Bill Haley in Berlin: Rock around the Clock
Bill Haley gelingt 1954 der erste große Hit des Rock ’n’ Roll: 2 Minuten 8 Sekunden treffen den Nerv der Jugend – die bei Haleys Auftritt in Berlin den Sportpalast zerlegt.
Er rockt am 25. Oktober 1958 nicht around the clock. Nicht einmal eine ganze Umdrehung schafft der große Zeiger der Uhr. Nach acht Songs und 40 Minuten ist der Spaß für 7000 Zuschauer im ausverkauften Berliner Sportpalast schon wieder zu Ende.
Der Konzertabend, der mit preußischem Jazz von Kapellmeister Kurt Edelhagen beginnt und mit zivilisiertem Schunkeln zu Bill Haley enden soll, kippt in eine wüste Saalschlacht. Angestachelt vom Beat zersäbelt eine Hundertschaft falscher Elvisse in Röhrenjeans und Lederjacken die Soundanlage. Sie zertrümmern Stuhlreihen, schießen Scheinwerfer mit Flaschen aus, feuern Schreckschusspistolen ab – und zerstören damit auch die eigentliche Botschaft des Abends: dass eine rhythmushungrige Nachkriegsjugend die Wohlstandsgläubigkeit und die Häuslichkeit der Adenauer-Jahre am liebsten wegtanzen möchte. Rund um die Uhr.
Bill Haley und seine Begleitband, die Comets, flüchten nach ihrem gelenkigen Kurzauftritt von der Bühne, als die Polizei knüppelschwingend in das Tohuwabohu im Sportpalast rauscht. Zum Abendausklang steht „alles am Schlagzeug“, schreibt der Kritiker des Tagesspiegel süffisant. Wenigstens der hanseatische Tour-Veranstalter Kurt Collien hat die Schockwellen auf dem Parkett vorausgeahnt und erstmals eine Versicherung gegen mutwillige Zerstörung abgeschlossen. Weil der Schaden im Sportpalast mit 50 000 Mark fast doppelt so hoch ausfällt wie die Versicherungssumme, bläst Collien die große Markteinführung des Rock ’n’ Roll in Deutschland erst einmal ab: Die geplante Tour von Elvis, der zu Monatsbeginn als G. I. ins hessische Friedberg versetzt worden ist, wird ausgesetzt. Den Geist zurück in die Flasche zwängen kann jedoch auch Collien nicht. Der Rock ’n’ Roll erfasst Deutschland mit voller Wucht. Vier Jahre nach den USA.
Die Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik reagiert nach dem Konzert schwer gereizt. Sie hat längst genug von den Halbstarken-Krawallen, die deutsche Städte bereits seit 1956 überziehen. Schuld am Sittenverfall und der Raserei der proletarischen Jugend sind die Amerikaner: Ihr Kino mit James Dean und Marlon Brando, das Gewalt und Nihilismus frönt. Und der unerhörte Sound von Bill Haley. Die Presse schimpft ihn einen „Massenaufpeitscher“, seine Konzerte einen „Hexensabbat“. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ empfiehlt mit zweideutiger Ironie, gegen die „Tanzwut“ der Jugend die spätmittelalterlichen Methoden eines Paracelsus anzuwenden: Isolation, Güsse mit kaltem Wasser und Prügel. Und Haley, dieser gut genährte, nicht sonderlich attraktive Onkel mit der schmalzigen Stirnlocke, der den Berlinern doch nur eine sagenhafte Weltneuheit vorbeibringen wollte, sagt der „B.Z.“ schockiert: „Was hier passierte, ist eine Schande.“
Welche Entfesselungskräfte in seiner Musik schlummern, kann Bill Haley nicht ahnen, als er „Rock Around The Clock“ am 20. Mai 1954 veröffentlicht. Sonst hätte er das zwei Minuten und acht Sekunden lange Stück, mit über 200 Millionen verkauften Einheiten einschließlich aller Cover-Versionen der bis heute meistverkaufte Rock-Song aller Zeiten, nicht zunächst auf der B-Seite einer Vinyl-Single versteckt. In der ewig umzankten Geschichtsschreibung des Pop gilt „Rock Around The Clock“ als der Song, mit dem alles begann: The record that started the revolution. Nur ist es eine Revolution, die zunächst Ladehemmung hat.
