Verfassungsreferendum in der Türkei: Von Schwarz-, Weiß- und Haustürken
Nuran David Calis hört zu, er fragt, er leidet. So versöhnt er jene, die die Türkei auf dem Weg in den Abgrund sehen, mit denen, die Erdogan als Heilsbringer verehren – und bringt sie auf die Kölner Theaterbühne.
Es gibt drei Arten von Türken, die Schwarztürken, die Weißtürken und die Haustürken.
Ich zum Beispiel bin ein typischer Haustürke, erklärt Nuran David Calis und hat den Gesichtsausdruck von Menschen, die sich in einer misslichen, gleichwohl unentrinnbaren Situation befinden. Wie dauerhaft existenziell eingeklemmt. Aber was um Himmels willen ist ein Haustürke?
„Der Diener einer fremden Macht, einer mit Nähe zum Establishment, der glaubt, schon dazuzugehören, aber das ist ein Irrtum.“
Aber dann sind wir doch alle Haustürken!
Calis lächelt mit nur einem Mundwinkel. Er war mal Boxer, Türsteher auch. Dafür wirkt er irritierend sanft, in seinen braunen Augen steht ein Anflug von Melancholie. Er spricht türkisch wie andere Türken auch, doch sein Vater war ein armenischer Gießereiarbeiter, seine Mutter eine jüdische Putzfrau, beide Analphabeten. Die meisten Türken haben überschaubarere Herkünfte. Und nun ist Calis, ausgerechnet er, einer der erfolgreichsten deutschen Theaterregisseure geworden, gefragt an den großen Bühnen, ein Haustürke eben. Wenn nur diese Traurigkeit nicht wäre.
Nebenan die Keupstraße, wo die Nagelbombe des NSU explodierte
Morgens um zehn in der Kantine des Schauspielhauses Köln. Gleich ist Probenbeginn. Aber man muss da noch etwas erklären. Denn das Kölner Schauspielhaus befindet sich im Augenblick keineswegs da, wo es immer war, also in Domnähe. Es ist schon vor vier Jahren – wegen Generalsanierung – vorübergehend von der „guten Rheinseite“ auf die „schlechte Rheinseite“ gezogen, auf die „Schäl Sick“.
Der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer war der Meinung, dass auf der anderen Rheinseite bereits das bolschewistische Ausland beginne und schloss vorbeugend die Gardinen seines Zugabteils, wenn er doch mal über den Fluss fahren musste. Er wäre dem Theater wohl nicht ans andere Ufer gefolgt. Die meisten Kölner halten es anders.
Gute und schlechte Rheinseite. Weiß-, Schwarz- und Haustürken. Was für irritierende Koordinaten für einen einzigen Tagesbeginn. Und gleich nebenan ist die Keupstraße, wo 2004 die Nagelbombe des NSU explodierte. Als man endlich wusste, wer es war, dachte Calis: Die meinen auch mich!
Er ist Rassist!, sagen die Unnachsichtigen
Probenbeginn in einer 19.-Jahrhundert-Industriehalle. Schauspieler und Assistenten sind da, und in der Mitte, nebeneinander, sitzen Ismet Büyük und Dogan Akhanli. Büyük ist Geschäftsmann aus der Keupstraße nebenan, Akhanli ist Schriftsteller. Sie leben beide schon lange in dieser Stadt, aber für Akhanli ist Köln Heimat, für Büyük ist es eine Art Gefängnis, wie offener Vollzug, dauernde Fremde. Er ist Nationalist. Er ist Rassist!, sagen die Unnachsichtigen. Für den Schriftsteller ist die Erdogan-Türkei auf dem Weg in den Abgrund, für den Geschäftsmann aus der Keupstraße ist sie auf dem Heilsweg.
