Israel und der Terror: Vertrauter Schrecken in Tel Aviv
Seit Monaten werden Israelis mit Messern angegriffen, zuletzt auch mit einer Maschinenpistole. Der Jüdische Weltkongresses warnt: Juden blieben die Hauptziele von Terror. Warum in Tel Aviv dennoch der Alltag weitergeht.
Dass bald wieder Blut fließen wird, glauben sie alle in dieser Bar am Rothschild Boulevard in Tel Aviv. Weil der Winter so mild ist, sitzt Gal Dahan mit ein paar Freunden draußen auf der Holzveranda. Sie trinken importiertes Bier aus Deutschland, und Dahan sagt: In einigen Stunden, spätestens ein, zwei Tagen, werde wieder irgendjemand auf irgendeinen Passanten losgehen, wahrscheinlich mit einem Messer. Der nächste Polizist, vielleicht ein Soldat, werde den Angreifer erschießen.
Anders als in den vergangenen Monaten war es zuletzt kein Messer. Der Mann, der am Freitag in Tel Aviv zum Morden loszog, hatte eine Maschinenpistole. In einer Bar in der belebten Dizengoffstraße, nicht weit vom Rothschild Boulevard, hatten ein paar Freunde gerade auf einen Geburtstag angestoßen. Im Lebensmittelgeschäft nebenan schaute sich der Attentäter zunächst die Waren an, sprach mit dem Verkäufer. Dann legte er seinen Rucksack auf einem Einkaufswagen ab, zog seine Waffe heraus, trat vor die Tür und feuerte sofort auf die Menschen vor der Bar. Zwei starben, sieben wurden verletzt. Der Täter flüchtete, konnte aber inzwischen wohl identifiziert werden: Es soll sich um einen 29-jährigen Araber handeln, der israelischer Staatsbürger ist und im Norden des Landes wohnt. Sein Vater meldete sich bei der Polizei, nachdem er den Sohn im Fernsehen auf Bildern der Überwachungskameras erkannt hatte. Einige Tage später wird der Attentäter bei einem Gefecht mit der Polizei erschossen.
Bislang galt ausgerechnet das Viertel um die Dizengoffstraße als sicher
In Israel ist Alltag, was viele Europäer erst in diesen Wochen zu erfahren beginnen: ein Leben mit permanenter Anschlagsgefahr, ein Leben im Daueralarm. Seit dem Massaker in Paris Mitte November hat es in Israel Dutzende Angriffe gegeben. Die meisten davon mit Messern oder Scheren, einige mit Autos, nun auch mit einer Schusswaffe. In den vergangenen Monaten starben 25 Opfer, 125 palästinensische Attentäter wurden erschossen.
Sind das noch Neuigkeiten – aus diesem Land, in dieser Zeit?
Bislang galt der Norden Tel Avivs, das Ausgehviertel rund um die Dizengoffstraße, als friedlichste Gegend im ganzen Land. In der Bar am Rothschild Boulevard sagt der IT-Spezialist Gal Dahan: „Auch diese Anschlagswelle geht vorüber. Da gab es Schlimmeres.“
In Israel aufzuwachsen heißt, täglich von Sicherheitsleuten kontrolliert zu werden: An Schulen, Bahnhöfen und Einkaufscentern stehen Bewaffnete mit Detektoren. Liegt irgendwo ein Rucksack, wird die Straße gesperrt. Jeder Israeli kennt den Weg zum nächsten Luftschutzbunker – und das Geheule der Sirenen, das von Raketen kündet, die von der Hamas aus dem Gaza-Streifen abfeuert werden.
Trotz Anschlägen und Kriegen - Israel boomt
Und doch, das sagen sie auch in der Bar am Rothschild Boulevard, hat sich der Terror in diesen Wochen verändert, hat er eine neue Qualität angenommen. Oft noch kindliche Einzeltäter, ganz ohne Führung, greifen auf die simpelste denkbare Weise an. Das erzeugt einen gefährlichen Daueralarm: Im Busbahnhof von Beersheva wurde kürzlich ein Einwanderer aus Eritrea mit einem Attentäter verwechselt, niedergeschossen und gelyncht.
Wo jeder Palästinenser ein Terrorist sein könnte, ist auch jeder Palästinenser verdächtig. „Wenn ich Bauarbeiter an der Straße sehe“, sagt Gal Dahan, „laufe ich automatisch schneller.“ Sollte das stimmen, muss Dahan ständig auf der Flucht sein. Allein in Tel Aviv gibt es hunderte Baustellen, und dort arbeiten fast nur Palästinenser. Obwohl das Land seit seiner Gründung mit Attentaten, Ausschreitungen und Angriffen lebt, boomt Israel und braucht dringend Arbeitskräfte. Wo man hinsieht, entstehen Türme, ragen 50 neue Etagen in den Himmel der Mittelmeerstadt, in der eine Zweiraumwohnung oft 10000 Schekel pro Monat, also 2500 Euro, kostet. Palästinenser schnippeln und wischen auch in Caféküchen und Humusläden, denn in der Westbank und den arabischen Dörfern fehlen Jobs. Der Mann, der kürzlich in Tel Aviv einen Rabbi erstochen haben soll, arbeitete hier in einem Restaurant.
