An der Straße zur Macht: Wo die US-Wahl entschieden wird
Kaum ein Staat ist für die US-Wahl so wichtig wie Pennsylvania, Trump will ihn verteidigen. Biden wurde hier geboren, glaubwürdig macht ihn das nicht bei allen.
Barry Kinsey sitzt in einem Gartenstuhl und wiederholt seine Ansage, wie er es jeden Tag hunderte Male tut. „Wenn Sie ins Haus gehen, tragen Sie sich in das Gästebuch ein. Sie kriegen eine Kappe oder ein T-Shirt per Person“, betet er herunter. „Pro Haushalt gibt es ein Schild oder eine Flagge. Sie können einen Ansteck-Button bekommen, oder einen Aufkleber fürs Auto.“
Dann zeigt der ältere, etwas schwerfällige Mann auf den Tisch rechts neben dem Eingang des rot-weiß-blauen Hauses. „Hier können Sie sich registrieren. Wenn Sie Hilfe beim Wechsel Ihrer Partei brauchen, sagen Sie Bescheid. Bitte stellen Sie keine weiteren Fragen, weil wir hier 2500 Menschen am Tag sehen.“
Eine vier Meter hohe Pappfigur von Donald Trump
2500 Menschen werden es an diesem Freitag Mitte September wohl eher nicht: Gerade sind es rund zehn Leute, die in der Schlange stehen, vor allem Rentner kommen unter der Woche zu dem Holzhaus in Latrobe nicht weit von Pittsburgh, das in den Farben der US-amerikanischen Flagge angestrichen ist. Hinter dem Haus steht, gut sichtbar von der Straße, eine rund vier Meter hohe Pappfigur von US-Präsident Donald Trump.
Durch Pennsylvania, so heißt es, führen die Straßen zum Sieg. Wer diesen Staat gewinnt, gewinnt Wahlforschern zufolge auch mit übergroßer Wahrscheinlichkeit den Kampf ums Weiße Haus. Nach Pennsylvania fließt deshalb vor der Wahl am 3. November viel Geld der Kampagnen und Unterstützerorganisationen von Trump und seinem demokratischen Herausforderer, dem ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden.
In den vergangenen Tagen sind in Pennsylvania beispielsweise mehr als 100 Billboards entlang der großen Straßen aufgetaucht, bezahlt von der Anti-Trump-Organisation „Republican Voters Against Trump“. Eine dieser riesigen Anzeigetafeln am Highway nach Harrisburg zeigt einen Mann, Mark aus Chester, daneben steht: „Ich bin Republikaner. Ich bin Veteran. Ich wähle Biden.“ Auf einem anderen ist Amy aus Camp Hill zu sehen. Die blonde Frau sagt: „Ich bin Christin. Ich bin Republikanerin. Ich bin für Biden.“
„Das prägt das Land für Jahrzehnte“
Am „Stars and Stripes“-Haus in Latrobe hingegen treffen sich die ganz überzeugten Trump-Jünger, für sie ist es eine Art Wallfahrtsort. Sie sind Leslie Rossi dankbar, dass sie dieses Haus zur Verfügung stellt. Hier gibt es Devotionalien zum Mitnehmen, die Rossi aus eigener Tasche bezahlt und kostenlos zur Verfügung stellt. Man kann sich Fotos von Rossis Treffen mit dem Präsidenten im Weißen Haus anschauen, und sich – ganz wichtig – neu als Wähler der Republikanischen Partei registrieren, gerne auch, wenn man bislang Demokrat war.
Laut der Eigentümerin des Hauses – im normalen Leben Immobilienentwicklerin und Mutter von acht Kindern, in Wahlkampfzeiten Super-Trump-Fan – tun das derzeit auffällig viele. „Als ich das Trump-Haus 2016 erstmals öffnete, musste ich die Leute, die Hillary Clinton nicht mochten, überzeugen, für Trump zu stimmen“, sagt die schlanke, dunkelhaarige 49-Jährige, der man sofort abnimmt, dass sie Unentschlossene überzeugen kann. Sie lächelt viel, aber es ist kein weiches Lächeln. Leslie Rossi hat eine Mission, und es ist ihr bitterernst.
Ohne innezuhalten zählt sie auf, warum der Präsident an der Macht bleiben müsse und die Demokraten unwählbar seien. Sie macht das jeden Tag von elf Uhr morgens bis oft spät in die Nacht, „und das ohne Unterstützung der Partei“, wie sie sagt. Weil es so wichtig sei.
