DGB-Chef Michael Sommer hört auf: Vergeben kann er nicht - vor allem nicht Gerhard Schröder
Von der Agenda 2010 bis zum Mindestlohn: Zwölf Jahre war Michael Sommer Deutschlands Gewerkschaftsboss. In der Zeit hat er Angela Merkel schätzen gelernt - ihren Vorgänger aber gar nicht.
Schmal ist er geworden im Gesicht, sehr schmal. Und grau. Michael Sommer ist Jahrgang 1952. Kein Alter, normalerweise, um in Rente zu gehen. Aber was ist schon normal, wenn man da oben steht. Vorsitzender aller deutschen Gewerkschaften, zwölf lange Jahre an der Macht. Jedes Wort steht in der Zeitung, jeder Schritt wird hinterfragt und bewertet. Immer unter Beobachtung, da zählen die Jahre wahrscheinlich doppelt. Zumindest für diesen Mann: Aus kleinsten Verhältnissen stammend hat er sich hochgearbeitet. Mit Gerhard Schröder hat Sommer mal eine ganze Nacht lang über ihren harten Weg von ganz unten nach ganz oben philosophiert. Aufgewachsen in Zeiten, als die Kinder alleinstehender Mütter noch „Bastarde“ geschimpft wurden.
Diese Herkunft, diese Geschichte, eint die beiden. Der Altkanzler hat aus dem sozialen Aufstiegskampf ein Übermaß an Kraft und Selbstbewusstsein gezogen. Michael Sommer dagegen kämpft bis zum Schluss mit dem Zweifel, der Angst. Zu versagen, nicht zu genügen, nicht wirklich hineinzupassen in diese bessere Gesellschaft. Das macht was mit so einem Mann. Als Sommer nach seiner letzten Wahl zum Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) vor vier Jahren laut und unüberhörbar gesagt hat, das werde die letzte, die wirklich letzte Runde sein, da hielten das viele noch für Eitelkeit. Der will wohl 2014 auf Knien zum Weitermachen gebeten werden.
Sein Körper hat ihm Notsignale gesendet
Sommer jedoch brauchte den selbst gesteckten Abschlusspunkt, diese Endlichkeit des Drucks. Sein Körper, dieser untrügliche Seismograf der Seele, hatte ihm längst die ersten Notsignale gesendet. Magengeschwüre, Gallenoperation, das ganze Programm. Aus dem beleibten Mann mit dem runden Gesicht, der gern einen guten Roten trank, wurde einer, der jeden Bissen sorgsam wählt und mit Wasser runterspült.
Sommer hat auf das Ende seines Jobs hingearbeitet. Schon im vergangenen Jahr hielt er in Bayern, im kleinen Kreis der Betriebsräte, erste Abschiedsreden. Seine letzte große Rede für den DGB-Kongress an diesem Wochenende liegt lange fertig in der Ledermappe. Das Büro hat er Ostern schon mit der Tochter ausgeräumt. Sein Nachfolger, Reiner Hoffmann, ist eingearbeitet. Weit vor der Zeit verlässt Sommer die Chefetage. Flucht? Vielleicht auch das. Auf jeden Fall ein selbst gewählter Schritt in die Freiheit, in die Unabhängigkeit.