Bill Haley, 1925 in einem Kaff in Michigan als Sohn eines Textilarbeiters geboren, ist im Mai 1954 bereits ein Emporkömmling. Nach umtriebigen Anfangsjahren als Diskjockey, Meisterjodler und Western-Musiker beginnt er Ende der 40er-Jahre die Rassentrennung, die der Oberste Gerichtshof an Schulen 1954 für verfassungswidrig erklärt, auch im Kleinformat eines Songs zu überwinden. Weiße Country-Melodien reichert er mit der Explosivität des afroamerikanischen Rhythm and Blues und Bebop-Jazz an. Er verknüpft und dramatisiert den Sound von Hank Williams und Louis Jordan.
Haley, der als Kind auf dem linken Auge erblindet, erkennt als einer der Ersten: Aus Rhythmus, Tempo und Wiederholung wird sie einmal bestehen, die Weltformel der Pop-Musik. Nicht als Charismatiker wie Elvis oder Jagger, nicht als großer Songschreiber wie Lennon oder Dylan, nein, als Chefchemiker des Rock ’n’ Roll wird Bill Haley in die Geschichte eingehen. Denn die Jugend identifiziert sich zwar mit seiner Musik, aber nicht mit ihm selbst.
1952 schreibt Haley für „Rock-A-Beatin’ Boogie“ die Song-Zeile: „Rock, rock, rock everybody, roll, roll, roll everybody“. Im prüden Amerika der McCarthy-Ära ist rock and roll ein Euphemismus für Sex. Der populäre Diskjockey Alan Freed macht daraus bei seinem Radiosender in Cleveland einen Markennamen, mit dem sich der neue Sound wie ein Lauffeuer verbreiten lässt.
Nach kleineren Hits wie „Rock The Joint“, das 1952 bereits wie die Rockabilly-Blaupause von „Rock Around The Clock“ klingt, und „Crazy Man Crazy“ wechselt Haley 1954 zu Decca Records. Die Plattenfirma erlangt noch zweifelhafte Berühmtheit, weil sie sich acht Jahre später dagegen entscheidet, die Beatles zu verpflichten. Am 12. April 1954 betreten Bill Haley und seine Comets das Studio „Pythian Temple“ in New York, um die zwei Songs der ersten Single für Decca aufzunehmen: „Thirteen Women“ und „Rock Around The Clock“. Auf Platz eins der deutschen Charts stehen zur gleichen Zeit „Zehn Whiskys und ein Soda“ mit ihrem Hit „Wir, wir, wir haben ein Klavier“.
Die Musikindustrie steckt 1954 inmitten eines umfassenden Strukturwandels. Er wird das Geschäft mit Musik, das in jenen Tagen endgültig zu einem Handel mit Objekten des Begehrens, der Frustration und der Träume junger Menschen wird, fast ein halbes Jahrhundert prägen. Erst dann ändert das Internet die Spielregeln erneut.
Bis in die 50er Jahre dauert die goldene Ära des Rundfunks. In Tonstudios wird von den Musikverlagen damals nur aufgenommen, was zuvor in Radio oder Kino erfolgreich ist. Als Bill Haley den Rock ’n’ Roll erfindet, kommen mehrere nützliche Faktoren für eine Revolution zusammen: Ein neuer Musikstil, der durch die Serienreife des Magnetofons und der Vinyl-Schallplatte auch von kleinen Labels günstig aufgenommen und vertrieben werden kann. Die großen Musikverlage sind entmachtet, es entsteht ein harter Wettbewerb um den nächsten Hit.
Auf Abnehmerseite wiederum ist eine vermögende Mittelschicht entstanden, die für die Verlockungen einer schönen neuen Warenwelt empfänglich ist.