„Ich habe den Menschen erklärt, dass es bei der Wahl um unser Recht geht, eine Waffe zu tragen – die Demokraten sagen jeden Tag, dass sie sie uns wegnehmen wollen.“ Um Jobs, und darum, Abtreibungen zu verhindern oder um die Frage, wen Trump an den Supreme Court schicken würde. „Denn das prägt das Land für Jahrzehnte.“ Nicht jeder habe ihn ja auf Anhieb gemocht.
In Umfragen liegt Trump hinter Biden - noch
Das sei nun anders. „Ich muss ihn nicht mehr verkaufen. Die Menschen kommen, um sich ihr Schild, ihr T-Shirt, ihren Aufkleber abzuholen. Sie wissen, was der Präsident für unser Land getan hat. Und dass die Demokraten alles versucht haben, um ihn daran zu hindern, erfolgreich zu sein.“
Viele Menschen seien verärgert über die „lächerlichen“ Corona-Vorschriften, die der demokratische Gouverneur Tom Wolf verhängt habe, „obwohl es kaum Fälle in Pennsylvania gibt“, die Regelungen würden „uns unsere amerikanischen Rechte, unsere Freiheit“ wegnehmen. „Als Amerikanerin lehne ich es ab, eine Maske zu tragen, und mich kann auch keiner dazu zwingen.“ Diese verärgerten Menschen wollten nun keine Demokraten mehr sein. „Sie haben genug.“
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Rossis Heimatort Latrobe und das umliegende Westmoreland County waren vor vier Jahren für Trumps Wahlsieg in Pennsylvania entscheidend, für den Immobilienunternehmer sprachen sich hier doppelt so viele Wähler aus wie für die ehemalige First Lady und Außenministerin Clinton. Die Republikaner gewannen den 13-Millionen-Einwohner-Staat erstmals nach mehr als 25 Jahren. Im Durchschnitt der Umfragen bei der Wahlforscherseite RealClearPolitics liegt der Präsident derzeit in Pennsylvania allerdings vier Prozentpunkte hinter Biden.
Hier fließt das Geld hin
Trump will den Staat verteidigen, Biden will ihn für die Demokraten zurückgewinnen, deshalb fließt viel Geld nach Pennsylvania. Und nicht nur das: Auch die Kandidaten und ihre „Surrogates“, ihre Unterstützer, strömen in den Staat, der immerhin 20 der insgesamt 538 Stimmen für das „Electoral College“ liefert, jenes Gremium der aus den 50 Bundesstaaten entsandten Wahlleute, welches am Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember traditionell den Präsidenten wählt. Das sind doppelt so viele wie etwa Wisconsin, wie Pennsylvania ein umkämpfter „Swing State“, der mal demokratisch, mal republikanisch wählt. Beide gewann Trump 2016.
In diesem Jahr ist die Region um Scranton im Nordosten von Pennsylvania besonders umkämpft. Dem Wahlkampf kann man hier nicht entgehen. Scranton ist symbolisch schon alleine deshalb aufgeladen, weil Biden hier 1942 geboren wurde und die ersten zehn Jahre seines Lebens in der Stadt verbrachte.
In der Straße rund um sein ehemaliges Elternhaus haben die meisten Häuser Wahlkampf-Schilder im Vorgarten, viele für Biden, aber auch ein paar für Trump. Unentschlossen scheint hier kaum jemand zu sein. Immer wieder betont Biden, dass seine ersten Lebensjahre in der Arbeiterstadt Scranton ihn geprägt hätten. Wenn er hier auftritt, wie am Donnerstag vergangener Woche, spricht er davon, dass er „nach Hause“ komme. Nicht jeder nimmt ihm das ab.
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Im Park rund um die 1966 stillgelegte Kohlemine am Stadtrand von Scranton, die inzwischen ein – coronabedingt geschlossenes – Museum geworden ist, führt Rentner Guy Mercado seinen Pittbull spazieren. „Das ist doch fake“, sagt er, „Biden hat mit Scranton nichts zu tun.“ Dass der Demokrat sich für die Sorgen der kleinen Leute interessiere, nimmt er ihm nicht ab. Biden sei seit Jahrzehnten in der Politik und habe keine Ahnung von der Wirtschaft. Ganz anders als Trump, der kein Politiker, sondern ein Unternehmer sei. „Bis zu Corona hat sich die Wirtschaft sehr gut entwickelt, viele Jobs sind entstanden.“
Die Mauer zu Mexiko? Findet er gut
Mercado, der lange in einem Geschäft für Autoteile gearbeitet hat, wohnt inzwischen außerhalb von Scranton. In die Stadt geht er nur noch ungern, „zu viel Kriminalität“, wie er sagt, und das bezieht er er auch auf die Menschen anderer Hautfarbe, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dort angesiedelt haben. Dass Trump die Mauer zu Mexiko baue, findet er gut.