Ein Schwarztürke und ein Weißtürke also. Als Weißtürken, Beyaz Türkler, gelten in der Türkei die ideellen Nachfahren Atatürks, die traditionellen Eliten, westlich lebend, westlich liebend, westlich trinkend, in der Regel besserverdienend. Wenn sie verreisen wollen, nehmen sie meist das Flugzeug, die Schwarztürken nehmen den Bus. Als Schwarztürken, Kara Türkler, gelten jene, für die das Gestern die bessere Zukunft ist, ihre Gegenwart ist es ohnehin. Erdogan war immer stolz, ein geborener Schwarztürke zu sein und als Kind Sesamkringel verkauft zu haben, in einem Teil von Istanbul, den die Beyaz Türkler gar nicht erst betraten.
Was Erdogan von Ismet Büyük unterscheidet, ist, dass Letzterer erst in Deutschland bekennender Schwarztürke geworden ist. Manchmal hasst er dieses Land. Diese Dialektik erschüttert den Regisseur. Außerdem ist Ismet Büyük sein Freund. Sie haben fast nichts gemeinsam, aber sie würden alles füreinander tun.
Aber wer soll es denn sonst machen?
„Ich gebe Menschen nicht auf!“, sagt Calis nachher auf dem großen Industriehof, den das Schauspielhaus Köln in einen Garten verwandeln ließ. In dem alten Kabelwerk wurde 1904 das erste transatlantische Telefonkabel hergestellt, das Europa und Amerika verband. Heute wachsen hier aus alten Säcken, riesigen Paletten, Kisten und Fässern Blumen, Weinreben und Getreide. Jede Industriebrache ist ein verkannter Garten Eden! Nur für die menschlichen Dinge scheinen solche Utopien nicht zu gelten.
„Ich verstehe den Grad an Selbstzerstörung nicht mehr“, sagt Calis. Dreimal am Tag fragt er sich, warum er das hier überhaupt macht. Und dann fragt er: Aber wer soll es denn sonst machen?
Ja wer, wenn nicht er? Im letzten Juni hatte am Münchner Residenztheater seine Versuchsanordnung „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ Premiere. Es geht darin - frei nach Franz Werfels gleichnamigem Roman - um den Völkermord an den Armeniern, und er, das Kind eines türkischen Armeniers, hat das inszeniert. Es ist immer ausverkauft, sagt Calis.
Es lag auf der Hand, die „Vierzig Tage“ für ein Gastspiel nach Köln zu holen, aber keiner wollte die Verantwortung übernehmen. Nicht auf der schlechten Rheinseite, nicht neben der Keupstraße. „Alle haben sie unterschrieben, alle“, sagt der Regisseur; er spricht vom Protest gegen die Resolution des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern. Alle, das sind alle 119 von 120 Geschäftsleuten auf der Keupstraße; 119 sind türkisch, der 120ste ist ein deutscher Drucker.
Ein Theater-Türke konnte nur ein getürkter Türke sein
Dabei gehören die Keupstraße und Calis zusammen. Über die will ich ein Stück machen, das hat er gleich gewusst. Nein, nicht über die, mit ihnen.
2013 kam das Schauspielhaus über den Rhein nach Köln-Mühlheim, im Jahr darauf jährte sich der Nagelbombenanschlag zum 10. Mal. Der Termin war gesetzt, nur die Mitwirkenden mussten noch von ihrer Aufgabe in Kenntnis gesetzt werden. Und so standen der Chefdramaturg und sein Regisseur schließlich vor jeder Tür der Keupstraße und klopften an. Sie sahen in ultimativ erstaunte Gesichter. Was wollte das Theater von ihnen, diese Erfindung der Ungläubigen?
Sie waren noch nie im Theater, und ein Theater-Türke konnte doch nur ein getürkter Türke sein. Andererseits waren sie zu höflich, um den Abgesandten westlicher Dekadenz die Tür gleich vor der Nase zuzuschlagen. Dieses Zögern entschied alles: So entstand „Die Lücke“.
Und er? Calis weiß, dass er nun über sich reden muss. Doch es fällt schwer. Er hat begonnen, den Roman seiner Kindheit und Jugend zu schreiben. Nach vierhundert Seiten hörte er wieder auf, das hat er vorhin auf der Probe gesagt. Zu schwer. Zu nah.
