er vom Fenster aus die Dampfer auf der Elbe beobachtete, erwachte sein Fernweh. Was wäre, wenn er jetzt einfach den Rucksack packen und wegfahren könnte?
Der 34-Jährige arbeitet im Online-Marketing, ist selbstständig. Viel lieber als am immer selben Schreibtisch arbeitet er im Café, in der Bahn, am Wasser. Reisen ist seine Leidenschaft. Wie viele in seiner Generation ist er ständig umgezogen für den Job. Kolsch fühlt sich an vielen Orten schnell heimisch. „Ich bin nicht der Typ für Urlaubsfotos an den Wänden“, sagt er.
Wo wohne ich morgen? Diese Frage beschäftigte ihn. Darum begann er vor einem Jahr, Menschen zu suchen, die ortsunabhängig leben, und drehte die Dokumentation „Digitale Nomaden – Deutschland zieht aus“. Darin erzählt er von den modernen Wanderarbeitern, die nicht mehr von 9 bis 18 Uhr im Büro verbringen, sondern ihren Rhythmus selbst bestimmen, Reisen mit Arbeit verbinden. Ohne Zelt, aber mit Notebook und Smartphone, ziehen sie von Ort zu Ort, bleiben, wo es ihnen gefällt, Weltenbummler und Unternehmer zugleich.
„Was uns verbindet, ist dieser Freiheitsdrang“, sagt Sebastian Canaves, einer dieser Umherziehenden. „Für mich geht es darum, mich selbst zu verwirklichen.“ Sein Job als Marketingberater hat ihm Spaß gemacht, doch er wollte „keine Marionette für jemand anderen sein“. Es war ein fließender Übergang vom Vielreisenden zum digitalen Nomaden. Seit Mitte 2013 ist er unterwegs. „Ich kann tun, was ich will, bin nicht gebunden.“
Sein Zuhause, sagt er, befindet sich dort, wo er sich gerade aufhält. Fast 100 Länder in fünf Kontinenten hat der 26-Jährige bereist, in Bulgarien, Thailand und den Niederlanden gelebt. „Grundsätzlich bin ich heimatlos“, sagt der Halbspanier, der auf Mallorca aufwuchs, mit 14 in die Nähe von Salzburg zog, dann nach Osnabrück. „In Spanien war ich der Deutsche, in Deutschland der Spanier.“
Nach dem Abitur ging er nach Australien. 2012 kehrte er zurück, machte sich als Online-Unternehmer und Blogger selbstständig. Heute führt er zwei Blogs, „TravelWorkLive“ und „Off The Path“, und leitet mit „Nomaden-Kollegin“ Conni Biesalski die Agentur Transit Media, in der sie eine Bloggerschule anschlossen. „Off the Path“ ist einer der größten Reiseblogs im deutschsprachigen Raum, derzeit hat er rund 70 000 monatliche Besucher. 2014 erwirtschaftete Canaves einen Gesamtumsatz von 200 000 Euro. Selbstdarstellung und ständige Online-Präsenz gehören zum Geschäftsmodell. Regelmäßige Beiträge darüber schreiben, wie man beispielsweise Einsamkeit in fremden Ländern bekämpft, Fragen beantworten, twittern, Facebook und Instagram füttern.
Sie reisen nur mit Handgepäck
Seit 161 Tagen führt Canaves ein Videotagebuch, seit November arbeitet er am ersten Buch. Er schrieb in Chiang Mai, Bangkok, London, Edinburgh, Dubai, Hongkong, Macau, Bali, sein momentanes Zuhause: ein Camper. Vier Quadratmeter auf vier Reifen. Seit vier Wochen ist Canaves mit Freundin Line Dubois, 26, unterwegs durch Australien. Seit Beginn ihrer Beziehung vor einigen Monaten reisen sie gemeinsam, leben auf engem Raum.