Scranton ist durch den Zuzug von Hispanics in der Tat diverser geworden, auch wenn die große Mehrheit der Einwohner immer noch weiß ist. Dass Biden allerdings einmal sagte, in seiner Kindheit habe es keine Schwarzen in der Stadt gegeben, ärgert Glynis Johns. Die 27-jährige Afroamerikanerin hat das Black Scranton Project gegründet, um zu zeigen, dass und wo es afroamerikanisches Leben in Scranton gegeben habe – „und das seit 200 Jahren“.
Trump lehnt sie ab, sie werde Biden wählen, aber sie ist keine glühende Anhängerin. „Er muss erst einmal zeigen, dass er auch wirklich etwas für unsere Communities macht.“
Bidens Pläne, den Wiederaufbau nach Corona mit Investitionen in grüne Technologien zu verbinden, begrüßt sie. „Ich will hier keinen Bergbau mehr sehen oder Fracking, wie Trump es will, sondern Solarenergie und Windkraft. Scranton hat viel Platz, um neu anzufangen. Und wir liegen strategisch gut zwischen mehreren großen Städten.“ Johns, die ein paar Jahre im zwei Autostunden entfernten New York gelebt hat, ist in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, weil sie daran glaubt, dass Scranton eine Zukunft hat.
Im Wahlkampf 2016 hatte Trump versprochen, „Blue Collar Jobs“ in die Region des „Rust Belt“ (Rostgürtel) im Nordosten des Landes zurückzubringen. Wie in Michigan, Ohio und anderen Staaten bekamen auch die Bewohner von Pennsylvania in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Folgen des Niedergangs der Schwerindustrie und der Abwanderung der Jobs in die billiger produzierenden Entwicklungsländer zu spüren. Während es Universitätsstädte wie Cincinatti (Ohio) oder Pittsburgh (Pennsylvania) aber schafften, neue Technologie- und Dienstleistungsunternehmen an sich zu ziehen, litten die ländlichen Regionen besonders stark.
Die Stadt schrammte nur knapp an der Insolvenz vorbei
In mittleren Kleinstädten wie der „Electric City“ Scranton, spürt man dieses Leiden. Als erste Stadt in den USA verfügte Scranton einst über eine elektrische Straßenbahn, heute fährt nur noch der Bus, und das auch eher nach dem Zufallsprinzip. Die Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen 70 Jahre halbiert, im letzten Jahrzehnt schrammte die Stadt knapp an der Insolvenz vorbei.
Am einst bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt für Kohletransporte rosten die Waggons vor sich hin. Große Parkhäuser dominieren die Innenstadt, die Einkaufs-Mall steht überwiegend leer, es gibt kaum Cafes. Und jetzt lähmt die Coronakrise das Innenstadtleben noch mehr. Die Arbeitslosigkeit im Lackawanna County, zu dem Scranton gehört, liegt derzeit bei mehr als 14 Prozent.
Eigentlich sind hier im Nordosten Pennsylvanias die Demokraten klar in der Mehrheit. Aber 2016 gewann Clinton Lackawanna County überraschend nur ganz knapp mit 3500 Stimmen – und verlor den Nachbarbezirk Luzerne, vor allem, weil die Vororte um die Stadt Wilkes-Barre mehrheitlich republikanisch wählten. Am Ende triumphierte Trump – und die Region steht seitdem für die „hidden voters“, jene Wähler, die vorher nicht sagen, wen sie wählen.
Aber dieser Wahlkampf ist ohnehin einzigartig. Biden und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris treten zwar inzwischen auch öffentlich auf. Aber nie vor großem Publikum. Massenaufläufe werden damit vermieden – aber eben auch Massenbegeisterung.
Sie machen Lärm und wirken extrem siegessicher
Trump dagegen führt schon längst wieder durchs Land und schreckt selbst vor Indoor-Rallyes nicht zurück, bei denen das Maskentragen lediglich empfohlen wird. Tritt Biden dann wie vor einer Woche bei einem CNN-„Town Hall“ in Scranton auf, säumen mehr protestierende Republikaner die Zufahrtsstraßen als Demokraten. Sie machen Lärm, schwenken Fahnen und wirken extrem siegessicher.
