Gefährliche Unfälle bei Jägern: Waidmanns Unheil
Ein Jäger schießt im Maisfeld auf Menschen, ein anderer gerät in den Mähdrescher. Das sind keine Einzelfälle, sagen Kenner des Gewerbes. Was läuft da falsch? Besuch bei einem, der es wissen könnte.
Liebespaare zum Beispiel. Oder wilde Tiere. Oder alte Männer, die auf Stühlen sitzen.
Maisfelder scheinen für viele eine besondere Art von Anziehungskraft zu besitzen. Schließlich wachsen die Pflanzen drei Meter hoch in den Himmel und sind damit ein ideales Versteck. Und sie bieten reichlich Nahrung. Alles also, was man braucht. Im Grunde könnte man darin wohnen.
Maisfelder sind manchmal lebensgefährlich. In diesem September ist es gewesen, da saß im Havelland, in der Nähe von Tietzow bei Nauen, ein Jäger auf seinem Hochsitz. Plötzlich hörte er in der Dämmerung ein Rascheln. Wildschweine im Maisfeld, dachte er. Er legte an und schoss. Aber seine Vermutung hatte ihn getrogen, es waren nicht Wildschweine, die da geraschelt hatten, sondern Menschen. Ein 31-jähriger Mann war auf der Stelle tot, seine 23-jährige Begleiterin verletzt.
Das Maisfeld: Schauplatz eines Dramas
Nicht weit entfernt vom Unglücksort, in Paulinenaue, war ein paar Tage später erneut ein Maisfeld Schauplatz eines Jägerdramas. Ein 81-Jähriger hatte sich auf einem Stuhl ein gutes Stück weit ins Feld gesetzt, etwa 30 Meter vom Rand entfernt, und wartete mit seinem Gewehr auf Wild. Er konnte sich seines Jagdglücks sicher sein; denn soeben hatte der Feldbesitzer begonnen, mit seinem Mähdrescher, 7,50 Meter breit, den Mais abzuernten. Wildschweine und andere Feldbewohner ergreifen die Flucht, wenn sie das 598-PS-Monster hören, und werden dann leichte Jägerbeute.
Es kam anders. Die Maschine erfasste den Jäger selbst, zog ihn in ihr Häckselwerk und stoppte erst, als sie auf ein Metallstück traf, wahrscheinlich das Gewehr. Es dauerte zwei Stunden, bis die Feuerwehr den Mann mit schwerem Gerät befreit hatte. Im Krankenhaus musste ihm ein Fuß amputiert werden.
Natürlich sind Jagdunfälle keine Spezialität aus dem Havelland. Erst vor wenigen Tagen erschoss ein Jäger in Bayern versehentlich seine Freundin. In Österreich wurde kurz davor eine Studentin mit einem Reh verwechselt. In Niedersachsen trafen Schüsse einen 14-jährigen Radfahrer. Die Liste könnte lang und länger werden.
Debatte über Sinn und Unsinn des Jagens
Rund 350 000 Jäger gibt es in Deutschland. Wie oft es zu Unfällen kommt, ist nicht genau bekannt, denn das Statistische Bundesamt weist Jagdunglücke nicht gesondert aus. Gegner der Jagd sprechen von bis zu 40 Todesfällen pro Jahr in Deutschland. Jagdverbände halten die Zahl für maßlos übertrieben.
Die Nachrichten aus Brandenburg haben die Debatte über Sinn und Unsinn des Jagens erneut befeuert, gerade jetzt im Herbst zur hohen Zeit der Jägerei. Dabei hat die Jagd schon immer die Meinungen polarisiert, wie es stets geschieht, wenn es um Leben und Tod geht. Blutige Listen der grausigsten Unfälle publizieren Jagdgegner im Internet, so schaurig, dass einem angst und bange werden möchte. Was den einen eine Sünde wider die Natur ist, bedeutet anderen indessen deren Rettung, weil der Jäger für sie ein Heger ist. Wer ihnen zuhört, erfährt von einer Leidenschaft, die ihresgleichen sucht. Wenn der Mond am Himmel steht, die Wildsau auf die Lichtung tritt und das Adrenalin unzähmbar durch die Adern rauscht: Dich will ich, dich will ich haben. Sex ist nichts dagegen. Lebe wild und gefährlich!
