Ungarn vor den Wahlen: Schönes, trauriges Budapest
Anfang April wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt – mit guten Chancen für die regierende Rechte. Wie ist das in der Hauptstadt zu spüren? Spaziergänge mit drei Intellektuellen.
Es gibt dieses Lied über ihre Heimatstadt, erinnert sich die Philosophin Ágnes Heller. Sie selbst, bald 85, hat es als Kind gesungen. „Wo die gelben Straßenbahnen fahren und die Geschäfte schließen“, heißt es darin, „da ist Budapest“.
Die Straßenbahnen verkehren noch heute im gelben Gewand, und sonntags könne man in kaum ein Restaurant gehen, erklärt Ágnes Heller, „man bekommt kein Mittagessen“. Es scheint sich wenig für sie geändert zu haben in 80 Jahren. Doch, doch, Budapest sei eine komfortable Stadt geworden, schiebt die Philosophin nach, ein Ort, wo die Menschen die Ruhe lieben. „Niemand eilt, alle verspäten sich. Auch sie, die hellwache Denkerin, erscheint zum Treffen im Café des Hotel Astoria nicht ganz pünktlich. Gemach, gemach.
Das Marmorgebäude des Hotels ist wie aus der Zeit gefallen, ein prächtiger Jugendstilbau vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Schwenk nach rechts, auf die nächste Kreuzung, und schon landet der Besucher im Hier und Jetzt. Ein Plakat der regierenden Fidesz-Partei prangt an einer Litfaßsäule. In der ganzen Stadt ist das Partei-Orange präsent, von Wänden, vorbeifahrenden Bussen und Straßenbahnen leuchtet es herab. Es herrscht Wahlkampf, bis zum Urnengang am 6. April bleiben wenige Wochen. Vor allem Viktor Orbáns Fidesz und die rechtsextreme Jobbik werben um die Gunst der Wähler, von der linksliberalen Opposition ist wenig zu sehen.
Wenn doch mal ein Plakat des Bündnisses „Zusammenhalt“ an einer Spanplatte klebt, ist es zerrissen oder mit einem despektierlich gemeinten Zusatz wie „Kommunist“ versehen. Allein vor dem Hauptgebäude der Universität sprühten Studenten Kommentare unter eines der orangefarbenen Plakate: „Orbán, verzieh dich!“ ist dort zu lesen – und die Frage: „Demokratie oder Diktatur?“
Meinungs- und Pressefreiheit sind seit vier Jahren merklich eingeschränkt, seit Fidesz mit Zweidrittelmehrheit regiert. Regierungschef Orbán denke „wie ein östlicher Despot“, erregt sich Heller, er sei getrieben von Geltungssucht und Machtgier, zeige „absolutistische Manieren“. Die umstrittene Medienaufsichtsbehörde, der zunehmende staatliche Einfluss auf Kulturinstitutionen, die Verbannung von Obdachlosen aus den Innenstädten: Vieles laufe schief in Ungarn, kritisiert die Philosophin, auch in Budapest, das lange den Ruf genoss, ein liberaler Ort zu sein. Den der Reichsverweser Miklós Horthy deswegen schon vor 100 Jahren „sündige Stadt“ taufte.
Fühlt sich Ágnes Heller, die nimmermüde Kämpferin für das Ideal persönlicher Freiheit, wohl in Budapest? „Ja und nein“, antwortet sie. Gut gehe es ihr in der Stadt allein deshalb schon, weil ihre Freunde hier leben, weil sie die Straßen kennt, die Stadt ihre Heimat ist. Trotzdem: Unwohl fühle sie sich wegen der politischen Situation, „der antidemokratischen, ich möchte sagen: diktatorischen Tendenzen in der ungarischen Politik“.
Die Mehrheit sieht das anders. In den Umfragen liegt Fidesz vorn, und Ágnes Heller beschwört ein dunkles Szenario herauf: „Entweder gewinnt die Opposition, oder ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr für Ungarn.“ Sie könnte diese Stadt verlassen, diesen Ort, der ihr schon einmal so feindlich gesonnen war. Jahrzehntelang wurde sie als freigeistige Jüdin von zwei totalitären Regimen verfolgt, mit Berufsverbot belegt und beinahe ermordet. Erst von den Nazis, dann von den Kommunisten.
