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Das neue Kiki Blofeld in Oberschöneweide. Unter der Kranbahn 6.
© privat

Berlin: Mitte goes Oberschöneweide: Wo Kiki Blofeld auf Bryan Adams trifft

So viel Platz. Und Möglichkeiten. Als Gerke Freyschmidt seine Strandbar in Mitte schließen musste, entschied er: Hier versuche ich es noch mal. An der Peripherie. Nun hofft er wie so viele in Oberschöneweide, dass es richtig losgeht mit dem gebeutelten Stadtteil.

Einen Nazi gibt es hier noch. Mindestens einen. Er steht an der Wilhelminenhofstraße Ecke Edisonstraße auf dem Bürgersteig, direkt vor der Billardkneipe, die gleichzeitig ein Späti ist, wartet auf die Tram der Linie 67. Ist ganz in Schwarz gekleidet, trägt keine Glatze, dafür Ziegenbart. Ein Aufdruck auf der Pulloverrückseite zeigt die Silhouette eines Mannes, der seinem am Boden liegenden Opfer ins Gesicht tritt. Good night, left side, steht als Drohung darüber. Na also. So hat man sich das vorgestellt, in Oberschöneweide. Frage an den Nazi:

„Entschuldigung, können Sie sagen, wo es hier zum Kiki Blofeld geht?“

„Keene Ahnung“, sagt der, durchaus freundlich.

Ein paar hundert Meter die Straße runter weist eine Tafel den Weg. Rechts führt Asphalt über ein Stück Brache, unter einem stark verrosteten Krangerüst hindurch, Büsche auf beiden Seiten. An einer Hauswand steht in riesigen weißen Lettern ein Spruch des österreichischen Künstlers Leo Königsberg: „Gib der Kunst Raum, dann wird sich die Schönheit ihrer Seele in Freiheit entfalten.“ Weiter am Metallzaun entlang, und schließlich sieht man sie, die Strandbar, die Vorläufer einer neuen Zeit sein wird. Oder einfach wieder verschwindet.

Der Tisch stammt vom alten Standort in Mitte

Viele Gäste sind nicht da, jetzt, am frühen Abend. Ein Pärchen hockt am Lagerfeuer, ein paar andere sitzen um einen massiven Holztisch. Es ist derselbe, der früher in Mitte stand, auf dem alten Ufergelände an der Köpenicker Straße, dort, wo das Kiki Blofeld als entspannteste und verträumteste Strandbar Berlins gefeiert wurde. Bis sie vor drei Jahren schließen musste, weil Bagger kamen. Weil eine Baugruppe Fünfgeschosser ans Spreeufer setzen wollte und das Kiki Blofeld bloß Zwischennutzer mit jährlich kündbarem Mietvertrag war. Weil die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, der die Brache gehörte, an den Meistbietenden verkaufte.

Hinter der Theke lehnt jetzt ein sehr schlanker, hochgewachsener Mann mit Sonnenbrille. Das ist Gerke Freyschmidt. Er hat sich das alte Kiki Blofeld ausgedacht. Und entschieden, dass er es hier, in Oberschöneweide, noch einmal versuchen möchte.

Nach seiner Vertreibung aus Mitte hat er lange nach einem geeigneten Standort gesucht. Am liebsten wollte er im Zentrum bleiben, in einem der üblichen Szeneviertel, aber dort fand er keine bezahlbare Fläche. Die Politiker sagen, es gebe in Berlin noch immer genügend Brachen. Ruinen und Baulücken, in denen sich Kreative entfalten könnten, wenigstens als Zwischennutzer. Welche genau das sein sollen, habe ihm keiner verraten, sagt Freyschmidt. Also wich er in die Peripherie aus. Oder jedenfalls: in die gefühlte Peripherie.

Gerke Freyschmidt wohnt nicht hier, sondern in Friedrichshain. Jeden Tag fährt er mit der Tram her, „20 Minuten sind das nur“, sagt er, und dass dies vielen ja gar nicht bewusst sei: wie leicht Oberschöneweide erreichbar sei. Direkt am nördlichen Spreeufer gelegen, auf halbem Weg zwischen Alexanderplatz und Müggelsee, nur drei Bahn-Stationen von Neukölln entfernt.

