Hanau zwischen Schock, Trauer und Wut: „Wir dürfen nicht auf die Hetzer hereinfallen“
Die Menschen in Hanau können am Tag nach dem Anschlag an zwei Shisha-Bars nicht fassen, was geschehen ist. Aber sie hoffen, dass die Stadt jetzt zusammenhält.
Eigentlich wollte Suleiman Ahmad am Mittwochabend selbst ins „Midnight“. Eine Shisha rauchen, dann in die Spielothek nebenan zum Billardspielen. Der 33-Jährige sagt, er wisse selbst nicht, warum er sich dagegen entschied und doch direkt zum Billard ging. „Vielleicht war es Zufall, vielleicht war es Gott.“
Als dann die ersten Schüsse fallen, meint sein Nebenmann noch, da knalle sicher jemand mit Feuerwerk rum. Suleiman Ahmad geht auf die Straße, sieht mehrere Schwerverletzte. „Da stand auch ein Freund von mir. Ich fragte: Bruder, alles okay bei dir?“ Der Freund habe ihn angeguckt, als ob Ahmad eine unbekannte Sprache spreche. „Er wirkte traumatisiert.“
Ahmad sieht eine junge Frau aus dem „Midnight“ torkeln und hinfallen. Ein Mann erzählt ihm, der Täter habe dem Barbetreiber gezielt in den Kopf geschossen, aus der Nähe.
Am Donnerstagnachmittag zeigt Suleiman Ahmad einen verwackelten Kurzfilm auf seinem Handy, er hat ihn selbst gedreht. Menschen irren nach der Tat auf dem Bürgersteig vor dem „Midnight“ herum, die Polizei ist noch nicht da. Ahmad zeigt auch Fotos von Verletzten, etwa von einem 19-Jährigen, dem in die rechte Schulter geschossen wurde. Ein Verband liegt auf der Wunde, aber das Blut trieft durch. Kurz nachdem Ahmad diese Aufnahmen gemacht hat, schicken ihm Freunde Whatsapp-Nachrichten von weiter westlich. Die Freunde weinen. Sie waren am zweiten Tatort. Einer sagt: „Mein Onkel wurde gerade erschossen. Mein Onkel ist tot.“
Was am späten Mittwochabend im hessischen Hanau geschehen ist, die Menschen können es nicht begreifen. Eine Stadt ist geschockt.
Die Straße Heumarkt, drei kleine Hotels, eine Pizzeria, ein Sportwettbüro, zwei kleine Bars. Mittwochabend läuft in den Gaststätten die Champions-League-Übertragung, in den Bars ist Erzählungen nach dagegen verhältnismäßig wenig los. Einem Augenzeugen zufolge betritt der Täter Tobias Rathjen die Bar „Midnight“ zwischen 22 Uhr und 22.30 Uhr und fragt nach dem Besitzer. Er schießt ihm in den Kopf und tötet einen zweiten Anwesenden. Anschließend erschießt er wenige Meter weiter einen Betreiber der „Café-Bar La Votre“ – und draußen auf der Straße einen Jugendlichen. Als die Polizei Minuten später eintrifft, hat er sich mit seinem Auto Richtung Westen entfernt.
Zweieinhalb Kilometer weiter beginnt der Stadtteil Kesselstadt, in dem Tobias Rathjen selber wohnt. Anwohner beschreiben die Gegend als ruhig, in den Wohnblocks leben viele Einwanderer, vornehmlich aus Afrika und dem Nahen Osten. Die „Arena-Bar“ am Kurt-Schumacher-Platz soll ein beliebter Treffpunkt für Menschen mit Migrationshintergrund sein. Tobias Rathjen stellt seinen Wagen neben einer nahegelegenen Lidl-Filiale ab, betritt das Lokal und eröffnet das Feuer. Fünf Menschen sterben, mindestens ein weiterer Gast wird lebensgefährlich verletzt.
Suleiman Ahmad, seit sieben Jahren in Kesselstadt zu Hause, kennt Rathjen vom Sehen. Nie habe der sich rassistisch verhalten. Ahmad geht davon aus, dass der Täter viele seiner Opfer persönlich kannte, wenn nicht alle. „Auch ich kenne hier jeden.“ Eines der Opfer lebte 500 Meter von der Wohnung des Täters entfernt. Sich das „Midnight“ auszuwählen, sei auf keinen Fall Zufall gewesen, meint Ahmad: „Der wusste genau, wo er die Ausländer finden würde.“
Nachdem Tobias Rathjen neun Menschen ermordet hat, fährt er nach Hause. Er wohnt mit seiner 72-jährigen, bettlägerigen Mutter zusammen. Rathjen tötet sie – dann sich selbst. Die Polizei findet die Leichen, als ein Sondereinsatzkommando die Wohnung wohl gegen drei Uhr stürmt. Bei Rathjen wird die Tatwaffe gefunden, als Sportschütze hat er sie legal besessen.
In einer Unterführung unweit entfernt ist am Donnerstag eine Webadresse mit schwarzer Farbe an die Wand gesprüht. Es ist die inzwischen abgeschaltete Seite des Täters. Hat Rathjen selbst sie dorthin geschrieben? Einige Tage vor seiner Tat hat er Videos und ein Bekennerschreiben ins Internet gestellt.