Ihr Budapest versprüht den Charme des Morbiden
Doch wenn sie durchs Universitätsviertel spaziert, wird deutlich, wie viele zärtliche Erinnerungen sie mit ihrer Heimatstadt verbindet. Dort liegt der Károlyi-Park, eine gleichermaßen gepflegte wie überschaubare Grünanlage. Alte Gaslaternen am Wegesrand, spielende Kinder auf Klettergerüsten, die angrenzenden Häuser zählen zu den teuersten der Innenstadt. Ágnes Hellers Weg führt zum Zaun des Palais Károlyi, als Mädchen bedeutete er eine unüberwindbare Grenze für sie. Dahinter fanden in jedem Sommer klassische Konzerte statt, zu denen sie keinen Zutritt hatte. So lauschte sie als Zaungast.
Eine schmale Seitenstraße führt vom Károlyi-Park zur Eötvös-Loránd-Universität an der viel befahrenen Múzeum körút. Kurz nach dem Krieg begann Heller hier ihr Studium, von einer Vorlesung von Georg Lukács für die Philosophie begeistert. Später wurde sie seine Assistentin. Bald 70 Jahre ist sie nun der Universität verbunden.
Gegenüber der Lehranstalt liegt das „Zentrale Antiquariat“, eine großzügige Buchhandlung mit dem erwartbar muffigen Aroma alter Schriften. Hier hat sie sich 1947 vom schmalen Stipendiengeld die ersten philosophischen Klassiker gekauft, erzählt Ágnes Heller. Noch immer kann sie nicht vorbeigehen, ohne in den davor stehenden Pappschachteln zu stöbern, die gefüllt sind mit Büchern für umgerechnet 30 Cent das Stück.
Ihr Budapest versprüht den Charme des Morbiden, der einstige Glanz des Habsburgerreichs blättert von den Fassaden der Altbauten. An manch anderer Ecke atmet hingegen der Geist der Sowjetzeit mit rasselnder Lunge. Etwa als röhrender, zischender Ikarus-Bus oder als in die Jahre gekommener U-Bahnwaggon, der tief unter der Erde und der Donau zuckelt.
Wer die Stufen zu einer der 42 Stationen hinabsteigt, ins zweitälteste Metronetz der Welt, erlebt die Stadt als Mikrokosmos. Der Duft von ofenfrischen Backwaren durchströmt die Bahnhöfe, von warmen Quarktaschen und Käsebällchen, die es hier für knapp 1000 Forint, etwa drei Euro pro Pfund, zu kaufen gibt. Nebenan haben Fidesz und Jobbik ihre Parteistände aufgebaut, laden zum Gespräch ein und verteilen Flyer.
Wer hinabsteigt, sieht aber auch die Armut, die moderne Hotels und zahlungskräftige Touristen auf manchen Straßen verdecken. Fast jeder zweite Ungar muss von weniger als 260 Euro im Monat leben, mehr als 250 000 Kinder sind laut einer aktuellen Studie nicht ordentlich ernährt. Dieser Missstand zeigt sich in den U-Bahnhöfen, wo Obdachlose um ein paar Forint betteln und Blinde Blumen verkaufen.
An ihnen vorbei führen die schwindelerregend steilen und schnellen Rolltreppen hinab in den Untergrund. Auf den Bahnsteigen verrät sich der schlenderhafte Geist Budapests in einem scheinbar beiläufigen Detail: Eine digitale Uhr zeigt sekundengenau an, wie viel Zeit seit der Abfahrt des letzten Zuges vergangen ist. Eine Information, die höchstens zu einem wehmütigen Stoßseufzer verleitet: Ach, schon wieder zu spät…
Zu Fuß sind es nur wenige Minuten von der Universität hinüber ins jüdische Viertel. Kleine Cafés und Bars reihen sich dort aneinander, in den schmalen Straßen rund um die Synagoge im maurischen Stil, die größte Europas. Traditionelles jüdisches Leben mischt sich hier mit Touristengruppen. Restaurants werben in hebräischer Schrift für ihre koschere Küche, in manchem Supermarkt findet sich eine Ecke mit Lebensmitteln, die den jüdischen Speisevorschriften gehorchen.