Auf die Idee, es hier als Kreativpionier zu probieren, brachte ihn der Besuch bei einem alten Freund. Der restauriert in Oberschöneweide Boote. Sie haben gegrillt, und Freyschmidt war verblüfft. Das Spreeufer. Die leer stehenden Hallen. So viel Platz. So viele Möglichkeiten.

Bekannte haben sich gewundert: nach Oberschöneweide, das ist doch jetzt ein Witz, oder?

Die Löcher in den maroden Fabrikwänden haben sie mit Holz und Plastikplanen abgedichtet, auf den Hof lasterweise Sand gekippt. Zur Eröffnung Ende Mai kamen viele hundert Freunde und Bekannte, die meisten aus Kreuzberg oder den sonstigen Szenevierteln, auch Fans des alten Kiki Blofelds, die vom Neuanfang erfahren hatten. „War eine grandiose Party“, sagt Gerke Freyschmidt. Nicht ganz so grandios verliefen die Abende seither. An Wochenenden finden, über den Tag verteilt, vielleicht 200 Besucher zur Brachfläche. Im alten Kiki Blofeld waren es locker zehnmal so viele.

„Klar ist das hier ein Wagnis“, sagt Freyschmidt. Das Gelände hat er zunächst bis September gemietet, dann will er prüfen, ob es sich lohnt auszuharren. Ob wirklich passiert, worauf so viele warten: dass es jetzt unwiderruflich losgeht mit diesem arg gebeutelten Stadtteil.

Rund 25 000 Arbeitsplätze sind im einstigen Industriestandort Oberschöneweide nach der Wende verloren gegangen, letzter Tiefschlag war die Schließung der Samsung-Werke 2005. Seitdem wird immer wieder prophezeit, behauptet, gebetet, dass die stillgelegten Fabrikhallen irgendwann neue Menschen mit neuen Ideen anziehen. Dass Oberschöneweide vielleicht gar nächster Szenebezirk wird. Und dass damit eine substanzielle Entwicklung in Gang gesetzt wird. Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner hat den Mechanismus gerade präzise beschrieben: Künstler und Kreative siedeln sich in vernachlässigten Quartieren an, deren Wahrnehmung wandelt sich von „heruntergekommenen“ zu „besonderen Orten“. In-Viertel entstehen, in denen nun auch Einkommensstarke wohnen wollen, die wiederum ihre eigenen Geschäfte, Restaurants und Freizeitorte benötigen.

Statt Ai Weiwei kommt Bryan Adams nach Oberschöneweide

Die Rückseite der Reinbeckhallen.
Die Rückseite der Reinbeckhallen.
© Björn Kietzmann

Mitte der nuller Jahre waren die Hoffnungen in Oberschöneweide auf eine solche Entwicklung vergleichbar mit denen im nördlichen Neukölln. Bloß mit dem Unterschied, dass es dort dann tatsächlich eine nennenswerte Entwicklung gab. Oberschöneweide blieb nur der Anwärterstatus als das möglicherweise nächste große Ding. Das sagt man allerdings auch über Wedding und Moabit – und seit Neuestem über Lichtenberg.

Eigentlich sollte dort, wo jetzt Gerke Freyschmidt seine Strandbar aufgemacht hat, Ai Weiwei einziehen. Vor drei Jahren kursierte das Gerücht, der chinesische Künstlerstar und Regimekritiker wolle die vierschiffige Ruine erwerben und zu einem Atelier ausbauen, die Vertragsverhandlungen seien schon weit fortgeschritten, für den feierlichen Abschluss wollte Ai Weiwei eigens anreisen. Die Halle sollte eine moderne Außenverkleidung bekommen, ein paar Meter haben sie zu Testzwecken hingebaut, sie besteht aus orangefarbenen und gelben Klötzchen. Sogar eine Fußgängerbrücke über die Spree, als Anbindung zum südlich gelegenen Niederschöneweide und somit ans S-Bahn-Netz, wurde errichtet. Der Moment, in dem es unwiderruflich losgeht mit dem Boom, schien greifbar nahe.

Stattdessen wurde Ai Weiwei in Peking verhaftet und monatelang an einem unbekannten Ort festgehalten, anschließend unter Arrest gestellt. Der Aufschwung blieb aus. Die paar Meter fertiggestellte Außenverkleidung nutzt Freyschmidt heute als Überdachung für seine Bar.