Durch israelische Städte patrouillieren Spezialeinheiten. Rund um Israel brennt die Welt sowieso. Im Süden, auf der ägyptischen Halbinsel Sinai, herrscht der „Islamische Staat“ (IS), Kairo hat die Kontrolle längst verloren. Nebenan im Gaza-Streifen regiert die Hamas – ebenfalls religiöse Fanatiker, auch wenn der IS der Hamas wegen ihrer vermeintlichen Liberalität mit Krieg gedroht hat. Nordöstlich von Israel wiederum, in Syrien, herrscht Krieg. Und im Nordwesten, im Libanon, massakrieren Sunniten wieder Schiiten. Nur im Hass auf Juden sind sie sich einig.
Ein paar Fußminuten von der Bar am Rothschild Boulevard steht Yael Peretz nachts vor einer Eisdiele mit einer Macadamia-Kugel in der Waffel. Mit ihren hellen, großen Augen und blonden, lockigen Strähnen sieht sie viel freundlicher aus, als sie sich anhört. „Schusswaffen haben die Araber zum Glück nur selten“, sagt sie. „Aber wenn sie Messer nehmen, kann man wenig machen. Wir können sie leider nicht zwingen, nur mit Löffeln zu essen.“ Und hätten die Extremisten keine Messer, sagt sie, nähmen sie wahrscheinlich angespitzte Bleistifte.
Der Terror ändert sich
Yael Peretz, 20, hat gerade die Armee verlassen. Minütlich betrachtet sie auf ihrem Handy via Tinder, der Dating-App, die Fotos junger Männer. Denkt sie an die kommenden Jahre, denkt sie an: Studieren, Strand, Tanzen. Jugendliche in Europa denken seit dem Massaker im Pariser Ausgehviertel und den Terrorwarnungen in München vielleicht nicht mehr ganz so unbeschwert an volle Clubs. In Israel bleibt es dabei: Der Alltag muss weitergehen.
Wenn es hier eine Gewissheit gibt, dann die, dass Gewalt immer wieder neue Formen annimmt, dass sich die Angreifer und ihre Methoden verändern. In den 1970ern entführten linke Palästinenser mehrfach Flugzeuge – die israelischen Geheimdienste bauten daraufhin über den Nahen Osten hinaus ein Spitzelnetz unter den Militanten auf.
In den 80ern rief die autoritäre, aber sozialdemokratisch orientierte Palästinenserführung zur Intifada auf – die Armee drang während des Aufstandes in jedes Dorf der besetzten Gebiete ein.
In den 90ern gab es mit dem Friedensvertrag von Oslo zunächst Ruhe, diese endete aber im Jahr 2000 mit der zweiten Intifada. Inzwischen war die islamistische Hamas mächtig geworden. In Bussen und Bars sprengten sich Selbstmordattentäter in die Luft – Israel riegelte die Palästinensergebiete ab und walzte Häuser der Angreifer nieder.
Seit den Nullerjahren feuert die Hamas aus dem Gaza-Streifen mit Raketen auf Israel – diesmal bauten die Sicherheitskräfte das sekundengenaue Abwehrsystem „Iron Dome“. Dessen Stationen berechnen die Flugbahn der Geschosse. Steuert eine Rakete auf ein Wohnviertel zu, steigt ein Abwehrgeschoss auf und zerstört sie im Flug.
20 Prozent der Bevölkerung bleiben oft unter sich: die arabischen Israelis
So wenig die Bevölkerung zur Panik neigt, so spürbar und allgegenwärtig ist die latente Furcht. In Jaffa, im Tel Aviver Süden, meiden einige Juden palästinensische Läden. In Jerusalem gehen sich Palästinenser und Juden schon von Weitem aus dem Weg. Und viele fahren nicht mehr durch die arabischen Dörfer in Nordisrael, aus Angst, mit Steinen beworfen zu werden.
Gal Dahan, der IT-Spezialist aus der Bar, kennt keinen Palästinenser persönlich. Er ist mit seinem Studium fertig und durch Europa und Südamerika gereist, er steht für die Zukunft des hoch technologisierten Landes. Doch er sagt, so schnell werde er keinen der 1,3 Millionen israelischen Araber kennenlernen. Auch Yael Peretz sieht Palästinenser nur im Vorbeifahren.
In Israel hat sich als gefährlich erwiesen, dass die 20 palästinensischen Prozent der Bevölkerung unter sich bleiben. Die israelischen Araber sind überwiegend sunnitische Muslime, wohnen in eigenen Vierteln, arbeiten oft zusammen auf Baustellen und in Küchen. Viel stärker gilt das noch für die Palästinenser in der Westbank, für den abgeriegelten Gaza-Streifen sowieso.
