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Stefan Waller alias Dr Heart.
© Thilo Rückeis

Ärzte in der Online-Sprechstunde: Warum Stefan Waller zu Dr. Heart wurde

PurzelBäumchen hat Schmerzen an der Narbe, Wildebackmaus Angst, ihr Baby sei zu groß. Rat gibt’s im Netz. Manchmal führt Dr. Google sogar zu echten Ärzten. Eine Online-Sprechstunde.

Von Katja Demirci

Es gibt kompliziertere Probleme, mit denen Kardiologen gewöhnlich konfrontiert sind. Und doch will auch dieses behandelt werden: wohin mit den Händen? Mahnend den Zeigefinger heben ist gelegentlich okay, und die Merkelraute lässt sich so gut wie nicht vermeiden.

Stefan Waller, 42 Jahre alt, braunes Haar, braune Augen, steht im weißen Arztkittel, abgepudert, ausgeleuchtet und angestrahlt, vor einer Wand, die mit einem grünen Tuch verhangen ist. Schnell noch einen Schluck Wasser. Kamera 1 läuft, Kamera 2 läuft, Ton läuft. „Die Herzinsuffizienz“, sagt Stefan Waller, Hände zur Raute, „gehört zu den bedeutendsten Krankheiten weltweit.“

Er hält die Augenbrauen hochgezogen, die Stirn in Falten gelegt, ein Lächeln ist nur angedeutet. Das hier macht ihm Spaß, aber lustig ist es natürlich nicht. Den Ton muss man treffen, dabei auch vertrauensvoll aussehen, nicht zu schnell reden und, ja, den Text nicht vergessen. „Die Herzinsuffizienz gehört zu den bedeutendsten Krankheiten weltweit.“

Es ist ein warmer Junivormittag, der Doktor schwitzt und muss zwischenpudern, der Kameramann holt Wasser. Zwei Videoclips möchten sie an diesem Tag drehen, und wenn die Technik sich nicht zwischendurch sträubte, der Doc sich nicht ab und an verhaspelte, die Luft wäre nur halb so dick im kleinen Zimmer dieser Kreuzberger Fabriketage, WG und Studio des Kameramannes zugleich.

Stefan Waller hat lange Jahre Medizin studiert, ist Internist und Spezialist fürs Herz. Schauspieler, sagt er, sei er nicht.

Symptome für die Suchmaschine

Doch all jene, die nachher sein Video im Internet finden, bei Youtube oder auf seiner Webseite, werden nichts sehen von der Ungeduld über den fünften Versprecher an derselben Stelle, von der Schwitzerei und der ständigen Sorge: Rede ich vielleicht doch zu schnell?

Jenen, die das Video finden, ist all dies mutmaßlich egal. Die spüren vielleicht ein Engegefühl in der Brust, haben schwere Beine oder viel zu häufig Atemnot. Die schalten ihre Rechner ein, vertrauen ihre Symptome und Ängste einer Suchmaschine an – die sie früher oder später womöglich zu einem von Stefan Wallers Videos führt, aus dem sie dann lernen: Bei solcherlei Anzeichen ab zum Arzt!

Wer auf die Schnelle ein Rezept für einen Apfelkuchen sucht, ein Strick-Tutorial oder Haushaltstipps, der fragt das Internet. Und wer ein eigentümliches Jucken im Ohr verspürt, der macht dasselbe. Längst ist Dr. Google erste Anlaufstelle für viele, ein Tummelplatz für eingebildete Kranke, zu Tode besorgte und solche, die einfach gerade keine Zeit haben für einen Hausarztbesuch.

Krankenkassen und private Anbieter versuchen, mittels Expertenforen und Infoseiten Seriosität in den Wust von Informationen zu bringen. Auch Stefan Waller sagt: „Gesundheitsprofis im Netz sind wichtig, um so etwas wie ,Morbus Google’ entgegenzutreten.“

Einer Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zufolge zeige sich „eine steigende Tendenz, das Internet als Quelle für Gesundheitsinformationen zu nutzen“. Doch „das Vertrauen in und die Glaubwürdigkeit von Informationen scheint zum großen Teil von Faktoren abzuhängen, die wenig mit der inhaltlichen Qualität zu tun haben“. Wer sind diese Menschen, denen online Vertrauen entgegengebracht wird?

Wenig Zeit, etwas zu erklären

Einer von ihnen ist Stefan Waller, der neben seiner Arbeit in einer kardiologischen Praxis in Berlin eine Webseite aufbaut, eine zweite Karriere als e-Health-Experte, bekannt online als „Dr. Heart“. Weil abzusehen ist, dass künftig eher mehr als weniger Menschen online Rat suchen werden. Weil das Netz Wissen demokratisiert - auch das medizinische. Was, im Sinne von Patient und Arzt gleichermaßen, bitte möglichst korrekt sein sollte.

„Die Herzinsuffizenz gehört zu den bedeutendsten Krankheiten weltweit.“

Fünfzehn Minuten Zeit habe er in der Praxis pro Patient, rechnet Stefan Waller vor, inklusive Echokardiografie, also Untersuchung des Herzens. Fünfzehn Minuten, die Länge der Tagesschau, nicht mehr. „Es bleibt wenig Zeit für den Arzt, etwas zu erklären“, sagt Waller. „Drastisch gesagt: Menschen sterben, weil sie nicht wissen, wieso sie eine Behandlung oder Medikamentierung mitmachen sollen.“ Nach seinem Studium in Berlin arbeitete Waller in unterschiedlichen Kliniken. Schon da fand er es frustrierend, Patienten entlassen zu müssen in dem Wissen, dass sie wiederkommen. Es hat sich nicht geändert. „Die sprechende Medizin“, sagt er, „gerät in den Hintergrund hinter Apparaten.“

Dabei hat er den Studiengang aus genau dem gegenteiligen Grund gewählt. „Weil man mit Menschen zu tun hat - und etwas Sinnvolles macht.“ Immer nur Symptome zu lindern, ohne dass die Patienten ihren Lebensstil ändern, schien ihm nicht sinnvoll. Also nimmt er die Informationen jetzt auf, stellt sie online. Seine Webseite wirbt: „Ansprechende und unterhaltsame Videoclips zur Herz-Kreislaufmedizin“. Er selber spricht von „patient empowerment“ und sagt: „Man sollte die Verantwortung für seine Gesundheit nicht komplett in die Hand des Arztes legen.“

Ein besserwissender Patient ist der Albtraum vieler Kollegen

Ein Gründer-Coaching hat Waller vor einem Jahr auf die Spur gesetzt, nun manövriert er sich allein - mit gelegentlicher Hilfe von Kameramann & Co - durchs Feld des medizinischen Infotainments. Und sagt Sätze, die auch von anderen Start-ups kommen könnten: „Man muss die Leute abholen, wo sie sind.“ Im Fall von Dr. Heart funktioniert das makabererweise besonders gut, wenn sich zum Beispiel ein Prominenter wie Günter Netzer einer Herz-OP unterziehen muss und plötzlich alle Welt wissen will: Was war noch mal ein Bypass und brauche ich so etwas auch? „Schauen Sie rein“, postet Dr. Heart bei Facebook - und verlinkt ein Video zum Thema.

„Die Herzinsuffizienz gehört zu den bedeutendsten Krankheiten weltweit.“ Und plötzlich schaltet sich eine Kamera aus. Tief durchatmen.

Bevor Dr. Heart im Netz auftauchte, gab es dort bereits „Dr. Johannes“ alias Johannes Wimmer. Auf der Webseite des Hamburger Arztes waren auch die ersten Videos von Dr. Heart zu sehen. Während Waller sich aufs Herz spezialisiert hat, spricht Wimmer in Videoclips online über alles: von Problemen beim Sex mit künstlichem Hüftgelenk bis zur idealen Verdauung. In einem Interview mit „D-Radio Wissen“ wird er zitiert mit den Worten: „Der perfekte Stuhlgang - ist wie ein Olympia-Turmsprung. Der sieht mühelos aus, taucht perfekt ins Wasser ein, ohne großes Geräusch.“

Johannes Wimmer ist, keine Frage, dem Berliner Herzspezialisten in Sachen Publikumsnähe noch einen Schritt voraus. Ebenso jedoch, was den Stress angeht. Telefonisch zu erreichen, zwischen Aufzeichnungen für seine erste eigene Fernsehsendung und eine Talkshow, spricht der Hamburger von ähnlichen Beweggründen für sein Online-Engagement: „Ich habe in der Radiologie gearbeitet und den Patienten immer noch kurz zu erklären versucht, was genau das Problem ist. Da habe ich gemerkt: Ich schaffs nicht.“ Zudem: Bei der x-ten Erläuterung zur Kniearthrose wirkt selbst der motivierteste Mediziner wie ein Automat. Warum also nicht eine Webseite mit allerlei Information füllen?

Eine Generationenfrage

Wohl wissend, dass ein besserwissender Patient der Albtraum vieler Kollegen ist, vertrauen sowohl Waller als auch Wimmer auf die Nützlichkeit der von ihnen zur Verfügung gestellten Hinweise und Formulare zum Ausdrucken und Ausfüllen „vor dem nächsten Arztbesuch“. Natürlich gebe es Kollegen, die freuten sich nicht sehr über das, was er mache. Johannes Wimmer aber ist sich sicher: „Jemand ist kein guter Arzt, wenn er sagt: ich lehne das ab.“

Gerade erst fanden Bertelsmann-Stiftung und Barmer heraus, dass mehr als die Hälfte der niedergelassenen Ärzte informierte Patienten „mindestens problematisch“ finden. Viele seien der Ansicht, dass die Selbstinformation eher verwirre und zudem unangemessene Erwartungen erzeuge. Abgesehen davon, dass die meisten niedergelassenen Ärzte neben der Praxisarbeit gar keine Zeit finden für ein umfassendes Online-Engagement - ob dies sinnvoll und zu befürworten ist, scheint auch eine Generationenfrage zu sein.

In den Videos auf Wimmers Webseite ist ein schmaler junger Mann in blauer Ärztekluft unter weißem Kittel zu sehen, der, es mag an der Brille liegen oder an der jugendlichen Frisur, weitaus jünger aussieht als 33. Im Intro zu seinen Videos hält er eine künstliche Wirbelsäule in den Händen, später, vor dem blauen Hintergrund, doziert er über Spezielles und Allerweltskrankheiten, Bauchschmerzen zum Beispiel. Das Gute, lernt der Zuschauer, „die sind meist harmlos“. Ein Link leitet bei Bedarf weiter zum Thema: „Kaugummi verschluckt“.

Nur wenige wollen Chefarzt sein

Wimmer zählt sich zu einer jungen Generation von Ärzten, innerhalb derer nur wenige noch Chefarzt werden wollen, sogar nur noch die Hälfte einen Doktortitel anstrebt. „Wir haben doch alles“, sagt Wimmer, „sind materiell so gesättigt, dass wir uns wieder dem Menschen zuwenden.“ Als Arzt in der Uniklinik in Hamburg schaffe er etwa 100 Patienten am Tag, online hingegen 160 pro Minute. „Parasoziale Beziehung“, so nennt der Doktor das, was zwischen ihm auf dem Computerbildschirm und den Patienten, wo immer sie sein mögen, passiert. Eine Beziehung, in der es zwar einen Sender gibt, aber keine sichtbaren Empfänger.

Fast scheint es, als müsse einer der physischsten Berufe sich erst vom Menschen entfernen, um ihm wieder näher zu kommen. Wenn schon ein unpersönliches Video als Zuwendung empfunden wird, wie groß muss sie dann sein, die Sehnsucht des Kranken nach einem Arzt, der mit ihm verständlich kommuniziert?

Gesundheitsminister Hermann Gröhe wünschte kürzlich, Ärzte müssten einfacher kommunizieren, die „Wissensexplosion“ im Gesundheitsbereich verlange danach. Einer Studie der Uni Bielefeld im Auftrag der AOK zufolge haben 54,3 Prozent der Deutschen Schwierigkeiten, Gesundheitsinformationen zu verstehen. Interessanter noch: Menschen mit geringer „Gesundheitskompetenz“ leiden demnach häufiger unter chronischen Erkrankungen und seien in einem subjektiv schlechteren Gesundheitszustand.

"Es gibt Fragen, bei denen ich verstehen kann, dass man vorher mal online nachfragt"

Keine Frage, das Bedürfnis nach Aufklärung ist groß und die Deutschen, auch dies das Ergebnis einer Studie, sind Befürworter einer Digitalisierung der Medizin. Wie weit die gehen darf, hat die Bundesärztekammer Anfang des Jahres in einer Überarbeitung des Fernbehandlungsverbots festgelegt. Telemonitoring, das Überwachen von Patienten zu Hause, etwa per Videochat, ist zum Beispiel in Ordnung - solange es einen Arzt gibt, der im Zweifel auch physisch anwesend sein kann.

Einer, der sich bestens darin auskennt, Patienten online zu beruhigen, ohne zu viel zu verraten, ist Lars Hellmeyer, 47. Der Chefarzt der Geburtsmedizin im Friedrichshainer Vivantes-Klinikum beantwortet seit fünf Jahren Fragen in einem privaten Expertenforum zum Thema Schwangerschaft und Geburt, speziell zum Kaiserschnitt. Nur erledigt Hellmeyer diese Aufgabe weniger mit dem Enthusiasmus eines Online-Pioniers denn mit dem Pragmatismus eines Mediziners, der helfen möchte. Er sagt: „Es ist schlicht zusätzliche Arbeit.“

Eine E-Mail benachrichtigt ihn über eingehende Fragen im Forum, meistens kommen etwa 16 bis 20 pro Woche, die er neben der täglichen Arbeit beantwortet. „Das nimmt insgesamt etwa eine Stunde meiner Zeit in Anspruch.“

Lars Hellmeyer empfängt in seinem Büro im Klinikum. Wie groß der Mann ist, ist online nicht zu erkennen. Seine Freundlichkeit, die Ernsthaftigkeit, mit der er selbst die speziellste Frage zu beantworten versucht, ist jedoch im Netz wie außerhalb offensichtlich.

Fragen erzählen Geschichten

Wildebackmaus möchte wissen, ob der Entbindungstermin korrigiert werden muss, weil ihr Baby schon so groß ist - sollte man es lieber früher rausholen?

Hallo wildebackmaus, wenn per se der Kaiserschnitt feststeht und der errechnete Geburtstermin relativ sicher ist, braucht man trotz der Kindsgröße den Kaiserschnitt nicht zu sehr nach vorne zu ziehen.

PurzelBäumchen hat Schmerzen an der Narbe: Besteht Handlungsbedarf oder soll ich abwarten?

Hallo PurzelBäumchen, das kann alles normal sein, ist aber per Schreiben echt nicht beurteilbar. Ich müsste Sie klinisch sehen, einen Ultraschall machen, natürlich tasten, um wirklich einen klinischen Eindruck zu bekommen.

„Ich bekomme viele qualifizierte Fragen, und oft stecken hinter diesen Fragen Geschichten, die ich dann kennenlerne“, erzählt Hellmeyer - von Totgeburten etwa oder schweren Krankheiten. „Und es gibt Fragen, bei denen ich verstehen kann, dass man vorher mal online nachfragt, weil sie einfach sehr intim sind.“

Es fehlt das Vertrauen auf die Intuition

Mittlerweile hat die Beantwortung von medizinischen Fragen - auch außerhalb des Forums - per E-Mail und telefonisch immer mehr Raum eingenommen in seinem Alltag, zusätzlich zu rund 12 000 Patienten in der Ambulanz pro Jahr. Ein Symptom der Zeit, mit dem freundlich umzugehen für Hellmeyer „Service“ ist. Auf die Möglichkeit, ihn auch im Forum anzusprechen, verweist er bei jedem Infoabend für werdende Eltern. Und tatsächlich scheinen einige, die dort schreiben, ihn bereits zu kennen.

„Natürlich ist es besser, wenn die Patientinnen informierter sind“, sagt Lars Hellmeyer, Geburtsmediziner seit nunmehr 20 Jahren. Trotzdem vermisst er, im Vergleich zu „früher“, das Vertrauen auf die eigene Intuition.

Und ist es denn etwas anderes, das die Gesundheitsexperten im Netz den Fragenden und nach Informationen suchenden vor den Bildschirmen raten? Wie farbenfroh ein Bauchschmerz auch erklärt wird, wie sehr zu beherzigen die Tipps gegen einen Infarkt auch sein mögen - wenn sich etwas komisch anfühlt, gehen Sie bitte zum Arzt!

Was am Ende auch das Problem des Kardiologen Waller beim Videodreh in der Kreuzberger Fabriketage lösen sollte. Egal, ob er einmal zu häufig mahnend den Zeigefinger hebt. Wer auch immer ihm zuschaut, dankt es womöglich. „Die Herzinsuffizienz gehört zu den bedeutendsten Krankheiten weltweit.“

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