„In puncto Partnerschaft habe ich in den Gesprächen mit den digitalen Nomaden überwiegend eine ,Alles oder nichts’-Haltung vernommen,“ erzählt Thorsten Kolsch: „Nach dem Motto: Entweder die Partnerin oder der Partner unterstützt meinen Lifestyle zu 100 Prozent, oder es ist nicht die oder der Richtige.“ Wenn es um die persönliche Freiheit geht, wollen die Nomaden keine Kompromisse machen, ob andere das für egozentrisch halten, ist ihnen egal.
Canaves und seine Freundin reisen nur mit Handgepäck, ein paar Hosen im Rucksack, ein Hemd für spontane Einladungen zu Konferenzen und vor allem die technische Ausrüstung. „Die aktuelle Verbindung im australischen Outback ist besser als in der Berliner U-Bahn, sagt der 26-Jährige. Sein Motto: Erinnerungen, nicht Dinge sammeln. In einem Abstellraum in Neukölln ist alles verstaut, was Canaves und seine Partnerin noch besitzen. In sechs Umzugskisten passt ihr Besitz: Klamotten, Erinnerungsstücke und wichtige Unterlagen.
Sieht so die Zukunft der Arbeit und des Lebens aus? Einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers nach geht jeder Fünfte der jüngeren Generation davon aus, einmal von einer Vielzahl an Orten mobil zu arbeiten. Weltweit finden sich mittlerweile Hotspots für Menschen, die arbeiten, wenn sie reisen und umgekehrt. Was sie brauchen: Gemeinschaftsbüros, eine stabile Internetverbindung und Apartments, die man für kurze Zeiträume mieten kann.
Berlin als feste Anlegestelle
Das Betahaus in Kreuzberg ist einer der ältesten Coworking-Spaces Deutschlands. Seit 2009 trifft sich hier die digitale Boheme. Vor einem Jahr fand in dem Gebäude die erste Konferenz für ortsunabhängiges Arbeiten statt. Mehr als 200 Interessierte kamen. Dieses Jahr haben die Veranstalter, Felicia Hargarten und Marcus Meurer, für das Treffen im Mai bereits doppelt so viele Anmeldungen erhalten. Das Paar ist seit 2013 auf der ganzen Welt unterwegs. Es kündigte die gut bezahlten Jobs, vermietete seine Berliner Wohnung unter und verkaufte auf dem Flohmarkt kistenweise Bücher, Schuhe, allen Ballast eben. Die Idee für die Konferenz hatten die 33-Jährige und der 37-Jährige irgendwo zwischen Belize und Belgien.
Dieses Jahr wird Canaves dort über seine Erfahrungen sprechen. Berlin ist für ihn zur festen Anlegestelle geworden, den Sommer verbringt das Paar in der Stadt. Die frühere Wohnung ist noch untervermietet, bald möchte Canaves sich ganz von ihr lösen. Lieber suche er für zwei Monate eine Bleibe auf Airbnb. Die Regel, nach der er und seine Freundin leben: Drei Tage arbeiten, zwei Tage reisen. Er protokolliert seine Arbeitszeit, durchschnittlich 52 Stunden pro Woche, in Spitzenzeiten 80. „Wenn mich jemand mitleidig anschaut, weil um mich herum alle Urlaub machen, während ich am Notebook sitze, schaue ich mitleidig zurück. Weil ich weiß: Er muss bald wieder zurück.“
Mittlerweile hat auch Thorsten Kolsch keine Wohnung mehr, im Sommer hat er seine Möbel verkauft. Seitdem ist er unterwegs, wohnt bei Bekannten oder sucht sich Zimmer über Internet-Plattformen. Es gehe ihm nicht darum, „Länder zu sammeln“, sagt er. Ihm reiche es schon zu wissen, dass er nicht an 30 Urlaubstage im Jahr gebunden ist.
Der Film von Thorsten Kolsch ist unter http://deutschland-zieht-aus.de ab 1. Mai abrufbar. Am 8. und 9. Mai findet in Berlin die Konferenz für digitale Nomaden, die DNX Berlin, statt.
Isabel Stettin
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