Ariel Palitz: Wie New Yorks Nachtbürgermeisterin die Stadt aufwecken soll
„Studio 54“, „Limelight“, „CBGB“ – New Yorks Clubs waren einst legendär. Ariel Palitz soll dafür sorgen, dass das wieder so wird. Mit Berliner Hilfe.
Nach einer Stunde wird Ariel Palitz plötzlich streng. „Nein!“, ruft sie von der Bühne, „du hattest deine Zeit.“ In den Zuschauerrängen steht ein dünner Mann mit weißen Haaren und rotem Kopf. Er hat sich als Pete vorgestellt, zerbrochene Familie, Suchtfälle, deshalb müsse sich die Politik auf dieser Veranstaltung grundsätzlich gegen eine „Kultur des Alkohols“ positionieren. Pete durfte 120 Sekunden sprechen, wie jeder an diesem Abend in der Town Hall in Midtown Manhattan, und diese 120 Sekunden sind jetzt vorbei. Also brüllt er. Palitz schüttelt den Kopf. Und gibt schließlich doch nach. Pete darf noch mal kurz schimpfen.
Der Job, den die 47-jährige Palitz seit neun Monaten hat, besteht oft aus Zuhören, Beruhigen, Vermitteln. Irgendwie es jedem recht machen. Der Job trägt einen glamourösen Titel: Palitz ist „Night Mayor“ von New York City. Sie ist die Bürgermeisterin der Nacht.
Es ist das erste Amt dieser Art in den USA. In der Stadt, die wohl wie keine andere berüchtigt für ihr Nachtleben ist. Disco und Hip Hop wurden hier geboren, Clubs wie das „Studio 54“, „Limelight“ oder „Tunnel“ brachten es zu Weltruhm. Dank Frank Sinatra wurde aus New York die Stadt, die niemals schläft.
Einheimische meiden die Partymeilen
Nur: Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Die besagten Clubs sind längst geschlossen. In der Kirche, die das „Limelight“ beherbergte, ist heute ein Fitnessstudio. New York ist teurer geworden. Kommerzieller und restriktiver, sagen viele. Die Partymeilen werden am Wochenende von Touristen überrannt und von Einheimischen gemieden. Die Underground-Kultur wanderte von Manhattan nach Brooklyn und wird nun auch dort verdrängt.
Die Stadt, die niemals schläft, scheint etwas verschlafen zu haben. Palitz soll der Weckruf sein. Bislang hatten Veranstalter, Barmitarbeiter, Partygänger, Künstler und Anwohner weder eine Lobby noch eine zentrale Kontaktstelle. Konflikte wurden ignoriert, während die Milliardeneinnahmen, die diese Industrie in die Stadt brachte, als selbstverständlich betrachtet wurden. Die New Yorker Politik behandelte die Szene wie eine Gefahr.
Ariel Palitz steht vor der Herausforderung, das Nachtleben zugleich sicherer und freier zu machen. „Ich bin gebürtige New Yorkerin, habe in allen denkbar möglichen Bereichen des Nachtlebens gearbeitet, zehn Jahre lang meinen eigenen Club geleitet – und ich wohne über einer Bar“, sagt sie selbstbewusst zu Beginn jeder Veranstaltung. Die Botschaft ist unmissverständlich: Wenn es eine kann, dann sie. Palitz kennt die Nacht aus allen Perspektiven.
1500 Menschen passen in die 1921 gebaute Town Hall, die nur einen Block vom Times Square entfernt liegt. Vielleicht 300 sind an diesem vernieselten Abend gekommen. Bob Dylan, Duke Ellington und Whitney Houston standen hier schon auf der Bühne, erst zwei Tage zuvor hat der Demokrat Bernie Sanders hier eine Rede gehalten. Palitz' Auftritt ist die letzte Station ihrer „Listening Tour“, deren Ziel es war, die Probleme und Wünsche in den fünf Bezirken New Yorks zu sammeln.
