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"Selma", in dem David Oyelowo den Bürgerrechtler Martin Luther spielt, hat Chancen auf den Oscar für den besten Film.
© Atsushi Nishijima/Studiocanal

Was den Kinofilm "Selma" mit Ferguson verbindet: Zeit und Traum

Polizei gegen Bürger, Weiß gegen Schwarz: Der Film „Selma“ erzählt von Martin Luther King und dem Jahr 1965. Als Mychal Denzel Smith im Kino saß, musste er weinen. Denn er fragte sich: Was hat sich eigentlich verändert?

Anfang Januar sitzt Mychal Denzel Smith im Kino und weint. Er ist alleine gekommen. Er hat zwar vier Tickets gekauft, aber nur, um den Film symbolisch zu unterstützen. Der 28-jährige Journalist will an diesem Abend keine Begleitung. Er will mit den bedrückenden Bildern alleine sein, die er auf der Leinwand sieht.

Dort könnten die Fronten ungleicher nicht sein: Auf der einen Seite die Polizisten. Sie tragen Gasmasken unter den Schutzhelmen, halten ihre Schlagstöcke in beiden Händen, tippeln auf der Stelle. Alle sind weiß. Auf der anderen Seite die Demonstranten. Sie tragen vornehme Anzüge und Mäntel, stehen ruhig in einer Reihe, kein Ton, keine Bewegung. Alle schwarz. Die beiden Lager trennen rund 30 Meter, als die Polizisten plötzlich losmarschieren, mit Kugeln in die Luft und mit Tränengas in die Gesichter der Protestler schießen. Beamte auf Pferden jagen hinterher. Selbst Frauen, die am Boden liegen, werden bewusstlos geprügelt.

So geschah es am 7. März 1965 in der Stadt Selma, so zeigt es der gleichnamige Film, der an diesem Donnerstag auch in die deutschen Kinos kommt. In wenigen Tagen werden sich die brutalen Szenen auf der Edmund Pettus Bridge im US-Staat Alabama, die einer der gefühlten Höhepunkte der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King waren, zum 50. Mal jähren.

Doch im Kino weint Smith gar nicht so sehr über das, was er gerade auf der Leinwand sieht, sondern mehr über das, was gerade in Amerika passiert.

Nur ein paar Monate liegt es zurück, da sah Amerika ähnliche Bilder wie die aus Selma im Fernsehen. Im August 2014 war der schwarze, unbewaffnete Teenager Michael Brown in Ferguson im Staat Missouri von einem weißen Polizisten erschossen worden. Im ganzen Land wird seither demonstriert. Die Lage eskalierte im November, als bekannt gegeben wurde, dass der Todesschütze, Darren Wilson, nicht angeklagt wird. Hunderte Demonstranten lieferten sich danach Straßenschlachten mit der Polizei.

Die USA scheinen unvereinigt wie lange nicht

Auch ein halbes Jahrhundert nach Selma gehen in den USA immer noch Massen auf die Straße, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren. Wieder stehen sich Schwarze und Weiße gegenüber. Die Vereinigten Staaten scheinen so unvereinigt wie lange nicht und es stellt sich die Frage, was verkehrt läuft in diesem Land?

Zwei Wochen nach seinem Kinobesuch sitzt Mychal Denzel Smith in einem Café in Brooklyn. Er trägt T-Shirt, obwohl draußen Minusgrade sind. Auf dem linken Oberarm hat er den Kopf Gil Scott-Herons tätowiert. Der im Jahr 2011 verstorbene Funk-Sänger wurde mit seinen Texten über Diskriminierung und soziale Missstände zur Legende. „Er ist eines meiner Idole“, sagt Smith und fährt fort: „Seit es dieses Land gibt, also seit über 200 Jahren, führen Schwarze wie ich einen Kampf. Ein Kampf dafür, als gleichwertige Menschen wahrgenommen zu werden.“