Demnächst soll ein anderer Prominenter ins Nachbargebäude ziehen, diesmal aber wirklich. Der kanadische Rockschnulzensänger Bryan Adams, der auch fotografiert und auf dem Kunstmarkt hohe Preise erzielt, möchte ein Kulturzentrum für sich und Freunde errichten.

Der Mann, der Adams hergelockt hat, heißt Thomas Niemeyer. Er ist Leiter des Regionalmanagements Schöneweide.

Thomas Niemeyer wohnt auch nicht hier, sondern in Mitte.

Heute fährt er im schwarzen Audi vor, parkt auf dem Schotterplatz vor dem "Café Schöneweile“, einer ehemaligen Pförtnerloge des Industriegeländes, seit einem Jahr Wohlfühlcafé mit Blümchentapete und Espresso, wie man es sonst eher in Prenzlauer Berg erwartet. Nele Jonca, die Betreiberin, serviert auch vegane Powersnacks.

Nele Jonca wohnt nicht hier, sondern in Moabit.

Das könne sich jedoch bald ändern, sagt sie. Sobald sie sicher sei, dass ihre Geschäftsidee funktioniere.

Thomas Niemeyer bestellt Rote-Linsen-Kokos-Suppe. Er hat Mappen mitgebracht, in denen befinden sich Pläne und Grafiken, die zeigen, wie sich das Brachgelände entwickeln wird. Vieles ist noch nicht offiziell, aber drin herumblättern ist erlaubt. Die ehemaligen Reinbeckhallen, von denen das Kiki Blofeld jetzt nur einen winzigen Teil nutzt, sollen zu einem Künstlerzentrum mit 35 Ateliers ausgebaut werden, in der Mitte eine Veranstaltungshalle, die Platz für Ausstellungen oder Konzerte bietet. Das Gebäude nebenan soll fünf Großateliers beherbergen und außerdem eine schicke LED-Fassade bekommen. Im Innern kann sich jeder Künstler seine drei Etagen selbst gestalten, zum Beispiel mit einer geschwungenen Wendeltreppe aus Beton, das wäre dann wie im New Yorker Guggenheim-Museum, sagt Niemeyer.

Beim Rundgang über das Areal wird er später noch sagen, dass sich Oberschöneweide vermutlich zu einem der wichtigsten Kreativ- und Hightech-Standorte Berlins entwickeln werde. Niemeyer hat Erfahrung, in Berlin hat er das Meilenwerk und den Admiralspalast mitentwickelt. Man möchte ihm glauben.

Er war auch dabei, als sich Bryan Adams im vergangenen Frühsommer zum ersten Mal seine potenzielle Halle ansah. Mit dem iPhone hat er ein Bild gemacht, wie Adams vor der Hallentür mit ausgebreiteten Armen posiert. Der Sänger habe ziemlich überrascht gewirkt, wie verfallen das Gebäude von außen schien. „Ehrlich gesagt habe ich nicht gedacht, dass ich den hier je wiedersehen würde.“

Warum musste es eigentlich so lange dauern, bis sich hier was tut, Herr Niemeyer, warum hat sich so viele Jahre keiner für einen Standort direkt an der Spree interessiert?

„Das ist doch gar nicht der Fall“, antwortet Niemeyer. Interessenten habe es immer gegeben. Verantwortlich für den Stillstand seien eher die Besitzer der Grundstücke gewesen: „Die meisten würden aus Profitgründen gern Wohnungen hinsetzen, aber dies ist nun mal Gewerbefläche.“ Weil die Grundstücksbesitzer, darunter zwei irische Investorengruppen, lange hofften, das Bezirksamt mit genügend Widerwillen schon zum Einlenken zu bewegen, warteten sie ab, vergaben höchstens Mietverträge zur Zwischennutzung mit dreimonatiger Kündigungsfrist. Unter solchen Bedingungen investiert kaum einer, sagt Niemeyer. „Zum Glück haben wir jetzt einige Besitzer überzeugen können.“

In der ehemaligen Sparkasse hängt jetzt Kunst

Im September will der Betreiber des Kiki Blofelds entscheiden, ob es weitergeht.
Im September will der Betreiber des Kiki Blofelds entscheiden, ob es weitergeht.
© privat

Dass mit dem Bezirk nicht zu feilschen ist, bekam auch Bryan Adams zu spüren. Im September war er erneut in Berlin, in der Gallery Akira Ikeda in Prenzlauer Berg eröffnete er seine neueste Fotoausstellung. Auch die für ihre Resolutheit bekannte Leiterin des Stadtentwicklungsamts von Treptow-Köpenick war geladen. Mit erhobenem Zeigefinger redete sie auf Adams ein. Zeugen berichten, sie habe ihm deutlich gemacht, dass er auf dem Gelände in Oberschöneweide keinesfalls wohnen, nur arbeiten dürfe. Adams habe verstört dreingeschaut, heißt es. Auch dieses Erlebnis hat ihn nicht verschreckt.