Eine Frau fordert Schutz gegen sexuelle Belästigung
Palitz ist heute ganz in schwarz gekleidet, trägt dazu rote High Heels und offene blonde Haare. Als habe sie sich mit dem großen Saal abgestimmt: schwarzes Holz, rote Sitzbezüge, goldverzierte Wände. „Das Nachtleben muss für jeden New Yorker funktionieren“, sagt sie. „Wir wollen das Thema ab sofort ganzheitlich betrachten.“ Neben ihr auf der Bühne sitzen zehn Männer und Frauen, die jeweils eine New Yorker Behörde repräsentieren. Polizei, Feuerwehr, Bauamt und so weiter.
Als Erster steht ein schwarzer Mann mit grüner Weste und Schnäuzer auf. Sean Wilson, Barbesitzer aus dem East Village. Palitz grinst. Wilson betreibt die Bar, über der sie wohnt. Die Situation wirkt fast wie inszeniert – bis der Mann zur Beschwerde ansetzt. „Die Kommunikation zwischen Stadt und den Gaststätten muss dringend verbessert werden“, klagt er. Als die Straße vor seiner Bar aufgerissen wurde, sei mehrfach die Wasserleitung gekappt worden. Ohne Vorankündigung, ein Desaster im laufenden Betrieb. Palitz verspricht: „Der Dialog wird besser!“
In den Gängen zwischen den Stuhlreihen haben sich zwei Schlangen gebildet. Eine Frau aus der Lower East Side bemängelt den Lärm im Viertel und wird dafür beklatscht. Ein sportlicher Mann mit Brille möchte wissen, wie Nachtclubs gegen Terroranschläge gesichert sind. Eine junge Schauspielerin fordert besseren Schutz gegen sexuelle Belästigung. Und dann ist da noch der brüllende Pete, der am liebsten der ganzen Stadt den Alkohol verbieten will. Eine unterhaltsame Mischung aus glaubhaft Genervten und nervigen Selbstdarstellern.
Früher war das Nachtleben freier
Palitz ist verständnisvoll und bleibt unkonkret. Lösungen könne man erst im neuen Jahr präsentieren, wird sie später sagen. Mit der Ahnung, dass Lösungen vielleicht nie gefunden werden.
Wie sich das Nachtleben verändert hat, lässt sich gut entlang ihres Lebens erzählen. Als Palitz 1970 geboren wurde, galt New York als gefährlichste Stadt der Vereinigten Staaten. Pro Tag mehrere Morde, Bandenkriege in Harlem und der Bronx, zahllose Drogentote. Der Times Square war Zentrum eines Rotlichtviertels. New York stand kurz vor dem finanziellen Kollaps und hatte andere Sorgen, als Partys zu regulieren.
„Das Nachtleben fand damals im Schatten der Politik statt. Das hatte den Nachteil, dass es unsicherer und den Vorteil, dass es freier war“, sagt Palitz ein paar Tage vor der Veranstaltung in der Town Hall. Das Interview muss am Telefon stattfinden, ihr Terminkalender sei zu voll. Ariel Palitz spricht ihre Sätze kontrolliert und ruhig. Sie ist neu und doch erfahren.
Palitz wuchs in der exklusiven Upper East Side auf. An den Wochenenden zog es sie in den Süden Manhattans, ins West Village, wo sie ihren ersten Job fand. Palitz betreute die Gästeliste im Club „Mars“. Bald veranstaltete Palitz ihre eigenen Partys.
1994 vollzog sich im Rathaus ein Wechsel, der auch für das Nachtleben prägend werden sollte. Der Republikaner Rudolph Giuliani hatte die Wahl zum Bürgermeister gewonnen und regierte fortan nach dem Null-Toleranz-Prinzip. Razzien in Clubs wurden zum Alltag, die Strafen für Ordnungswidrigkeiten erhöht. Touristen und Unternehmen sollten nach New York gelockt, Immobilien aufgewertet werden. Am Times Square standen nun Menschen in Micky-Maus-Kostümen statt Prostituierter.
