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Schmerzvolle Erinnerungen. Für ihren Film „Die Folgen der Tat“ (Mittwoch, 22.45 Uhr, ARD) spricht Julia Albrecht mit ihrem Bruder Matthias.
© WDR/zero one film

RAF-Doku "Die Folgen der Tat": Urteil: lebenslänglich? Die Geschichte der Täterfamilie Albrecht

Sie wollte immer werden wie ihre große Schwester. Doch die wurde Terroristin. Vor 38 Jahren ermordete die RAF Jürgen Ponto. Susanne Albrecht half dabei. Die jüngere Schwester Julia Albrecht blickt in einem Film nun zurück – aus Sicht einer Täterfamilie.

Sie hat diese große Schwester geliebt, alles an ihr. „Tapsig wie ein Bär“ sei sie gewesen und zugleich „lässig wie eine Giraffe“. Sie mochte ihre unglaubliche Größe und die langen dunklen Haare. Sie mochte ihre Überlegenheit, die leise zurückhaltende und doch so bestimmte Art zu sprechen. In den Augen des Kindes war sie vollkommen. Und alle Verheißung des Erwachsenwerdens lag in ihrem Anblick: So werden wie Susanne, die Lieblingsschwester.

Ein italienisches Restaurant in Berlin-Mitte an einem Sonnabendvormittag. Julia Albrecht ist nicht geworden wie ihre Schwester. Und doch hat sie ihr Leben bestimmt. Es gab wohl keinen Tag in den letzten bald vierzig Jahren, an dem die damals Dreizehnjährige nicht an sie gedacht hat: an die RAF-Terroristin Susanne Albrecht. Auch das ist eine Art Geiselhaft. Urteil: lebenslänglich?

Von heute auf morgen nicht mehr man selbst sein, nur noch Schwester, Bruder, Mutter oder Vater von Susanne Albrecht. Ohne Entrinnen, ohne mildernde Umstände. Nie mehr heraustreten können aus dem Schatten eines einzigen Tages.

Der letzte Augenblick ihres ersten Lebens

Die ARD zeigt am kommenden Mittwoch „Die Folgen der Tat“. So wurde die Geschichte der RAF noch nie erzählt. So verstörend privat, ja familiär, gleichsam von der „Täterseite“ her.

Julia Albrecht kann es selbst kaum glauben, dass es diesen Film nun gibt. Nach acht Jahren Anfangen und Aufhören, Zweifeln, Neubeginn und Abbruch.

Es war ein Sonnabend, der 30. Juli 1977, hell und warm, Beginn der Ferien. Die Dreizehnjährige war mit ihren Eltern essen gegangen. Beim Nachhausekommen hörten sie das Telefon im Flur, es stand gleich hinter der Tür, der Vater nahm ab. Das war der letzte Augenblick ihres ersten Lebens. Die letzte Minute, in der sie eine fast normale Familie waren.

Susanne, 26 Jahre alt, hatte sich bei der Familie Ponto zum Tee angemeldet. Sie kam mit Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Die Pontos wollten verreisen, ihre Fensterläden waren schon geschlossen, die Koffer standen im Flur. Minuten später war Jürgen Ponto tot. Jürgen Ponto, Julias Patenonkel, Freund ihres Vaters, Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Ob er diesen Posten annehmen sollte, hatten beide noch gemeinsam beraten. Es war nicht lange her. Es war vor einer Ewigkeit.

Ihr Wunsch war ein Familienfilm, sagt die Frau, die dieses Medium noch nie vorher ausprobiert hat. Aber ihr war klar, dass nur der Film konnte, was sie wollte: Jeder sollte seine eigene Stimme haben, unmittelbar, darum sei es gegangen. Alle, die sich sonst nichts mehr zu sagen haben, an einen Tisch bringen.

Susanne Albrecht auf einem Fahndungsplakat.
Susanne Albrecht auf einem Fahndungsplakat.
© dpa

Natürlich hat sie die Schwester zuerst gefragt. Susanne Albrecht hat Nein gesagt. Warum? Julia Albrecht, Juristin und Autorin, zögert. Sie wird noch öfter zögern während des Gesprächs. Nicht in der Absicht einer Auskunftsverweigerung, aber der Idee ihres Films folgend, nicht für die anderen zu sprechen.

Und Ihre Mutter? Sie trägt diese 79 Minuten. Sie ist die Mitte.

„Ja“, sagt die Tochter, und das Wort bleibt lange im Raum stehen. So, als habe sie das immer gewusst und sei doch überrascht von der Frau, der sie selbst irgendwann „die Erziehungskompetenz“ abgesprochen hatte.

Christa Albrecht, die anonyme Anrufer bald „Mördermutter“ nannten, die sich daran gewöhnen musste, einen Buchladen zu betreten, um eine Bestellung auf ihren Namen abzuholen und plötzlich verstummten die Gespräche ringsum. Sie schliefen in der ersten Nacht nach der Tat zu dritt in einem Bett – Mutter, Vater, Kind –, und am Morgen fragte sich das Kind, ob die Schuld Susannes nicht etwas mit ihren Eltern zu tun haben müsse.