Zum Duschen gingen sie ins Krankenhaus
Seine Eltern hatten sich in Istanbul kennengelernt, sie heirateten, kamen nach Bielefeld, wo die Großeltern Gastarbeiter waren. Das war Anfang der 70er Jahre. Wahrscheinlich hat Nuran David Calis Vater Aris gleich gespürt, dass er in diesem von innen und außen unterkühlten Land immer ein Fremder bleiben würde. Ihr Sohn wurde noch in Bielefeld geboren, aber er sagte zu seiner Frau: Lass uns zurückgehen! Lass uns in Istanbul ein Restaurant aufmachen!
1977 war die junge Familie zurück in ihrer Heimatstadt. Calis Geburtsort Bielefeld wäre später nicht viel mehr als eine exotische Irritation gewesen ohne den Militärputsch 1980. Die Armenier, die fast schon Ausgelöschten, haben sein Nahen gleichsam seismografisch gespürt, wieder kam es zu Pogromen. Istanbul war kein guter Ort mehr für eine armenisch-jüdische Familie.
„Meine Eltern gingen im Frühjahr 1980“, sagt Calis, „im September kam der Putsch.“ Wieder Bielefeld, Bielefeld-Baumheide, sozialer Wohnungsbau, ein Zimmer von elf Quadratmetern, kein Bad. Zum Duschen gingen sie freitags ins Krankenhaus. Aber es war nicht die Enge, nicht die Armut, sagt Nuran David Calis: „Mein Vater begann zu trinken.“ Als wäre es möglich, sich in eine Heimat zurückzutrinken, die es nie gab.
Er wuchs wie von selbst in die Sprache hinein
Bielefeld-Baumheide war ein Irrtum, jedes geleerte Glas war Berichtigung. Doch am nächsten Morgen war die Welt noch falscher als zuvor, und ein kleiner Junge suchte abends seinen betrunkenen Vater auf den Parkbänken der Stadt, ging gemeinsam mit der Mutter in Deckung vor seinen gewalttätigen Ernüchterungen.
Calis sitzt im gleißenden Sonnenlicht des Kölner Frühlings, neben ihm wachsen aus einem Kübel Weinreben, es ist Grüner Veltliner, und Osterglocken. Er sagt diesem Frühlingstag in sein unbeteiligtes Gesicht, was damals über die Kraft eines kleinen Jungen ging. Sie waren Asylbewerber, nur geduldet, sie durften Bielefeld nie verlassen, man nennt das Residenzpflicht.
Es gab viele kleine Türken in Bielefeld-Baumheide, aber die gingen nicht wie er auf eine evangelische Schule. Er wuchs wie von selbst in die Sprache hinein, die um ihn herum alle sprachen. Und er hatte Bielefeld vom ersten Augenblick an gemocht, auch seine Menschen, mit denen sein Vater nicht reden konnte. Und es war ihm manchmal unangenehm, mit seinen sprachlosen Eltern den Mitschülern zu begegnen. Der Vater spürte, dass er seinen Sohn verlieren würde an dieses fremde, kalte Land.
„Ich gehöre hier nicht her!“
Aber lange wies nichts darauf hin, dass er ihn an dessen Hochkultur verlieren würde. Nuran David Calis lernte boxen, er war nicht schlecht. Einmal wird er zuschlagen, zu hart, und sein Opfer persönlich ins Krankenhaus bringen. Und dann geschah es: Er sprach mit einem Mädchen, das er schon lange kannte - kannte, und doch nicht kannte -, denn sie standen fast jeden Tag an der gleichen Bushaltestelle. Kurz darauf gingen sie zusammen ins Theater, denn die Bielefelder Bürgertochter wollte Schauspielerin werden, es war „Kabale und Liebe“.