Im engen Geflecht der Gassen gehört die Kertész utca zu den ruhigeren Orten. So ist das Café Szimpla an einem Freitagnachmittag spärlich gefüllt, nur selten faucht die Espressomaschine auf. „Mir gefiel schon vor neun Jahren der Gegensatz aus den schönen, touristischen Seiten und dem etwas Rauen“, sagt die deutsche Autorin Nina Sahm über die Stadt, in die sie damals für ein Auslandssemester kam.
Seither seien die Preise gestiegen, bemerkt sie, zum Beispiel für das Széchenyi-Heilbad, das sie damals jeden Sonntag besuchte. Die Löhne seien niedrig geblieben, weswegen mancher Ort, auch das legendäre Heilbad im Gellért-Hotel, nun mehr Touristen als Einheimische anzieht. Nur die Postkartenseite der Stadt werde gepflegt, etwa das Parlamentsgebäude an der Donau. Zu ihrer Zeit sei die Fassade von Abgasen verdunkelt gewesen, sagt die Autorin, nun erstrahlt sie in hellstem Weiß, ist abends erleuchtet – eines der bevorzugten Fotomotive.
An ihrem ersten Tag in Budapest stieß sie sofort an ihre Grenzen
Schmale Straßen wie die Kertész utca öffnen den Blick für ein anderes Bild der Stadt. Die bis zu siebengeschossigen Altbauten sind vielfach von Ruß und Patina geschwärzt, in großen Stücken platzt der Putz von den Außenwänden der Häuser. Am Abend bevölkern Touristen die Gassen und strömen in Läden wie das „Szimpla kert“. In entwohnten, abrissreifen Häusern mit Lichthöfen haben sich Clubs eingerichtet, weitläufige, vielfach verzweigte Bars auf mehreren Etagen. Ein großes Bier gibt es für umgerechnet etwas mehr als einen Euro.
Nina Sahm verbringt nach langer Zeit wieder ein Wochenende in der Stadt, vor Kurzem erst ist ihr Romandebüt „Das letzte Polaroid“ erschienen. Schauplatz: Budapest. „Dass ich vor neun Jahren herkam, war Zufall“, erzählt Sahm, „denn es war Zufall, dass ich Ungarisch gelernt habe.“ Sie wollte sich damals eine Sprache aneignen, die nicht jeder spricht, und belegte einen Ungarisch-Kurs. An ihrem ersten Tag in Budapest stieß sie sofort an ihre Grenzen, als es darum ging, ein Bankkonto zu eröffnen. „Ich hätte fast geheult, als ich die Formulare vor mir hatte und kaum ein Wort verstanden habe“, erinnert sich Sahm.
Doch bald bröckelte die Sprachbarriere und die Studentin lernte die neue Stadt schätzen. Die Ungarisch-Lehrerin hatte ihr einen Plan mit den wichtigsten Orten Budapests gezeichnet, auch das Café Szimpla tauchte darin auf. „Es gefällt mir, weil es nicht so touristisch ist“, sagt Sahm heute, „weil man zweimal abbiegen muss, bis man es entdeckt.“
Nina Sahm war sich schon vor neun Jahren sicher. Wenn sie jemals einen Roman schreiben würde, dann über Budapest. Als sich mit dem Wahlsieg von Fidesz die politische Situation in Ungarn wandelte, war plötzlich das gegeben, was in ihren Augen bisher gefehlt hatte: Relevanz. In ihrem nun erschienenen Roman bildet Politik die Folie, vor der sich das Geschehen ausbreitet. Da finden Demonstrationen gegen die Regierung statt, ein ehemals kritischer Radiomoderator wird durch Repressionen zum Anhänger Orbáns. Währenddessen wartet eine junge Deutsche in Budapest darauf, dass ihre Jugendfreundin nach einem Unfall aus dem Koma erwacht. Dobos-Torte, Margareteninsel, Unicum- Schnaps. Nina Sahm hat reichlich Lokalkolorit in ihr Debüt eingewoben.