Der Aufschwung im Viertel hat längst begonnen, sagt Thomas Niemeyer. Spätestens mit dem Zuzug der nahe gelegenen Hochschule für Technik und Wirtschaft mit ihren 8000 Studenten, von denen die meisten allerdings pendeln. Immerhin gibt es inzwischen ein Studentenwohnheim, zwei weitere werden folgen.

Auch in der Wilhelminenhofstraße, die das Brachgelände von den Wohnvierteln Oberschöneweides trennt, sind erste Spuren des Wandels sichtbar. Zwischen einer Fußballkneipe, einer Singlebar mit aufgeklebten Herzen an der Fensterfront und gleich drei Nagellackstudios haben erste Sofa-Cafés eröffnet. Die Nazis gibt es noch, aber sie werden weniger, wirken wie Fremdkörper, wie Angehörige einer aussterbenden Art, aus einer prähistorischen Zeit. In der alten Sparkasse, die jahrelang leer stand, brennt wieder Licht. Vor drei Wochen hat hier der „Schalterraum“ eröffnet, eine Galeriefläche des von der EU geförderten Projekts „Schöneweide Kreativ“. Die Leiterin heißt Marlene Lerch.

Marlene Lerch wohnt nicht hier, sondern in Friedrichshain.

Zum Start haben sie einen roten Teppich ausgerollt und alle ortsansässigen Künstler gebeten, eigene Werke vorbeizubringen. Die hängen jetzt in den Räumen der ehemaligen Sparkasse, ein paar sind schon verkauft. „Möglich, dass Oberschöneweide in Mitte noch als JWD gilt“, sagt Mareike Lemme, Lerchs Co-Leiterin. „Bald hoffentlich als sexy JWD.“

Mareike Lemme wohnt nicht hier, sondern in Prenzlauer Berg.

Der Wandel wird negative Seiten mit sich bringen, Künstler sind bekanntlich, auch das hat Tim Renner beschrieben, die ersten Gentrifizierer. Werden sich die beiden Frauen vom Schalterraum verantwortlich fühlen, wenn in zehn Jahren die erste Hartz-IV-Empfängerin in der Wilhelminenhofstraße zwangsgeräumt wird, weil sie sich die gestiegene Miete nicht leisten kann? Mareike Lemme sagt, Oberschöneweide werde sich so oder so entwickeln, das lasse sich nicht verhindern. „Hier hat man lange eine große Depression gespürt, und die endet jetzt.“ Das Beste sei, den Wandel mitzugestalten. Bewohner miteinzubinden. Ab Donnerstag kommender Woche veranstaltet „Schöneweide Kreativ“ ein Kunstfestival im Kiez. Dutzende Galerien und Ateliers werden öffnen, im Vorjahr kamen bereits tausende Berliner, diesmal soll es weit größer werden.

Wenn man Thomas Niemeyer, den Leiter des Regionalmanagements, fragt, wie riskant der Aufschwung im Viertel für die Alteingessenen ist, erzählt er von einem Abend im vergangenen Dezember. Niemeyer war zu einer Podiumsdiskussion geladen, Thema: „Gentrifizierung – wohin entwickelt sich Schöneweide?“. Zu Gast war auch der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm, der sich auskennt wie wahrscheinlich kein Zweiter mit den negativen Begleiterscheinungen der hiesigen Stadtentwicklung. Niemeyer hatte erwartet, dass es im Publikum womöglich Unmut geben würde, zumindest aber hitzige Wortgefechte. Doch nichts da, sagt er. Die Menschen wollten gar nicht über Gentrifizierung diskutieren. Die wollten wissen, wer genau die alten Hallen bezieht und zu neuem Leben erweckt, die Hallen, in denen sie vor 25 Jahren noch selbst gearbeitet haben. Vor allem wollten sie wissen, wann es endlich losgeht.

Sebastian Leber

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