Nun sitzt er im „Cavallino Rosso“, seinem Lieblingsrestaurant in Berlin-Mitte und scherzt mit der Kellnerin. Selbstverständlich auch heute ein paar Spaghetti zur Vorspeise, „was sonst“. Die letzten Abschiedsinterviews sind gegeben, und Sommer erzählt jetzt gelöst von Mascha Kaleko, einer Lyrikerin aus Kladow. Gleich um die Ecke seines Hauses hat Kaleko gewohnt und in den 20ern und 30ern Gedichte verfasst. Es sind kleine Kabinettstückchen, voller Melancholie, Traurigkeit und Witz über den „kleinen Ruhm“, den man gießen und düngen muss, damit er einem erhalten bleibt. Sommer liebt diese Gedichte, sie nehmen dem Alltag die Schärfe. Jetzt, wo der Job getan ist, schaut Sommer mit einem guten Gefühl zurück. Und grinst in sich hinein, ja, Genugtuung ist auch dabei. Heute mal Kokosmakronen zum Nachtisch? „Na klar!“
Jetzt: Warum der Abschied zur richtigen Zeit kommt
Eigentlich könnte es kaum einen besseren Zeitpunkt geben, um das Amt des Gewerkschaftsbosses abzugeben. Seit Dezember regiert die große Koalition. Das Ausgleichende, das Vermittelnde, das liegt Michael Sommer ohnehin. Aus seiner Zuneigung für ein politisches Bündnis von Union und SPD hat er nie einen Hehl gemacht. Das betrifft übrigens auch die Position, die er sich für Angela Merkel in dieser Koalition gewünscht hat, nämlich das Kanzleramt. Obwohl Sommer seit Jahrzehnten Sozialdemokrat ist. Aber dazu später.
Dass Merkel und ihr Vizekanzler Sigmar Gabriel nun die Rente mit 63 einführen und einen flächendeckenden Mindestlohn, das muss das Herz eines jeden Gewerkschafters höher schlagen lassen. Sommer nickt zufrieden, wenn man ihn darauf anspricht. Dass diese Entwicklung nicht allein durch die Kampfeskraft der SPD und die soziale Einsicht der Union entstanden ist, sondern auch mit ihm zu tun hat, mit der DGB-Kampagne „Wert der Arbeit“ und mit seinem beharrlichen Bohren dicker politischer Bretter, vor allem bei der Union: Das schmeichelt Sommer natürlich, selbst sagen würde er so etwas nie.
Als Michael Sommer seine Karriere als Pressesprecher, Referent, später Vorstand bei der Postgewerkschaft Mitte der 90er startete, da hatte er bereits hautnah erfahren, was ein paar Jahre später über das ganze Land hereinbrechen sollte: Das Ende der guten alten Zeiten, in denen die Leute ordentliche Jobs hatten, soziale Absicherung bis hinein in die Arbeitslosigkeit. 1995 wurde aus dem Postbeamtentum der Bundesrepublik eine Aktiengesellschaft, es gab Unsicherheit, Jobverluste. Die Globalisierung bedrängte den deutschen Arbeitsmarkt.
Früher hat er mal Briefe ausgetragen
Sommer hat als junger Mann mal Briefe und Pakete ausgetragen, dann studiert. Später hat er nur noch als Gewerkschafter und Funktionär gearbeitet. 2001 ging Sommers Postgewerkschaft in der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf. Es war der Anfang vom Ende der alten Ordnung im Arbeitnehmerlager. In den zehn Jahren danach zerbröselten die Einheitsgewerkschaften, der gemeinsame Kampf um die Rechte aller Arbeitnehmer wurde abgelöst von den Schlachten um die partikularen Interessen einzelner Berufsgruppen – heute sichtbar für alle, wenn mal wieder die Piloten um zweistellige Gehaltserhöhungen streiken und bei der Lufthansa nichts mehr geht.
Als die Delegierten Michael Sommer im Mai 2002 zum Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes wählten, wurde die Millionenorganisation eigentlich nur noch von ihrer alten Geschichte und dem Kampfgeschrei der Führer der Einzelgewerkschaften zusammengehalten. Im Inneren kriselte es in dem Riesenladen bereits an allen Ecken und Enden. Der neue Vorsitzende Sommer galt nicht als visionäre Aufbruchfigur, sondern vielmehr als kleinster gemeinsamer Nenner. Als „Doppelkopf“ wurde er damals von Journalisten beschrieben: Einer, der nicht genau wusste, wohin er die Gewerkschaftsbewegung führen soll und daher immer hin- und herpendelte zwischen linkem Kampfgeheul und Modernisierungskonzepten, aus denen fast nie etwas wurde. Dass sich da „was großes Tiefgreifendes verändert“, sagt Sommer später, das habe er damals wohl gespürt. Aber er ist Absolvent des Otto-Suhr-Instituts in Berlin, der Kaderschmiede der westdeutschen Linken. Konjunkturprogramme, Steuererhöhungen, der Kampf gegen oben: All das ist so sehr ein Teil von ihm, dass er es zu dieser Zeit nicht hinterfragen kann.