Drogen, Kriminalität und Gewalt
Rave-Partys, die morgens buntgekleidete Druffies ausspuckten, passten genauso wenig ins gewünschte Stadtbild. Als der berühmte Partyveranstalter Michael Alig 1996 im Rausch seinen Dealer ermordete, fühlte sich Giuliani bestätigt. Er erhöhte das Polizeiaufgebot und machte exzessiven Gebrauch vom „Cabaret Law“ – ein uraltes Gesetz, nach dem nur in Gaststätten mit bestimmter Lizenz getanzt werden darf. Vergangenes Jahr wurde es abgeschafft.
„Manche haben das Nachtleben in erster Linie als Ursache von Kriminalität, Drogen und Gewalt gesehen, anstatt die kulturelle Notwendigkeit für die Identität der Stadt anzuerkennen“, sagt Palitz. Auch Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg setzte die Sterilisierung New Yorks fort, wenn auch mit etwas freundlicherem Gesicht.
Seit Palitz im März das Amt angetreten hat, klappert sie die Behörden der Stadt ab, besucht Events, spricht mit Partyveranstaltern und Nachbarschaftsinitiativen. Vertrauen aufbauen, Allianzen bilden.
Ihre „Listening Tour“ startete sie im Oktober in Brooklyn. Viele Journalisten sind an diesem Premierenabend in den Union Tempel, eine Synagoge am Prospect Park, gekommen. Ariel Palitz wirkt leicht nervös. „Ich bin zwar die erste Nachtbürgermeisterin von New York“, sagt sie, aber es gebe eine globale Bewegung. Amsterdam, London, Zürich: Zahlreiche andere Städte hätten bereits eine vergleichbare Einrichtung, erklärt sie. „Die Vereinten Nationen des Nachtlebens.“
Ganz vorn im Publikum sitzt an diesem Abend Lutz Leichsenring, Sprecher der „Berliner Clubcommission“, einer im Jahr 2001 gegründeten Interessenvertretung der Berliner Party- und Kulturveranstalter. Der 39-Jährige hat Palitz im Frühjahr in New York kennengelernt, seitdem telefonieren die beiden regelmäßig. „Sie hat großes Interesse an unserer Arbeit. Außerdem kann sie strategisch denken und hört den Menschen zu“, lobt der Berliner.
Kein Platz für individuelle Partys
Er konnte Ariel Palitz davon überzeugen, den von ihm in Zusammenarbeit mit der Harvard Universität entwickelten „Creative Footprint“ zu nutzen, einen Index, der die Bedeutung von Kultureinrichtungen vermisst. Er bewertet etwa, inwieweit sich ein Lokal auf die Attraktivität der Stadt für Touristen auswirkt oder welchen Wert es für die Nachbarschaft hat, weil umliegende Geschäfte und Hotels profitieren.
In Berlin kommt Leichsenrings Position der eines Nachtbürgermeisters am nächsten. Seiner Kollegin empfiehlt er, nicht allen Beteiligten gleichermaßen gerecht werden zu wollen. „Ich glaube, es ist sinnvoller, wenn sie sich auf die Akteure und Institutionen konzentriert, die nicht alleine überlebensfähig sind.“
Er meint Leute wie den Technoparty-Veranstalter Seva Granik aus Brooklyn. Seine Partys sind queer, oft geheim. Und sie sind bedroht. Der 43-Jährige ist zum Auftakt der „Listening Tour“ gekommen, weil er sich sorgt, dass es in der Stadt bald keinen Raum mehr für größere, individuell organisierte Partys geben wird. „Wir brauchen sichere, bezahlbare Locations“, sagt der schlanke, blasse Mann. „Wir werden uns darum kümmern“, antwortet Palitz. Und tatsächlich: Nach Ende der Veranstaltung wird Granik von einem Stadtabgeordneten angesprochen.
„Für viele New Yorker dreht sich das ganze Leben um die Nacht“, sagt Palitz am Telefon. Anfang der 2000er Jahre überredete ein Freund sie, in eine Bar im East Village zu investieren. Als das Geschäft ein Jahr später einbrach, übernahm sie den Laden, ließ ihn renovieren und eröffnete ihn 2004 neu unter dem Namen „Sutra Lounge“. Der Hip-Hop-Club zog Prominente wie die Sängerin Gloria Gaynor und den Schauspieler Joaquin Phoenix an, wurde schnell zu einer der beliebtesten Locations der Stadt. Und zu einer der lautesten.