Eine Musikveröffentlichung ist damals arbeitsteilig organisiert: Komponisten, Produzenten, Plattenbosse sowie Musiker und ihr Management feilschen um den Ton einer Aufnahme. So kommt es, dass „Rock Around The Clock“ zunächst herumgereicht wird wie heiße Ware. Haleys alte Plattenfirma Essex lehnt eine Studioaufname des Songs, dessen Autorenschaft zwischen den Komponisten Max Freedman und James Myers nicht eindeutig geklärt ist, wiederholt ab. Haleys Manager Jack Howard reicht das Stück schließlich an den Entertainer Sonny Dae weiter, dessen Interpretation es im März 1954 nicht zu einem Hit schafft. Haley hat „Rock Around The Clock“ damit noch nicht aufgegeben, bei Konzerten gehört es zum festen Repertoire der Band. Mit dem Wechsel zu Decca soll ein neuer Anlauf mit „Rock Around The Clock“ genommen werden.
Der Aufnahmetag jedoch droht für Bill Haley zu einem Fiasko zu werden. Erst hängt die Band auf der Fähre nach New Jersey fest, die auf einer Sandbank im Delaware-Fluss stecken bleibt. Haley & His Comets kommen zwei Stunden zu spät ins Studio. Dort hält sich Produzent Milt Gabler lange mit der Aufnahme von „Thirteen Women“ auf, weil er glaubt, mit dem Song die weiße Zielgruppe des Labels besser erreichen zu können. Für „Rock Around The Clock“ bleiben schließlich 40 Minuten.
Es gehört zu den schöneren Mythen, dass Kunst aus Mangel entsteht. Beim berühmtesten Rock ’n’ Roll-Stück aller Zeiten ist es Zeitmangel. Bill Haley & His Comets sind übermüdet und ausgehungert, als sie den Song im Pythian Temple auf die Schnelle aufnehmen sollen. Studio-Gitarrist Danny Cedrone wird angehalten, das markante, Jazz-inspirierte Solo zu wiederholen, dass er bereits zwei Jahre zuvor bei „Rock The Joint“ gespielt hat. Für seine Beteiligung an einem Welthit bekommt Cedrone 21 Dollar.
Gleichwohl ist Haleys Version von „Rock Around The Clock“ kein Zufallsprodukt. Mit seiner Band hat er sich vorab darauf verständigt, dem raffinierten Song durch ein Stakkato-Gitarrenriff, das Metal-Bands ähnlich einsetzen, dem trötenden Saxofon und einem atemlosen Gesang zusätzliche Rasanz zu verleihen. Hört man „Rock Around The Clock“ freilich mit Ohren, die um den bellenden Lärm von Punk und den Wumms von Techno wissen, mutet es wie ein zahmes Liedchen für den Tanztee an. Für damalige Verhältnisse ist das Lied eine Dampfwalze. Seine Anziehungskraft bezieht es vor allem auch aus den einprägsamen Song-Zeilen, die ein Leben im Hier und Jetzt einfordern und damit den Konflikt mit der Elterngeneration geradezu heraufbeschwören.
Als die Single „Thirteen Women“ am 20. Mai 1954 in den Plattenläden steht, passiert: nichts. Kein Wunder, schließlich ist das Stück ziemlicher Quatsch. Der Text, eine Traumfantasie: Nach Abwurf einer Atombome „kümmert“ sich der letzte Mann auf Erden um 13 Frauen gleichzeitig. Die Musik: ein hampeliger Blues. Nach einer Woche verschwindet die Single aus den Charts. „Rock Around The Clock“ wird überhört, weil B-Seiten nie im Radio laufen. Die Plattenfirma Decca ist von den Verkaufszahlen der Single enttäuscht. Auch Filmstudios winken in der Folge ab, als sie den Song angeboten bekommen. Es braucht einen elfjährigen Jungen in Beverly Hills, damit „Rock Around The Clock“ doch noch ein Hit wird.