Damals: Wie Sommer und Gerhard Schröder sich entzweiten
Vielleicht ist der 14. März 2003 deshalb so einschneidend für Sommers Leben und alles, was danach kam, von Hartz IV bis hin zur Rente mit 67. Weil er den rasanten Bedeutungsverlust der ehrwürdigen Gewerkschaftsbewegung genauso gespürt hat wie seine eigene Ohnmacht, den Niedergang aufzuhalten. An jenem Märztag jedenfalls trat Gerhard Schröder an das Rednerpult im Deutschen Bundestag und legte mit der Agenda 2010 den sozialpolitischen Hebel in Deutschland um. Dieses Ende des bis dahin über Jahrzehnte hinweg aufrechterhaltenen Sozialstaatsgefüges hat nicht nur den Gewerkschaften schweren Schaden zugefügt, weil ihren Mitgliedern das Vertrauen abhanden kam.
Sommer traf jene Agenda-Rede, wie einen im Boxring die Linke trifft, wenn man ohnehin schon taumelt. Schröder hatte ihn Stunden zuvor unterrichtet, er wollte keine Diskussion, er pfiff auf einen Schulterschluss. Die Gewerkschaften hatten sich bis dahin als Kampftruppe der SPD verstanden, hatten Schröder ins Kanzleramt geholfen. Am 14. März 2003 brach dieses Traditionsbündnis entzwei.
Sein Blick wird eisig, spricht man ihn auf Schröder an
Für Michael Sommer war dieser Vormittag die Offenbarung einer persönlichen Geringschätzung, er war diesem Kanzler schnuppe. Noch heute wirkt das nach, Sommers Blick wird eisig, wenn die Rede auf Schröder kommt. Eine Schmach, die wohl nur noch davon übertroffen wurde, dass er auch später noch mit diesem Kanzler Kontakt halten musste. Weil es nun mal sein Amt erfordert hat. Nachtragend ist dieser Michael Sommer bis hinein in die Bitterkeit. Seiner Mutter hat er am Sterbebett versprochen, vom Vater, der sich – verheiratet und in guter beruflicher Position – nie um ihn gekümmert hat, kein Stück Brot zu nehmen. Er wird dieses Versprechen halten. Und auch mit Schröder nie mehr ein persönliches Wort wechseln.
Der DGB-Vorsitzende Sommer hat nach 2003 lange gebraucht, um sich klar darüber zu werden, welchen Wert er eigentlich für die Gewerkschaften hat. Die Globalisierung, den Verfall von Tarifverträgen, Minijobs, Hungerlöhne, den Mitgliederschwund: Er konnte das alles nicht aufhalten. Er litt unter den Grabenkämpfen der Mitgliedsverbände und ihrer Bosse. Besonders setzten ihm die Klagen der Mitglieder zu, die nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes nun unmittelbar auf Sozialhilfeniveau absacken oder mit Kleinstrenten nach einem langen Arbeitsleben auskommen müssen. „Warum hast du das nicht verhindert?“ Das ist wohl die entscheidende Frage, die sich Michael Sommer auch immer wieder stellt. Aber hinschmeißen?