Bei dem Town-Hall-Meeting, bei dem ausgewählte Zuschauer wie bei einem Autokino aus ihren Wagen heraus zuschauten und nur kurz herauskamen, um ihre Fragen zu stellen, betont Biden wieder seine Herkunft aus Scranton. Hier in der Gegend werde man so erzogen, dass harte Arbeit etwas zähle, sagt er. Der Präsident denke dagegen nur an die Wall Street, das schnelle Geldverdienen. „In meiner Nachbarschaft in Scranton besitzen nicht viele Aktien“, sagt er.
Trump sagt dagegen, Biden habe Scranton und Pennsylvania „verlassen“, als es mit der Region in der Krise nach unten ging – Biden war als Junge mit seinen Eltern nach Delaware gezogen. Diesen Vorwurf machte der Präsident schon im August, als er sich ausgerechnet Scranton ausgesucht hatte, um Biden nur wenige Stunden vor dessen Nominierung auf dem Parteitag der Demokraten zu attackieren.
Immer wieder tritt er seitdem in Pennsylvania auf, und immer ist es voll, die Stimmung ist laut und derb. In der vergangenen Woche war er bei einem ABC News Town Hall in Philadelphia.
„Dann ziehen wir in den Krieg!“
Auch seine Familienmitglieder geben alles in diesem Staat. So tritt Donald Trump Junior („Don Jr.“), der älteste Sohn des Präsidenten, am Mittwoch vergangener Woche in einem Sportschützen-Club in der Nähe der Hauptstadt Harrisburg auf – in Jeans, mintgrünem Hemd und vor gut 100 Fans unter einem an den Seiten offenen Pavillon. Eingerahmt von Wildtierfiguren peitscht er die „Patrioten“ auf, die dabei helfen müssten, dass Pennsylvania und damit das ganze Land wieder an seinen Vater gehe – und nicht an die Demokraten und Biden, die Amerika „zerstören“ und den „Kommunismus“ einführen wollten.
Als Don Jr. die Menge auffordert, sich den Morgen nach der Wahlnacht vorzustellen, „und vielleicht gilt dann Joe Biden als Sieger“, ruft eine Frau laut: „Dann ziehen wir in den Krieg!“ Den Redner scheint das nicht zu stören, er grinst.
Vor dem Pavillon stehen ein paar der Pick-up-Trucks mit US-Flaggen und Trump-Fahnen, die derzeit vermehrt in vielen Staaten auftauchen, ganz besonders in umkämpften wie Pennsylvania.
Im „Keystone State“ kann man viel gewinnen – und viel verlieren. „Die Kandidaten wohnen quasi in Pennsylvania“, sagt der Politikwissenschaftler Terry Madonna vom Franklin and Marshall College in Lancaster am Telefon. Es könne gut sein, dass kein Staat häufiger besucht werde. Angesichts von Trumps lautem Werben sehe sich Biden mit der Kritik konfrontiert, dass sein Wahlkampf nicht sichtbarer sei. „Er führt aber eben in den landesweiten Umfragen und in den Battleground States, ohne viel Wahlkampf zu machen“, sagt Madonna.
Trump gewann hier 2016 nur knapp
Dass die Republikaner in Pennsylvania mobilisieren, darauf deuten auch Zahlen der Parteien hin. Demnach verzeichneten die Republikaner hier im August 165.000 mehr eingetragene Wähler als 2016. Die Demokraten verloren im gleichen Zeitraum netto 30.000 Wähler. Zwar haben sie immer noch 800.000 Wählerregistrierungen mehr. Aber das Rennen war schon 2016 knapp, Trump gewann mit gerademal 44.000 Stimmen.
Leslie Rossi ist sich sicher, dass nicht wenige dieser Stimmen auf ihre Überzeugungsarbeit zurückgehen. An ihrem Trump-Haus in Latrobe hebt ein Schild an der Tür auf die kulturellen Unterschiede in Amerika ab: „Achtung, Sie betreten Red-Neck-Land. Sie könnten auf amerikanische Flaggen, bewaffnete Bürger, Gebete und Country-Musik treffen. Sie bewegen sich auf eigene Gefahr weiter.“
Genau so sei es, sagt Leslie Rossi: „Wir praktizieren unsere Religion, lieben unsere Waffen, trinken Bier und hören Country-Musik. So machen wir das hier in der Gegend.“ Wem das nicht gefalle, der könne ja abhauen.