Es ist ein zentraler Gedanke in „Über Pop-Musik“, der 500-seitigen Grundsatzschrift des Pop-Theoretikers Diedrich Diedrichsen, die im März diesen Jahres erschienen ist: Nicht die Band entscheidet mit ihrem Sound allein, was Pop-Musik ist – und auch nicht eine kapitalistische Kulturindustrie mit ihren Vermarktungsstrategien. Pop-Musik, und damit auch der Rock ’n’ Roll als seine früheste Form, wird für Diederichsen erst lebendig, wenn der Hörer mit einem Musikstück persönliche Zusammenhänge herstellt. Wenn ein Mädchen wissen muss, wie die Musiker aussehen, die im Radio zu hören sind. Oder wenn ein Teenager eine B-Seite zu einer existenziellen Angelegenheit erklärt, indem er sie täglich 50 Mal am Stück hört, ohne ihrer überdrüssig zu werden.
Peter Ford, Sohn der Schauspieler Glenn Ford und Eleanor Powell, ist dieser Teenager. Ein neugieriger Junge, der sich zu Hause im Musikzimmer durch die Plattensammlung der Eltern hört und Bill Haley & His Comets vergöttert. Als Glenn Ford den Regisseur Richard Brooks im Herbst 1954 zu sich nach Hause einlädt, um über das laufende Filmprojekt „Blackboard Jungle“ zu sprechen, hören sie sich Peters Platten an und entdecken „Rock Around The Clock“. Brooks wird sich am Ende des Abends die Single ausleihen. Er ist ein unkonventioneller Filmemacher, der sich an harte, realistische Stoffe herantraut. In „Blackboard Jungle“ erzählt er die Geschichte eines Lehrers, gespielt von Glenn Ford, der sich in einer New Yorker Schule gegen eine rebellische Gang behaupten muss.
Als „Blackboard Jungle“ – hierzulande heißt der Film „Saat der Gewalt“ – im März 1955 in die Kinos kommt, läuft im Vorspann und der Eröffnungsszene „Rock Around The Clock“. Zwei Monate später steht der Song an der Spitze der US-Charts, in Deutschland klettert er im Januar 1956 auf Platz eins. Es ist der eigentliche Initiationsmoment des Rock ’n Roll, weil der neue Sound zum erlebbaren, popkulturellen Zeichensystem wird, mit dem sich die Jugend bis zur Schmerzensgrenze identifiziert. Hollywood reagiert auf den Erfolg von „Rock Around The Clock“ prompt und dreht mit Bill Haley „Außer Rand und Band“, den sich sogar die Queen in ihrem Privatkino vorführen lässt. Der wilde Rock ’n’ Roll-Film gilt als Katalysator für die deutschen Jugendkrawalle, die durch den Kinofilm „Die Halbstarken“ mit dem jungen Neuköllner Schauspieler Horst Buchholz noch mehr befeuert werden. Tatsächlich geht in jenen Tagen mit der Geburt des Rock ’n’ Roll der Weltanschauungs- und Erziehungsanspruch der Weimarer Republik zu Ende, der ein Jahrzehnt später in die 68er-Bewegung münden wird.
Auch Bill Haleys Weltruhm verblasst. Als er im Oktober 1958 im Berliner Sportpalast von der Bühne gejagt wird, ist er längst durch den legendären Fernsehauftritt von Elvis Presley in der Ed-Sullivan-Show vom Thron gestoßen worden. Denn dessen Augenaufschlag und Hüftschwung beherrscht Haley nicht. Was bleibt von Haley, der bis 1980 mit Erfolg Platten veröffentlicht und tourt, ehe er 1981 an den Folgen eines Gehirntumors stirbt? Seine Musik, der Rock ’n’ Roll, ist in den letzten 60 Jahren zigfach für tot erklärt worden – und lebt doch weiter. Als Leitmotiv für das Wochenende ist und bleibt sein Song „Rock Around The Clock“ für die Ewigkeit.
Christoph Dorner
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität