Mehr als ein Kiezverein: Was den 1. FC Union für seine Fans besonders macht
Fußball, Bier, Bratwurst! Darum geht es beim 1. FC Union. So bestimmte es einst der Stadionsprecher. Doch viele Fans sehen in ihrem weltberühmten Kiezverein mehr: Verwandtschaft und eine Art Attac des Ballsports.
Neulich hat eine auswärtige Familie an der Alten Försterei vorbeigeschaut. Vater, Mutter, Tochter und Sohn, sie waren an den Fotoapparaten um den Hals unschwer als Touristen im Fußballstadion zu erkennen. „Das haben die Fans alles selbst gebaut?“, hat das Familienoberhaupt gefragt. „Unglaublich! Wissen Sie, wir bleiben nur eine Nacht in Berlin und sind vom Flughafen gleich hierher gefahren.“ Brandenburger Tor und Reichstag müssen warten, erstmal zu Union, „wir haben die ganze Geschichte zu Hause im Fernsehen verfolgt!“ Im Fernsehen? Zu Hause? „Yes, Sir! Wir kommen aus Melbourne!“
Nette Geschichte, sagt Carsten Trautmann, aber …. so ungewöhnlich sei das nun auch nicht, dass internationales Publikum in der Alten Försterei vorstellig werde. „Am Bierstand treffe ich öfter mal Engländer, die fliegen extra zu unseren Spielen ein.“ Der Fußballfan Carsten Trautmann wohnt im Köpenicker Stadtteil Rahnsdorf und hat es ein wenig näher zum Stadion an der Alten Försterei.
Köpenick und Melbourne - das ist ihre Bühne
Köpenick und Melbourne – das ist die Bühne, die der 1. FC Union bespielt. Ein weltberühmter Kiezverein aus Berlin. Ein Verein, wie es ihn im durchkommerzialisierten Fußball des dritten Jahrtausends gar nicht mehr geben dürfte. Union ist keine dieser modernen GmbHs oder KGaAs. In Köpenick verstehen sie sich als große Familie, die ihre Kraft aus dem engstmöglichen Zusammenhalt schöpft. So wie es früher auch in Wedding oder München oder England war, als die Sportvereine sich noch nicht als Werbeplattform verstanden und ihre Daseinsberechtigung nicht allein an sportlichen und wirtschaftlichen Erfolg knüpften.
In einer Zeit, in der sich die Dinge immer schneller ändern und schwieriger zu durchschauen sind, bietet der Verein seiner Familie einen festen Halt. Wer zum Fußball an die Alten Försterei fährt, macht das auch in der Gewissheit, dass die Dinge heute so sind, wie sie gestern waren und auch morgen noch sein werden. Diesem Charme des Stillstandes einer sich immer schneller drehenden Welt verdankt Union seine Attraktivität. „Die Engländer kommen ja nicht hierher, weil der Fußball so toll ist“, sagt der Union-Fan Carsten Trautmann. „Die wollen Stehplätze und Bier und den Fußball so genießen, wie es bei ihnen zu Hause nicht mehr möglich ist. Und natürlich gehören sie auch alle zur großen Familie.“
27 000 Fans werden am Dienstag zum Singen erwartet
Am Dienstag trifft sich die große Familie im Stadion zum Weihnachtssingen. Das mag es auch bei anderen Klubs geben, aber bei Union ist der Rahmen ein wenig größer. 27 000 Fans werden diesmal erwartet. Frauen und Männer und Greise und Kleinkinder, alle werden sie gemeinsam „Stille Nacht, Heilige Nacht“ anstimmen.
Es ist dieses schwer zu greifende Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Stimmung in der Wuhlheide prägt, auch und gerade wenn es sportlich nicht so läuft. Wenn Union zurückliegt, brüllen die Fans noch lauter als bei einer kommoden Führung. Sie sind die alles bestimmende Macht im Verein und stellen auch den Präsidenten. Der Mann heißt Dirk Zingler und stand früher selbst hinter dem Tor an der Waldseite, wo sich heute die Ultras, die jüngsten und fanatischsten Fans die Kehle aus dem Hals brüllen. Unter Zingler hat Union vor sechs Jahren die damals marode Alte Försterei gekauft und zu einem der stimmungsvollsten Stadien des Landes umgebaut. Nachdem Union vor drei Jahren Alte-Försterei-Aktien freigab zur Zeichnung für die Fans, gehört diesen jetzt eine knappe Hälfte des Stadions. Ein großes Dankeschön für alle, die damals Steine schleppten, Sand schippten und Wege asphaltierten zum Wohle des Klubs.