Hochsitz und Pirsch – das ist in der Regel wenig gefährlich
Wie gefährlich aber geht es wirklich zu in den Wäldern und Feldern? Reinhold Rauscher ist für solche Auskünfte eine besonders gute Adresse. Der 50-Jährige aus Birkenwerder hat schon sein Leben lang mit der Jagd zu tun, ging bereits als Kind mit Großvater und Vater auf die Pirsch, hat seit fünf Jahren auch selbst den Jagdschein und eine Pacht am Werbellinsee, wo einst die deutschen Kaiser jagten, später Hermann Göring und noch später Erich Honecker. Außerdem war Rauscher bis zu seiner Frühpensionierung bei der Kriminalpolizei. Einer also, der gleich doppelt Bescheid weiß bei diesem Thema.
„Fangen wir mit den Basics an“, sagt Reinhold Rauscher, weil ihm schnell klar wird, dass er bei seinem Gesprächspartner keinen Kenner der Jagd vor sich hat. Zu den Basics gehört, dass man grundsätzlich drei Arten der Jagd zu unterscheiden hat: erstens Ansitzjagd, bei der die Jäger auf ihren „Kanzeln“ auf das Wild warten. Zweitens Pirsch, bei der zu Fuß durch das Revier gestreift wird. Drittens Bewegungsjagd, im Volksmund Treibjagd und in der Jägersprache Drückjagd genannt, weil dabei das Wild aus seinen Verstecken „gedrückt“ wird. So weit die Basics, und jetzt wird die Sache aufschlussreich.
Was ist in Nauen wirklich geschehen?
Hochsitz und Pirsch – das ist in der Regel wenig gefährlich, sagt Rauscher, aber bei den Bewegungsjagden, da fangen die Probleme an. Nicht nur, weil meist alles sehr schnell gehen muss, mehr noch, weil immer mindestens drei, manchmal aber auch sehr viel mehr Menschen beteiligt sind. Oft werden Gäste eingeladen, die zwar ihren Jagdschein, aber mitunter wenig Erfahrung mitbringen. So kann es zu Fehlern kommen. Die sich dann häufen, wenn in fröhlicher Runde schon mal die Schnapsflasche kreist. Das ist verboten, und der Jagdleiter müsste die Betreffenden ausschließen. Das geschieht jedoch nicht immer.
Aber der Fall von Nauen? Der Schuss auf das Paar im Maisfeld kam von einem Hochsitz. Was ist dort wirklich geschehen? Die Polizei schweigt vorerst, der laufenden Ermittlungen wegen. Aus dem gleichen Grund hält sich auch Frank Wilke zurück, der Vorsitzende des Jagdverbandes Nauen: „Ich will keine Vorgriffe machen.“ Reinhold Rauscher hingegen hat zumindest eine Vermutung. Vielleicht, sagt er, wollte der Jäger gar keinen gezielten Schuss auf ein Wildschwein abgeben. Möglicherweise wollte er nur vergrämen. Das wäre allerdings eine Katastrophe.
Schüsse ins Ungewisse
Vergrämen? Jäger meinen damit, dem Wild solle sein Aufenthalt verleidet werden. Dafür gibt es probate Mittel: Elektrozäune zum Beispiel, Beschallungen oder gar das Verteilen von Menschenhaar. Wildschweine sind intelligente Tiere und meiden dann solche Orte. Keine erlaubte Vergrämmethode hingegen ist es, Schüsse ins Ungewisse abzugeben. Damit hätte der Jäger nämlich gegen zwei Grundgesetze seiner Zunft verstoßen. Zum einen muss vor jedem Schuss sichergestellt sein, dass Personen- und Sachschäden ausgeschlossen sind. Zum anderen ist der Jäger verpflichtet, das Wild „anzusprechen“, wie es im Jargon heißt. Es bedeutet: Er muss sich Klarheit darüber verschaffen, auf wen er seinen Schuss abgibt. Ist das Tier etwa durch die Schonzeitregelung geschützt? Ist es trächtig? Kommt ihm eine spezielle Leitfunktion zu? Das alles muss er wissen, muss er erwägen, ansonsten „bleibt der Finger gerade“, wie Reinhold Rauscher sagt. Jägerehre außerdem: Das Wild sollte „breit“ stehen, nämlich so, dass der Schuss richtig sitzen kann, die Tötung also nicht zu viele Verletzungen und Leiden verursacht und zudem das Fleisch nicht ruiniert wird.
Was wollte jener Unglücksjäger im Inneren des Feldes?
Gegen all das hat der Jäger von Nauen verstoßen. Warum hat er aber trotzdem geschossen? „Vielleicht aus Verzweiflung“, sagt Reinhold Rauscher. Oft gerieten Jäger in finanzielle Notlagen, weil das Wild in ihrem Bezirk Getreidefelder verwüstet. Da liefen schnell gewaltige Entschädigungssummen auf, die an Landwirte zu zahlen seien, 15 000 Euro im Jahr seien keine Seltenheit. In solchen Fällen könne es schon einmal vorkommen, dass der Jäger alle Regeln vergesse und zur Schonung seines Geldbeutels zum Gewehr greife, um die Tiere zu vertreiben. Eine Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge sei noch die mildeste Konsequenz, auch fahrlässige Tötung komme infrage, der Entzug des Jagdscheins und der Waffen sowieso. Und zwar lebenslang. Ein Jagdschein ist kein Führerschein, den man nach einer gewissen Frist wieder zurückbekommt.
Und der zweite Unfall? Die Geschichte des 81-Jährigen im Maisfeld? Da legt sich auf Reinhold Rauschers Gesicht der Ausdruck eines tiefen Misstrauens. „Das ist absurd“, sagt er und meint damit: Ich glaube diese Geschichte nicht. Jägerlatein.
Landwirte und Jäger arbeiten Hand in Hand
Normalerweise arbeiten Landwirte und Jäger Hand in Hand, sie haben schließlich ein gemeinsames Interesse: Der Jäger will das Wild schießen, der Bauer will es weghaben von seinem Feld. Also informiert der Bauer den Pächter der Jagd, wenn er beabsichtigt, ein Feld zu mähen. Der organisiert dann eine Gesellschaftsjagd und trifft verschiedene Vorkehrungen. Er baut zum Beispiel sogenannte Drückjagdböcke, etwas erhöhte Sitze für die Jäger. Die haben so nicht nur bessere Sicht, sondern auch den Vorteil, von oben nach unten schießen zu können. Das erhöht die Sicherheit, schließlich kann eine Gewehrkugel sehr weit fliegen, wenn sie nicht durch ein Hindernis gestoppt wird. Außerdem legt der Landwirt meist eine Schneise durch das Feld, einen Korridor, in dem der Jäger dann das fliehende Wild erkennen kann.
Was aber wollte jener Unglücksjäger im Inneren des Feldes? Reinhold Rauscher kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. „Ich kann mir das nicht vorstellen. Das macht doch keinen Sinn, der sieht da ja gar nichts.“ Schwer vorstellbar zudem, dass der Mann nicht gehört hat, wie die riesige Maschine auf ihn zukam. „Warum ist er nicht weggelaufen?“
Rauscher und viele weitere Jäger aus der Gegend halten deshalb eine andere Version des Falls für wahrscheinlich. Vermutlich habe der Bauer den Jäger auf seinem Mähdrescher mitfahren lassen, von der Höhe der Maschine habe man schließlich beste Sicht auf fliehendes Wild. Möglich, dass der Mann dann gestürzt und so ins Häckselwerk geraten ist. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war das so.“ Um Versicherungsansprüche wegen grober Fahrlässigkeit nicht zu verlieren, habe man dann die Geschichte vom Stuhl im Maisfeld ersonnen. Aber natürlich, das weiß der Kripobeamte Rauscher gut, könnte alles auch anders gewesen sein. Er war schließlich nicht dabei.
Eines der weltweit schärfsten Waffengesetze
Tödliche Schüsse, Verletzungen, Verstümmelungen – haben die Gegner der Jagd vielleicht sogar recht, wenn sie Waffen in Wald und Flur gänzlich verboten wissen wollen? Bei dieser Frage pochen zwei Herzen in der Brust von Reinhold Rauscher. Das Jägerherz schlägt natürlich für den Waffenbesitz seiner Zunftgenossen. Das Polizistenherz hingegen will von Waffen in Privathänden nichts wissen. Aber er hat eine Zahl parat, die dieses Dilemma lösen kann. „Weniger als ein Prozent aller Straftaten werden mit legalen Waffen verübt, 99 Prozent mit illegalen.“
Zudem habe Deutschland eines der weltweit schärfsten Waffengesetze. Jäger würden mit unangemeldeten Kontrollen immer wieder auf die ordnungsgemäße Unterbringung ihrer Waffen überprüft. Werde einem Kontrolleur der Zutritt zu einem Jägerhaus verweigert, folge der Entzug der Waffen auf dem Fuß. Manchmal allerdings kommt die Gefahr gar nicht von einer Waffe. Manchmal kann es auch ein Mähdrescher sein.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite im gedruckten Tagesspiegel.