Smith war im November selbst nach Ferguson gereist, sprach dort mit Aktivisten und Bewohnern, um sich ein eigenes Bild zu machen. „Mit all diesen frischen Eindrücken war es unglaublich emotional für mich, den Film zu schauen. Die Parallelen zwischen Selma und Ferguson sind erschreckend groß.“

Smith, der als Kolumnist für „The Nation“, die älteste Wochenzeitschrift der USA arbeitet, ist eine der Stimmen der aktuellen Protestbewegung. Der Politikwissenschaftler schreibt derzeit ein Buch über die schwarze Jugend unter US-Präsident Barack Obama. Er wurde kürzlich vom Online-Magazin „The Root“ zu den 100 einflussreichsten Afroamerikanern gewählt. In einer Reihe mit Musiker Pharrell Williams, „Selma“-Regisseurin Ava DuVernay, Basketballstar LeBron James und Buzzfeed-Chefredakteurin Shani Hilton. Und er tritt fast wöchentlich in Fernseh-Talkshows auf, um über die Missstände zu diskutieren. Zurzeit wird er vor allem zu „Selma“ befragt.

Gestern und Heute: Das Rassismusproblem in den USA

"Selma", in dem David Oyelowo den Bürgerrechtler Martin Luther spielt, hat Chancen auf den Oscar für den besten Film.
"Selma", in dem David Oyelowo den Bürgerrechtler Martin Luther spielt, hat Chancen auf den Oscar für den besten Film.
© Atsushi Nishijima/Studiocanal

Der Film, den Smith im ausverkauften Saal der Williamsburg Cinemas, einem der größten Kinos Brooklyns, anschaute, beginnt mit einem Knall. Vier Mädchen laufen die Treppe der 16th Street Baptist Church in Birmingham in Alabama herunter. Sie lachen. Sie quatschen. Dann reißt eine Bombe die Kinder in Stücke. Die Explosion wird in Zeitlupe gezeigt. Als Täter dieses Attentats im Jahr 1963 wurden Jahrzehnte später zwei Mitglieder des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan verurteilt. „Man wird in dieser Szene so hart und direkt mit der Gewalt konfrontiert. Und genau das ist es, was die Regisseurin erreichen will“, sagt Smith.

Eben jene Baptistenkirche in Birmingham war Anfang der 1960er ein Treffpunkt zahlreicher schwarzer Bürgerrechtler. So auch für Martin Luther King, der nur zwei Wochen vor dem besagten Anschlag seine legendäre „I have a dream“-Rede in Washington D.C. hielt. Im Film spricht der Hauptdarsteller David Oyelowo allerdings nicht mit Luther Kings, sondern leicht abgewandelten Worten. Die Rechte an dessen Reden liegen bei den Erben, die die Lizenzen zum Teil weiterverkauft haben.

Nicht nur der Journalist Mychal Denzel Smith fühlte sich derzeit an die Zeit von Martin Luther King erinnert.
Nicht nur der Journalist Mychal Denzel Smith fühlte sich derzeit an die Zeit von Martin Luther King erinnert.
© Lukas Hermsmeier

Einer der interessantesten Handlungsstränge des Films, findet Smith, ist das Verhältnis zwischen King und Präsident Lyndon B. Johnson. Sie treffen sich im Oval Office des Weißen Hauses und diskutieren immer wieder eine Frage, die aus heutiger Sicht so absonderlich klingt: Sollten Schwarze wählen dürfen? „Das braucht Zeit“, sagt Johnson zögerlich. „Wir haben keine Zeit“, sagt King und mobilisiert. Nach langem Kampf unterzeichnet der Präsident schließlich im August 1965 ein neues Wahlrechtsgesetz, das die diskriminierenden Schreib-, Lese- und Wissenstests verbietet, mit denen so viele Schwarze von der Wahl ausgeschlossen wurden.

Doch während der Film ein Happy End habe, gehe im wahren Leben die Diskriminierung weiter. „Uns wird immer erzählt, dass dieses Land so weit gekommen ist“, sagt Smith. „Aber wie weit eigentlich, wenn wir die gleichen Bilder 50 Jahre danach sehen?“

Die Südstaaten können Wahlgesetze eigenständig ändern

Im Juni 2013 kippte der Oberste Gerichtshof einen wesentlichen Bestandteil des Gesetzes von 1965. Die Südstaaten sind seither nicht mehr verpflichtet, vor jeder Änderung ihres Wahlgesetzes die Zustimmung des Justizministeriums in Washington einzuholen. Damit wurde das juristische Vermächtnis der damaligen Bürgerrechtsbewegung kassiert. Obama kritisierte die Entscheidung. Tatsächlich glich das Urteil einer Einladung zu Alleingängen.

Texas zum Beispiel kündigte umgehend an, sein Wahlgesetz umzuschreiben. Hier konnte man sich schon bei der Präsidentschaftswahl 2012 mit einem Waffenschein identifizieren – ein Studentenausweis dagegen zählte nicht. Vor allem die republikanisch regierten Bundesstaaten erlassen immer wieder Gesetze, die den Eintrag ins Wahlregister erschweren. So dürfen Bürger nur gegen Vorlage eines Ausweises mit Bild ihre Stimme abgeben. Was das mit Rassismus zu tun hat? Unter Schwarzen sind diese Dokumente weniger verbreitet, sagt Smith.

„Es gibt zahlreiche Belege aus den letzten Jahren, die zeigen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen in den USA von der Wahl abgehalten werden“, sagte auch Iwan Morgan, Professor für US-Studien am University College London. So wurden vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000, die George W. Bush knapp und umstritten gegen Al Gore gewann, in Florida tausende Bürger aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Die meisten von ihnen waren Afroamerikaner oder Latinos – und vorbestraft.

2,3 Millionen Häftlinge gibt es in den USA

„Das größte Problem ist das Justiz- und Polizeisystem. Hier zeigt sich der institutionalisierte Rassismus“, sagt Smith, der so schnell redet, dass sich seine Worte manchmal überschlagen. Im „Land of the Free“ sitzen derzeit rund 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis – 0,7 Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland sind es zirka 66 000 Insassen (0,1 Prozent). Doch Smith meint eine andere Statistik: Während rund 13 Prozent der Gesamtbevölkerung schwarz sind, sind rund 38 Prozent der Häftlinge schwarz. „Dieses Ungleichgewicht hat eine schwerwiegende Folge: Millionen Schwarzen wird ihr Wahlrecht genommen“, sagt Smith. Wie die Non-Profit-Organisation „Felon Voting“ auflistet, dürfen Gefängnisinsassen in nur zwei von 51 Bundesstaaten an Wahlen teilnehmen – in Vermont und Maine.

Schwarze, so wird gerne erwidert, sind krimineller und landen konsequenterweise häufiger im Gefängnis. Diese Rechnung trägt nicht nur zur Stigmatisierung bei, sie ist auch viel zu einfach. Studien belegen, dass Afroamerikaner deutlich häufiger von der Polizei angehalten werden und für die gleichen Verbrechen schärfer bestraft werden als Weiße. „Ja, auch die Mordrate bei Afroamerikanern ist höher“, sagt Smith, „aber die Frage ist hier doch auch: warum?“

Folgenreich. Nachdem Michael Brown in Ferguson erschossen worden war, kam es in vielen US-Städten zu Protesten.
Folgenreich. Nachdem Michael Brown in Ferguson erschossen worden war, kam es in vielen US-Städten zu Protesten.
© AFP

Wirtschaftlich und sozial stehen Schwarze auch 50 Jahre nach King wesentlicher schlechter da als der Durchschnitt. Der Zensus 2013 zeigte, dass mehr Schwarze keinen Schulabschluss haben und weniger als 15 000 US-Dollar pro Jahr verdienen als Weiße. „Außerdem haben sie häufiger keine Gesundheitsvorsorge. Und das alles sind Ursachen von Kriminalität“, sagt Smith.

Die Zeiten, in denen in Restaurants nur Weiße bedient wurden und Schwarze im Bus hinten sitzen mussten, sind vorbei. Das Land hat seit 2009 einen schwarzen Präsidenten. „Alleine diese Tatsache genügt vielen Weißen als Beweis, dass der Rassismus beendet ist“, sagt Smith. Er sei es aber nicht. In Selma war in den 1960ern über die Hälfte der Bevölkerung schwarz. Die Polizei wurde jedoch von Weißen dominiert. Auch in Ferguson sind derzeit rund 70 Prozent der Einwohner Afroamerikaner. Von 53 Polizisten sind aber nur drei schwarz.

Nominiert und nicht nominiert: Selma und die Oscars

Nur wenige Tage, nachdem Smith im November aus Ferguson nach New York zurückkehrt war, entschied ein Geschworenengericht, dass auch der Tod Eric Garners ohne juristische Konsequenzen bleibt. Der schwarze Zigarettenverkäufer war auf Staten Island, einem Stadtteil New Yorks, von einem weißen Polizisten zu Tode gewürgt worden. Ein Handyvideo zeigt die unverhältnismäßige Gewalt gegen den asthmakranken Familienvater. „Trotzdem kam der Polizist ohne Strafe davon. Was muss noch passieren?“, fragt Smith. Zehntausende Menschen demonstrierten daraufhin – diesmal in allen Großstädten des Landes. Auch Smith marschierte mit.

Das Magazin „The New Yorker“ spannte in seiner Ausgabe vor wenigen Wochen den großen Bogen. Mit einer Illustration auf der Titelseite, die Martin Luther King, Michael Brown und Eric Garner beim gemeinsamen Protest zeigt. Im „Selma“-Soundtrack „Glory“ singt John Legend: „Unser Sohn ist gestorben, sein Geist ist wieder bei uns. Darum laufen wir heute mit erhobenen Händen durch Ferguson.“ Doch der Protest sei schwieriger, komplexer geworden, sagt Smith: „1965 war die Diskriminierung offensichtlicher. Und das Ziel der Demonstrationen einfacher zu formulieren.“

Der Rassismus steckt in den Köpfen

Was damals und heute eint: Der Rassismus steckt in den Köpfen. Bei einer Umfrage Ende vergangenen Jahres glaubten vier von fünf Schwarzen, dass der Todesfall Brown mit der Hautfarbe des Opfers zu tun habe. Nur 37 Prozent der weißen Befragten stimmten dieser Aussage zu.

Doch manche Menschen reden zurzeit lieber über die Rolle des damaligen Präsidenten: Lyndon B. Johnson werde in dem Film zu aktivistenfeindlich dargestellt, lautet die Kritik. „Es ist offenbar einigen Leuten ein Dorn im Auge, dass der Held schwarz ist – und nicht weiß“, glaubt Smith. Angestoßen wurde die Diskussion von Mark Updegrove, dem Direktor der Lyndon B. Johnson Library. Einige Historiker und Politiker schlossen sich seiner Meinung an und konzentrierten sich auf den Aspekt der Geschichtsfälschung. „Verdrängung der wirklichen Probleme ist auch Rassismus“, kommentiert Smith das.

Bei den Oscars, die am 22. Februar verliehen werden, ist „Selma“ zwei Mal nominiert: Für den besten Film und für den besten Titelsong. Hauptdarsteller David Oyelowo bekam keine Nominierung, was zum Teil harsch kritisiert wurde. Auch die Regisseurin wurde nicht nominiert. „Ich verstehe nicht, warum sie übergangen wurde“, sagt Smith. Regisseurin Ava DuVernay sei ein großartiger Film gelungen. „Sie hätte es handwerklich verdient. Und es wäre so ein starkes Zeichen gewesen.“ Du Vernay wäre die erste schwarze Regisseurin, der diese Ehre in der inzwischen 86-jährigen Oscar-Geschichte zuteil geworden wäre.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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