Sommers wichtigste Lehre aus diesen frühen Jahren des 21. Jahrhunderts: „Gewerkschaften sind keine Erfüllungsgehilfen für Parteien.“ Sie haben eigene Ziele, wollen ihren Mitgliedern zu einem besseren Leben verhelfen. Deshalb begann Sommer, sich noch näher mit dem „Klassenfeind“ zu beschäftigen. Als Sommer Angela Merkel, die CDU-Vorsitzende, zum ersten Mal in seine Führungssitzung einlud, „war die Hölle los“, sagt er. Als ob der Teufel zum Gebet geladen wird.
Morgen: Mit welchen Gefühlen Sommer dem Abschied entgegenblickt.
Aus diesem Treffen ist später etwas entstanden, worauf Sommer nachhaltig stolz ist: das Konjunkturprogramm in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Merkel, er und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt haben es zusammengestellt, als der Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 und 2009 die Wirtschaft in die Knie zu zwingen drohte. „Am dritten Advent“, erinnert er sich und erzählt davon wie von einem Gaunerstreich. Mit dem Kurzarbeitergeld konnten die Leute ihre Jobs behalten und Deutschland war das einzige europäische Land, das glimpflich durch die Krise kam.
Nicht wenige in den starken Einzelgewerkschaften wollten damals lieber die verhassten Banken verstaatlichen und dem Kapitalismus endgültig den Gar ausmachen. Sommers eigene Tochter, sie ist Mitte zwanzig und auch schon tief drin im Gewerkschaftsbusiness, wollte das übrigens auch. Linke Familie eben, die Sommers. Der Vater hat ihr damals erzählt, dass er mit 19 Jahren auch von der Staatsbank geträumt habe. Inzwischen kenne er die Banker und wisse, dass sie alle ähnlich denken, die Beamteten und die Privaten. Seitdem sieht er die Dinge pragmatischer. Was nützt es, die Banken zu zerschlagen, wenn die Arbeitnehmer in den Betrieben danach keine Jobs mehr haben? Sommer kämpft seine Klassenkämpfe nicht auf den Barrikaden, hat er nie gemacht. Vielleicht auch nicht gekonnt. Sommer spricht lieber mit den Mächtigen, will „Teil der Lösung“ sein und „nicht Teil des Problems“.
Merkel ist er bis heute verbunden
Aus jener Zeit stammt die persönliche Achtung, die Sommer der Kanzlerin entgegenbringt. „Zuhören statt Basta“, beschreibt er Merkels Führungsstil. Bis heute hält das Band, das sie im Advent 2008 geknüpft haben. Mag sein, dass der Gewerkschaftler der Kanzlerin damals zu ihrem Image als guter Krisenmanagerin und womöglich auch zur Wiederwahl 2013 verholfen hat. Sommer hört so was immer wieder in Gewerkschafterkreisen, aber es stört ihn nicht mehr. Wenn er rausfährt ins Land und mit den Arbeitnehmern spricht, dann sagen die: Damals habt ihr uns den Arsch gerettet. „Das war mein Job“, sagt er dann und ist zufrieden.
Hat er was geschafft, das bleibt? „Mein Ziel war es, die Gewerkschaften zusammenzuhalten“, sagt Sommer über seine Aufgabe im DGB. Das mag nicht besonders ambitioniert klingen. Aber es hat funktioniert. Nie war die Beschäftigungslage deutscher Arbeitnehmer so gut, nie konnten sich so viele Leute von ihrem Job ein gutes Leben leisten. Es wird einen Mindestlohn geben, obwohl die Gewerkschafter lange Angst hatten, dass der ihre Tarifautonomie untergraben wird. Und ein Gesetz zur Herstellung der Tarifeinheit – ein Betrieb, eine Gewerkschaft – steht bevor.
Sommers Laden ist endlich wieder im Gespräch. Und er? Er hat ein bisschen Fracksausen vor dem Danach. Was macht so einer mit Anfang 60? „Halte dich an Wunder“, empfiehlt Mascha Kaleko. „Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.“
Der Text erschien auf der Dritten Seite.