Schillers Sprache griff dem Sohn zweier Analphabeten in Herz, Hirn, Seele und Magen zugleich. Eine Welt ging auf, und er wusste, er würde sie nie wieder verlassen. Der Baumheidener Nachtklubbesitzer merkte auf, als ihm sein Türsteher ein seltsames Dokument auf den Tisch knallte, mit den Worten: „Ich bin raus. Ich kann mein Geld auch anders verdienen!“ Es war Calis erstes Autorenhonorar.
Auch Ismet Büyük, der erst in Deutschland zur Utopie des Gestern fand, wurde der Militärputsch 1980 zum Schicksal. Damals war er elf Jahre alt und wuchs bei den Großeltern nahe der Schwarzmeerküste auf; nun schien es sicherer, ihn zu seinen Gastarbeiter-Eltern nach Köln zu schicken. Die Urerfahrung des Elfjährigen: Wie völlig Fremde mit seinem Vater sprachen! Er zählte hier nichts, gar nichts. Es war so demütigend, der Junge schämte sich. Er schämte sich zugleich für seinen Vater und für dieses Land. Damals spürte er zum ersten Mal: „Ich gehöre hier nicht her!“
Zuhörer, Fragesteller, Übersetzer, Leidender auch
Das Stück „Istanbul“, das hier im Mai Premiere haben soll, gibt es noch gar nicht. Es entsteht gerade aus der Seelen-Lava der Beteiligten, aus dem Geist einer unbedingten Aufrichtigkeit. Calis, der Regisseur, der Haustürke: Noch ist er Zuhörer, Fragesteller, Übersetzer, Leidender auch.
Aber was ist ein Regisseur seinem tiefsten Beruf nach denn anderes? Er zwingt entschieden erscheinungsunwillige Welten, doch zu erscheinen. In Leipzig hatte Calis vor zwei Jahren Brechts „Baal“ inszeniert, das ist, zuerst und zuletzt, ein einziger großer Monolog des Geschlechts, des blinden triumphalen Triebes, der sich einen Menschen wählt. Was für ein Abend!
Wer die Psychodynamik dessen verstehen will, was unsere latent impotente Verständigungssprache „Radikalisierung“ nennt, sollte Calis „Kuffar - Die Gottesleugner“ am Deutschen Theater in Berlin sehen. Nein, ein Regisseur ist nur scheinbar jemand, der alle Fäden in der Hand hält: Er lässt sie sichtbar werden, er ist ein Übersetzer.
Irgendwann an diesem Probenvormittag wird der Schwarztürke Ismet Büyük dem Weißtürken Doghan Akhanli die Hand auf den Arm legen: wie man das bei einem Freund macht, beschwichtigend, brüderlich, tröstend.
Er spürte die Stadt wie eine Umarmung
Der Schriftsteller Dogan Akhanli wurde 1975 in der Türkei verhaftet, wegen Kauf einer marxistischen Zeitschrift. Fast zu Tode gefoltert, floh er 1991 nach Deutschland und kam nach Köln.
Um seinen sterbenden Vater noch einmal zu sehen, kehrte er im August 2010 gegen den Rat seiner Kinder und Freunde zurück. Alles begann von vorn. Als er Köln wider Erwarten ein halbes Jahr später wiedersah, spürte er die Stadt wie eine Umarmung.
Im Angesicht des jeweils anderen, gewissermaßen im Angesicht des Gegners, sprechen sie darüber, wie sie wurden, was sie sind, oft am Rand des Kaum- noch-Mitteilbaren. Dokumentarisch-existenzielles Theater. Hier in Köln-Mühlheim, wo das erste transatlantische Kabel hergestellt wurde: Verschiedene Kontinente zu verbinden, ist demnach eine originär Mühlheimer Angelegenheit.
„Wir haben fast nichts gemeinsam, doch wir würden alles füreinander tun.“ Diesen Satz versteht letztlich kein Aufklärer, und der türkische Staatsgründer Kemal Atatürk war gewiss einer der größten. Und trotzdem. Was könnte menschlicher, hoffnungsvoller, zukünftiger sein als dieser Satz? Wie gut, dass wir alle noch viel mehr als Aufklärer sind.
Kerstin Decker