Ostler aus Überzeugung! Wie Herthaner die Unioner sehen
Eine Puppenstubenatmosphäre aber ist es nicht, die sie da in der Wuhlheide pflegen. Die Fans haben eben ihre Prinzipien und nicken keineswegs alles kritiklos ab, was ihnen an originellen Ideen vorgesetzt wird. Dass Nichtmitglieder dieses Jahr fünf Euro Eintritt fürs Weihnachtssingen zahlen müssen etwa, kam nicht überall gut an. Und im Sommer hatte eine vom Präsidium beauftragte Agentur die große Union-Familie eingeladen, zu den Fernsehübertragungen bei der Fußball-WM die eigenen Sofas mit ins Stadion zu schleppen. Einen Sommer lang machte die Alte Försterei Schlagzeilen als größtes Wohnzimmer Deutschlands. Ein harter Kern der Ultraszene aber witterte „unionfernen Event-Quatsch“ und „Verrat am Fußball pur“. Drei Sofas landeten nach einer nächtlichen Kommandoaktion in der Wuhle und Präsident Zingler musste sich bei der Mitgliederversammlung für das Vorgehen des Vereins rechtfertigen.
Ohnehin wäre den Unionern der Laden vor ein paar Wochen beinahe um die Ohren geflogen. Der neue Trainer Norbert Düwel warf den alten Publikumsliebling Torsten Mattuschka raus, Niederlage reihte sich an Niederlage. Nach einem besonders peinlichen 1:4 gegen 1860 München und einer an ihn persönlich adressierten Beleidigung reckte Düwel dann auch noch seinen Mittelfinger Richtung Tribüne. Bei so ziemlich jedem anderen Klub hätte er sich dafür die Papiere abholen dürfen. Union aber legt großen Wert darauf, anders als die anderen zu sein. Also behielt das Präsidium die Nerven und der Trainer seinen Job.
Union-Fans? Ost-Berliner aus Überzeugung! Sagen Herthaner
Gibt es den typischen Union-Fan? Natürlich, sagen die Fans von Hertha BSC. Für sie ist der typische Unioner Ost-Berliner im politischen Sinne und aus Überzeugung. Einer, der sich im Stadion seine kleine DDR bastelt und den Westen als Feindbild im Herzen trägt. Auf ewig der Nostalgie verpflichtet und dem Kampf gegen den BFC Dynamo, den Verein Erich Mielkes.
Blödsinn, sagt Carsten Trautmann. „Neben mir steht immer einer, der brüllt bei der Stadionhymne immer ganz laut mit: ‚Wir aus dem Osten gehen immer nach vorn!’ Wissen Sie, wo der herkommt? Aus Mariendorf.“
Geht es noch westlicher?
Carsten Trautmann ist in Britz aufgewachsen, kleinbürgerliches West-Berlin, ohne jeden Bezug zum Osten im Allgemeinen und zu Köpenick im Besonderen. Früher, da wohnte er schon in Rahnsdorf, hat er öfter mal bei Hertha BSC im Olympiastadion zugeschaut. Ticket, Bratwurst, Bier – „alles ganz schön teuer, und die Stimmung so lala“. Irgendwann hat er sich gedacht: „Wir haben doch auch in Köpenick einen Verein.“ Das war 2007, und von Union kannte er damals nur den Namen. Bei seinem ersten Besuch gab es noch das alte Stadion, mit Wellenbrechern und Traversen aus Kantensteinen. „Aber die Atmosphäre war super. Ich kannte keinen einzigen im Stadion“, und doch hat ihm gleich einer ganz spontan das erste Bier ausgegeben.
Ein Jahr später stieg Union in die Zweite Liga auf und Carsten Trautmann kaufte sich eine Dauerkarte.
Ein Tag in der Alten Försterei beginnt lange vor dem Spiel. Vom Bahnhof Köpenick runter bis zur Abseitsfalle, der Vereinskneipe an der Hämmerlingstraße. Links abbiegen in die Wuhlheide, vorbei an den Kontrollen und dann die Steintreppen hoch. Carsten Trautmann hat seinen Stammplatz auf der Gegentribüne in Höhe der Strafraumlinie. Torsten und Gerdchen sind schon da, wie immer, ohne dass sie sich dafür verabreden müssten, wenn nicht gerade eine Beerdigung ansteht oder eine Hochzeit, Geburtstage zählen schon nicht mehr als Ausrede.
1906 wurde der Verein im Arbeitervorort gegründet
Carsten leitet ein Gartenlandschaftsbau-Unternehmen, Gerdchen arbeitet in einem Bio-Großhandel und Torsten ist gelernter Schlosser, wie übrigens auch der Präsident Zingler, was sich wunderbar verträgt mit der Vereinsgeschichte. Union wurde 1906 in Oberschöneweide gegründet, als das noch ein Berliner Arbeitervorort war. Viel Metall verarbeitende Industrie, Unions Spieler waren bekannt als die Schlosserjungs von der Wuhlheide. Aus dieser Zeit stammt der hochheilige Schlachtruf: „Eisern Union!“
Zwanzig Minuten noch bis zum Spielbeginn. Zeit für ein erstes Bier. „Biste das erste Mal hier?“ Torstens Stimme kämpft gegen die Bässe der Foo Fighters aus den Lautsprechern, was insofern bemerkenswert ist, weil in deutschen Fußballstadien sonst nur seichtes Tralala läuft. Union leistet sich einen eigenen Musik-Chef, man nennt ihn Wumme und er sich selbst Stadion-Beschaller. Aber das Publikum muss nicht animiert werden, es animiert sich selbst. Etwa wenn die eine Hälfte „Eisern!“ brüllt und die andere nicht weniger laut „Union!“ antwortet. Minutenlang, ohrenbetäubend laut.
Global(l)isierungskritiker: Wie die Unioner sich selbst sehen
Der Stadionsprecher Christian Arbeit hat Unions Grundeinstellung mal in die schöne Formulierung gegossen: „Bei uns geht es um Fußball, Bier und Bratwurst!“
Darauf noch ein Bier auf der Gegentribüne. Trautmann erzählt die Geschichte von Frank, dem Hausmeister an einer Kita. „Der hat den Union-Aufkleber an meinem Auto gesehen, und seitdem begrüßt er mich immer mit ,Eisern!’“ Der Hausmeister Frank hat sich nie für Fußball interessiert, „bis er eine Frau kennengelernt hat, die war Hardcore-Fan und hat ihn einfach mitgeschleppt“. Es gebe da noch eine lustige Pointe, aber die will Carsten erst später erzählen.
Erst einmal liest Christian Arbeit die Mannschaftsaufstellungen vor. Zuerst die des Gegners, und ganz besonders herzlich begrüßt er zwei Spieler, die früher auch mal für Union gespielt haben: „Schön, dass ihr hier seid!“ Donnernder Applaus. Auch das ist so selbstverständlich nicht. Als vor ein paar Jahren mal der Brasilianer Marcelinho, Berlins größter Dirigent seit Herbert von Karajan, mit seinem neuen Klub Wolfsburg bei seinem alten Klub Hertha BSC spielte, pfiff ihn das Publikum im Olympiastadion aus.
Die Spieler tragen alle den selben Nachnamen: Fußballgott
Bei der Auflistung von Unions Spielern brüllt das Publikum jeden Namen mit. Auch bei den Fußballern handelt es sich um eine große Familie, denn alle haben sie denselben Nachnamen: „Fußballgott“. Wenn die Herthaner in der Wuhlheide spielen, erlangen sie übrigens auch Familienstatus, alle Spieler heißen dann Ar... Nachdem Hertha an einem Montag vor zweieinhalb Jahren mal in der Alten Försterei gewann, blaffte Unions Stürmer Christopher Quiring in ein Mikrofon: „Wenn die Wessis in unserem Stadion jubeln, krieg ich das Kotzen.“ In Nina Hagens Stadionhymne heißt es: Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union, Eisern Union!“ Und: „Wir aus dem Osten gehen immer nach vorn. Schulter an Schulter für Eisern Union.“
Nach eher schleppendem Beginn marschiert der Osten zum Ausklang des Jahres sehr zügig voran - daran ändert auch ein unglückliches 0:1 im letzten Spiel nichts. Auf der Fantribüne hinterm Tor singen sie: „Wir lieben unseren Klub und wir sind stolz auf ihn, FC Union aus Berlin“, oder: „Wo du auch spielst, ja wir folgen dir, und ist der Sieg auch noch so fern. Gib niemals auf und glaub an dich, dann kann der Sieg nur dir gehören“. Könnte alles aus einem Soundtrack der späten Siebziger stammen, sagt Carsten Trautmann. „Aber irgendwie auch schön, oder?“
Sie sehen sich als eine Art Attac des Fußballs
Im Herbst ging es in der Wuhlheide gegen RB Leipzig, auch kein ganz normaler Verein. Sondern ein millionenschwer alimentiertes Konstrukt, gegründet vor fünf Jahren in der fünften Liga mit dem Ziel des Durchmarsches in die Bundesliga, alles zur Mehrung des Wohlstandes eines Brauselieferanten. Dass sportlicher Erfolg einfach eingekauft wird ohne jeden Bezug auf Tradition, rührt am Grundverständnis der Unioner. Sie verstehen sich als eine Art Attac des Fußballs. Globalisierungskritiker an der Basis. Also haben sie den Leipzigern einen ganz besonderen Empfang breitet. Mit der Installation eines Stadions in Trauerflor, illusioniert durch vor dem Stadion verteilte schwarze Plastikoveralls. Dazu schwiegen sie, eine geschlagene Viertelstunde lang, und als die endlich vorbei war, rissen sie das schwarze Plastik vom Leib und ein Orkan brach los. So laut wie vielleicht noch nie in diesem lauten und einschüchternden Stadion. Union gewann 2:1, es war ein kleiner Sieg des alten Fußballs über den neuen.
Am Ausgang gibt es noch ein allerletztes Bier und Carsten erzählt die Pointe zu der Geschichte von Frank, dem Hausmeister aus der Kita. Mit der Freundin, die ihn früher mit zu Union geschleppt hat, ist er längst nicht mehr zusammen. Aber zu Union geht er immer noch: „jedes Heimspiel, das lass ich mir nicht nehmen, und schon gar nicht von meiner Ex!“
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.