Es gibt Israelis, die diese Isolation durchbrechen wollen, die nicht an einen schnellen Frieden glauben, aber an die Möglichkeit von Fortschritt. Arik Segal ist einer von ihnen.
Segal, 36, geschorenes Haar und geruhsamer Gang, lebt in Tel Aviv ein paar hundert Meter entfernt von der Bar, auf die am Freitag geschossen wurde. Er hat Internationale Beziehungen in Kanada studiert und hält Vorträge an Hochschulen. Er ist Gast internationaler Delegationen und trifft in der Türkei und in Jordanien regelmäßig Palästinenser. Klar müsse Israel alle militärischen und nachrichtendienstlichen Mittel nutzen, sagt Segal, doch immer neue Abwehrtechniken zu erfinden, reiche nicht.
„Seit dem letzten Gaza-Krieg gibt es keine Hoffnung – nicht in absehbarer Zeit“, befürchtet er. Die nächste Antiterrorerfindung müsse eine präventive sein: kluge Sozialpolitik.
Im Sommer 2014 hat die israelische Armee Gaza angegriffen. Die Hamas hatte Israel zuvor mit Raketen beschossen. Nach UN-Angaben starben 67 Israelis, die meisten Soldaten, und 2101 Palästinenser. Selbst wenn Mahmud Abbas, der allein gelassene Palästinenserpräsident, zur Ruhe aufriefe, sagt Segal, selbst wenn die Hamasspitze dies täte, bewirke das wenig: „Die Straße würde nicht hören.“
Wer heute zusticht, kennt die Hoffnung nicht, die beide Seiten in den 90ern hatten, als mit dem Oslovertrag der Frieden greifbar war. Wer heute arabischer Teenager ist, profitierte nie von der Palästinenserführung. Wer daher heute von Gewalt abgehalten werden soll, braucht eine völlig neue Perspektive.
Auch der Armeegeheimdienst will Investitionen in den Palästinenser-Gebieten
Arik Segal plädiert dafür, dass in der Westbank – mit israelischem Geld – Betriebe, also Arbeitsplätze entstehen. „Erst wenn die Menschen etwas Sinnvolles zu tun haben, kann es Ruhe geben.“ Und erst dann werde man über den Abzug aus der Westbank sprechen.
Segal ist nicht der Einzige, der das so sieht. Armeegeheimdienstchef Herzl Halevi legte sich sogar mit den regierenden Konservativen an. Halevi hatte sinngemäß erklärt, die Palästinenser bräuchten etwas, das zu verlieren sie scheuten.
Die Gewalt im Nahen Osten aber führt auch dazu, dass junge, jüdische Israelis ihre Perspektive woanders sehen. Allein in Berlin sollen inzwischen 30 000 Israelis leben. Das vom Terror erreichte Europa, für viele gilt es noch immer als sicherer, freier als das eigene Land. Gerade aus Frankreich aber sind zuletzt tausende Juden den umgekehrten Weg gegangen.
Was also tun?
Politanalyst Segal sagt, er gehe davon aus, dass es das halbwegs unbeschwerte Israel noch lange geben wird. Nur wie lange und wie unbeschwert, hänge eben auch von der Sozialpolitik ab: Im nächsten Antiterrorkampf müsste in die Palästinensergebiete investiert werden. Yael Peretz, die blonde Soldatin, glaubt nicht, dass man „mit ihnen“ – den Palästinensern – bald wird zusammenleben können. „Aber nebeneinander vielleicht, mit vielen Zäunen?“
Gal Dahan, der junge Akademiker aus der Bar, wagt keine Prognose. „Ich lebe auf Sicht“, sagt er. „Aber wir werden uns flexibler schützen müssen.“ Ob dann die Jungen noch feiern und die Alten noch Boule spielen, weiß Dahan nicht. Er wird sich überlegen, ob er nicht woanders Geld verdienen kann – die Mieten sind in New York kaum höher, die Löhne schon. Erst mal aber, erzählt er, wolle er sich ein Surfbrett kaufen. Dann nimmt er den letzten Schluck seines Importbieres.
Man sehe die Welt in Israel anders als in Europa, sagt Gal Dahan. Er habe eine Freundin aus Köln gehabt, auffällig sei gewesen, dass sie beim Krimischauen oft mit den Gangstern im Film mitfieberte. „Ich finde das falsch“, sagt Dahan, „der Staat sollte gewinnen.“ Und bisher habe sein Staat auch immer einen Weg gefunden, auf den Terror zu reagieren.
Knapp 14 Stunden später sticht ein 21-jähriger Palästinenser einen Polizisten in Jerusalem nieder. Soldaten erschießen den Angreifer.
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