Ihre Behörde hat vier Mitarbeiter
„Wir waren jahrelang der Club mit den meisten Beschwerde-Anrufen“, sagt Palitz. Schuld sei damals allerdings ein einziger Nachbar gewesen, der Wochenende für Wochenende das Bürgertelefon 311 gewählt habe. Mehrere Zehntausend Dollar musste sie Strafe zahlen. 2014 schloss sie den Laden. „Es war nach zehn Jahren Zeit für etwas Neues.“
Als Bürgermeister Bill de Blasio im Sommer 2017 auf Initiative des Lokalpolitikers Rafael Espinal die Pläne für eine neue Behörde – das „Office of Nightlife“ – vorstellte, wusste Palitz, dass ihre neue Berufung gefunden ist. „Die Stellenbeschreibung las sich wie meine eigene Biografie“, erzählt sie. Im März dieses Jahres wurde die erste Nachtbürgermeisterin offiziell präsentiert.
Wobei Palitz den Begriff gar nicht mag. „Night Mayor“, das klinge so wie „nightmare“ – Albtraum.
Ihre Behörde besteht aus vier Angestellten. Sie bilden das „Team Nightlife“. Darüber hinaus gibt es einen vierzehnköpfigen Beirat. Das Jahresbudget für 2019 beläuft sich auf 425 000 Dollar. Damit müssen Mitarbeiter, Veranstaltungen, Reisen und PR finanziert werden. „Es ist ein großer Erfolg, dass es dieses Büro überhaupt gibt. Das Nachtleben hat endlich eine Stimme“, sagt Palitz. Von ihr wird erwartet, die Belange der Szene gegenüber der lokalen Regierung zu vertreten. Den „Small Business Jobs Survival Act“ etwa, einen Gesetzesvorschlag zum Schutz kleinerer Geschäfte, will Palitz mit vorantreiben. Dass ihr Job viel Symbolcharakter hat, weiß sie. „Es gibt Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.“
„Sie pinkeln in die Büsche, kotzen in die Ecke“
Wie zum Beispiel die Gentrifizierung. Palitz wohnt seit fast 25 Jahren im East Village, einem Viertel, das sich so sehr wie nur wenige andere gewandelt hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten überwiegend Arbeiter und Immigranten zwischen Houston Street und 14th Street. In den 50er Jahren zogen Künstler wie der Beat-Poet Allen Ginsberg ins Village, die Straße St. Marks Place wurde zum Zentrum der Gegenkultur. Hausbesetzer, Anarchisten, Junkies und Hippies teilten sich die Nachbarschaft. 1973 öffnete an der Bowery der Rockclub „CBGB“, in dem Patti Smith, The Ramones und die Talking Heads ihre Karrieren starteten. 2006 musste das „CBGB“ schließen, das East Village war zu teuer geworden. Heute liegt die durchschnittliche Monatsmiete für eine Zweizimmerwohnung bei 3000 Dollar. Giulianis Plan ist aufgegangen.
Manhattan ist verloren, sagen manche. Und Brooklyn kurz davor. Aber Ariel Palitz kann mit Kulturpessimismus nichts anfangen. Für Nostalgie wurde sie nicht eingestellt.
Als der Abend in Brooklyn sich dem Ende neigt, steht eine Frau vor dem Mikrofon und beschwert sich über Barbesucher in ihrer Nachbarschaft in Prospect Heights. „Sie pinkeln in die Büsche, kotzen in die Ecke.“ Alles habe die Frau versucht – Polizei, Bürgertelefon, Feuerwehr –, nichts sei passiert.
Palitz antwortet voller Verständnis: „Wir wollen dafür sorgen, dass die Spuren des Nachtlebens am nächsten Morgen beseitigt sind.“
Die Anwohnerin schüttelt den Kopf. „Die pinkeln da nachmittags hin!“
Manchmal muss sich die Bürgermeisterin der Nacht auch um den Tag kümmern.
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