Erst wenige Tage her ist es auch, dass Deniz Özicel mit Mitstreitern ihres Vereins beim Stammtisch saß. „Wir sprachen über die Anschläge der vergangenen Monate, lange auch über Halle. Ich weiß noch, wie ich sagte: In Hanau wird so etwas niemals passieren.“ Weil ihre Stadt einfach zu bunt sei, die Vielfalt zu gut funktioniere. „Jetzt muss ich mir eingestehen, dass ich sehr naiv war.“ Deniz Özicel ist Vorsitzende von „Culture2Culture“, einem Kulturverein, der zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund vermitteln will. Sie ist auch Sprecherin der Türkischen Gemeinde für Hanau.
Sie fühle sich sehr wohl in der Stadt, sagt sie am Telefon. Gelegentlich habe sie ein „Ach, Sie sprechen aber gut Deutsch“ gehört, in letzter Zeit auch mal „Geht doch alle wieder da hin, wo ihr herkommt“, wenn sie ungeschickt eingeparkt habe.
Für viele Migranten in der Stadt, fürchtet sie, werde die Tat einen massiven Einschnitt bedeuten. „Die älteren werden womöglich Angst haben, auf die Straße zu gehen, am öffentlichen Leben teilzunehmen.“ Bei den jüngeren Migranten vermutet sie einen gegenteiligen Effekt: „Dass sie trotzig sind.“ Sie fürchtet, dass dieses Gefühl umschlägt. In Wut auf Nicht-Migranten. „Das wäre eine Katastrophe. Wir müssen zusammenhalten, dürfen nicht auf die Hetzer hereinfallen.“
„Wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte“, sagt Suleiman Ahmad, „dann den, dass wir uns nicht spalten lassen.“ Dass die Angehörigen der Opfer nicht mit Unvernunft reagieren. Ein Freund von Ahmad hat bei der Bluttat seine Schwester verloren. Sie war 35 Jahre alt, kellnerte in der „Arena-Bar“. Berichten zufolge versuchen ihre Angehörigen am Donnerstag vergeblich, durch die Polizeiabsperrung zu kommen. „Ich weiß nicht, wie ich in seiner Situation reagieren würde“, sagt Ahmad. „Ich hoffe, ich könnte nicht hassen.“
Mit Ausnahme der Mutter des Täters, heißt es am Donnerstag, hatten alle Opfer Migrationshintergrund. Ihre Familien kamen aus Bosnien, der Türkei, die 35-jährige Schwester von Ahmads Freund aus Rumänien. Noch in der Nacht versammeln sich viele Menschen am Kurt-Schumacher-Platz. Einige sind durch die Schüsse aufmerksam geworden, andere vom Hubschrauber geweckt. Am Donnerstag legen die Hanauer Blumen nieder.
Den für Sonntag geplanten Faschingsumzug sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky ab. Dies seien die „bittersten, traurigsten Stunden, die diese Stadt in Friedenszeiten jemals erlebt hat“. „Wir drücken hiermit den Hinterbliebenen der Opfer unser tiefstes Mitgefühl aus!“ postet der Verein „Hanauer Carnevalszug“ dazu das Foto einer Kerze vor schwarzem Hintergrund.
Im Stadtteil Kesselstadt bleiben eine nahe gelegene Schule und zwei Kindergärten am Donnerstag geschlossen. auch am Freitag sollen sie noch nicht wieder öffnen, informiert die Stadt auf ihrer Webswite.
Am Abend strömen die Hanauer in die Innenstadt auf den Marktplatz. Es sind mehrere Tausend, der Platz ist bald so überfüllt, dass die Menschen sich noch ganz am Rand hinter dem Riegel der Feuerwehrautos drängen, um zumindest zuhören zu können, was vorn auf der Bühne gesagt wird. Einige Plakate sind zu sehen, die sich explizit gegen die AfD richten. Eine Frau lobt, dass der Bundespräsident gekommen ist: „Das bedeutet uns etwas.“ Und hofft, dass die Öffentlichkeit nicht so schnell vergesse, was hier geschehen ist, sich nicht ablenken lässt.
Mitglieder der örtlichen Moscheegemeinde sind in einheitlichen T-Shirts erschienen. In schwarzen, roten und goldenen Buchstaben ist auf ihnen zu lesen: „Wir sind Deutschland.“
Weiter vorn steht eine Gruppe junger türkischer Männer, sie halten ausgedruckte Fotos ihrer getöteten Freunde in die Luft. Einer von ihnen ist Karim, 23. Er sagt, der Mensch auf dem Foto heiße Ferat und sei ein enger Freund. „Also war.“ Karim hat ein Taschentuch dabei, das schon ziemlich nassgeweint ist. Er sagt, Ferat habe eine Menge deutscher Freunde gehabt, also solche ohne Migrationshintergrund, und hätte es sicher im Leben nicht für möglich gehalten, dass eines Abends ein Deutscher ankomme und ihn erschießen will. Karim sagt auch: „Ich begreife noch gar nicht, was eigentlich passiert ist und was das jetzt bedeutet.“
Sebastian Leber