Als sie 2011 in Berlin ihren Friedrichshainer Kiez durchstreifte, las sie an einem Café in leuchtender Schreibschrift das Wort „Szimpla“. Die Adresse: Gärtnerstraße. Fortan trank sie ihren „Szimpla“, den Espresso, in der Berliner Dependance. Umgeben von Mohnkuchenauflauf und Letscho lauschte sie dem Ungarisch der Kellnerinnen, wenn ihre Geschichte Budapester Flair brauchte. Und sie bekam Sehnsucht nach dieser Stadt, die sich selbst gerade zwischen Freiheitsliebe und Nationalismus aufreibt.
Das waren schon vor 200 Jahren große Schlagworte. Damals wollten sich die Ungarn vom Habsburger Reich lossagen, suchten den Anschluss an die Moderne und planten identitätsstiftende Bauwerke. Eines steht noch bis heute da – die Kettenbrücke über die Donau, die zentralste, bekannteste und zugleich älteste der Stadt. Seit 1849 verbindet sie Buda und Pest, die beiden einst eigenständigen Städte. Wer den Weg vom urbaneren Pest hinüber auf die andere Seite sucht, Universität, Parlament und jüdisches Viertel hinter sich lässt und das Wohngebiet Buda ansteuert, über dem sich der Burgberg erhebt, der erreicht am westlichen Ende der Kettenbrücke zunächst einen Kreisverkehr. „Clark Ádám tér“ heißt er, Adam-Clark-Platz, benannt nach dem schottischen Bauleiter der eisernen Brücke.
„Dieser Platz ist ein typischer non-place, ein Nicht-Ort“, sagt József Készman, während er auf Autos und Busse blickt, die sich im Bogen um die kreisrunde Mittelinsel schieben. Készman, 45, ist Chefkurator der Budapester Kunsthalle, dem größten Museum für Gegenwartskunst in Ungarn. Für ein Treffen hat er bewusst diesen unwirtlichen Ort gewählt, der kaum zum Verweilen einlädt, eher zum raschen Weglaufen.
Auf der einen Seite die Kettenbrücke, auf der anderen der Schlund eines historischen Tunnels, der den Burgberg durchgräbt. Készman sieht im Adam-Clark-Platz ein Symbol für den Wandel Budapests. Im Sozialismus prangte ein roter Metallstern im Zentrum des Kreisverkehrs, nach der Systemwende wurde er ersetzt durch Werbetafeln, die Banner des Kapitalismus. Heute trotzen bunte Blumenrabatten den Autoabgasen.
„Vor wenigen Wochen stand der Platz im Fokus einer Protestaktion“, erzählt Készman. Greenpeace hatte das Rondell in ein Atomzeichen in Schwarz und Gelb verwandelt. Anlass war ein Abkommen zum Ausbau des einzigen ungarischen Kernkraftwerks in Paks, 100 Kilometer südlich von Budapest. Ohne vorherigen Parlamentsbeschluss oder ein Referendum hatte Ministerpräsident Orbán von Russland einen Kredit über elf Milliarden Euro erwirkt. „Dieser Vertrag bedeutet einen Wandel in der ungarischen Politik“, findet Készman. „Bisher hat man sich in Richtung Europa orientiert, nun wieder gen Russland.“
Am Rande des Kreisverkehrs steht etwas verloren eine Skulptur, eine gestauchte, steinerne Null. „Wir sind hier gewissermaßen am absoluten Nullpunkt Ungarns“, erklärt Készman, „am Ursprung aller Hauptverkehrsstraßen.“ Früher sei der Platz das Pendel der Stadt gewesen, von dem aus alle Entfernungen gemessen wurden, der wichtigste Verkehrsweg Budapests.
Für Készman selbst droht der kommende Mai ein solcher „Nullpunkt“ zu werden. Dann wird der künstlerische Leiter der Kunsthalle kündigen, und mit ihm zwei weitere Kuratorinnen. Aus Protest gegen die staatliche Akademie der Künste, die das Museum übernommen hat und fortan eine vermeintlich „nationalere“ Kunst zeigen wird. Ist das noch Freiheit? Jószef Készman hat für sich entscheiden: Nein. Er nimmt seinen Hut, ganz freiwillig.
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