"Sie ist die Mutter einer Täterin"

Dreizehn Jahre folgten nach der schicksalsgemeinschaftlichen Nacht zu dritt, dreizehn Jahre der Ungewissheit: War die weltweit gesuchte Tochter tot oder würde sie morgen schon vor der Tür stehen? War sie schuldig oder unschuldig, und ganz egal wie: Wo können wir sie verstecken?

Christa Albrecht war gleich sehr offen für die Filmidee ihrer jüngsten Tochter. Und doch waren da große Zweifel. Sollte sie dem einen Kind helfen in einer Sache, die das andere ablehnt?

Schließlich hat Christa Albrecht zwei Tage lang vor laufender Kamera gesprochen, das war 2009. Der Rohschnitt war schon fertig – Julia Albrecht arbeitete damals wie heute mit der Regisseurin und Freundin Dagmar Gallenmüller –, als ihre Mutter sich doch gegen den Film entschied. Aus Rücksicht gegen eine Tochter, die Rücksicht wahrscheinlich für ein besonders verachtenswertes Überbleibsel der bürgerlichen Moral hielt? Erst im letzten Jahr gab sie ihr Einverständnis.

„Wann hört man Frauen dieser Generation schon öffentlich reden?“, fragt Julia Albrecht, als komme ihr der Gedanke zum ersten Mal. Ihr würden eigentlich nur „Opfer“ einfallen. „Aber dass jemand spricht, der selber auf der Täterseite zu verorten ist, das ist außergewöhnlich.“

Wer ist hier auf der Täterseite?

„Meine Mutter“, bestätigt Julia Albrecht mit sanftem Nachdruck.

Auf welcher Täterseite?

„Sie ist die Mutter einer Täterin.“

Julia Albrecht meint das vollkommen ernst. Diese Art strukturell-theoretischer Sippenhaft ist ihr plausibel. Schließlich hat sie sie selbst erlebt. Und sie hat ihren eigenen Konflikt einmal so formuliert: „Ich glaube, deswegen ist es für mich bis heute schwer, mich von der Tat zu emanzipieren, denn niemand hat dafür je wirklich Verantwortung übernommen.“ Ist das entfremdete Sprache? Zumindest setzt sie ein bestimmtes Weltverständnis voraus, rechtsförmig noch dort, wo diese Sphäre schon verlassen ist. Schon möglich, dass Susanne Albrecht in diesem Idiom nicht reden kann.

Die Filmemacherin ist keine Anhängerin des Paradoxons. Dabei ist ihr Film selber eins. Scheinbar hemmungslos privat, trifft er doch direkt den Nerv der öffentlichen Moral, das Selbstverständnis dieser Gesellschaft bis auf den heutigen Tag.

Ein Bekenntnis der ’68er, nicht das unwichtigste, lautete: „Das Private ist politisch.“ Der Film „Die Folgen der Tat“ ist vielleicht eine letzte Probe auf diesen Satz.

Die Täterseite? Julia Albrechts älterer Bruder sieht sich keineswegs dort, Matthias Albrecht sagt: „Ich bin ein Opfer, aber ein Opfer zweiter Klasse“, und das sei etwas ganz anderes, es sei die unkomfortabelste Position.

Julia Albrecht hatte Angst vor den Plakaten

Von jeder Litfasssäule, jedem Bahnhof, jeder Post, aber auch aus Schaufenstern schaute die Schwester seit dem Sommer 1977 auf die übrigen Familienmitglieder herab. Julia Albrecht ist sicher, dass die allgegenwärtigen Fahndungsplakate tief in das kollektive Gedächtnis der Zeit eingegangen sind. Der Reederei-Kaufmann Matthias Albrecht aber hatte keine Lust, täglich seiner Schwester zu begegnen.

Er hatte keine Lust auf ein Leben als Bruder des „Monsters“, ging nach Spanien. Auch die zweitälteste Schwester Elisabeth zog bald ein Leben im Ausland vor. Nur Mutter, Vater und die jüngste Tochter blieben in Hamburg.

Julia musste zur Schule, wo niemand mit ihr über Susanne sprach. Sie hatte Angst vor den Plakaten. Einerseits wollte sie die Schwester von Nahem sehen, gar streicheln, andererseits fürchtete sie nichts so sehr, wie ihr zu begegnen. Sie begann bestimmte Straßen zu meiden, entwickelte ihr eigenes Susanne-Umgehungswegesystem durch Hamburg. Es wurde erst besser, als sie anfing, jedes Plakat zu grüßen: Hallo, Schwesterchen!

Bankier Jürgen Ponto und Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurden beide Opfer der "Offensive 77" der RAF.
Bankier Jürgen Ponto und Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurden beide Opfer der "Offensive 77" der RAF.
© dpa

In dem Buch „Patentöchter“, das sie gemeinsam mit Jürgen Pontos Tochter Corinna schrieb, hat sie diese Jahre zum ersten Mal beschrieben. Aus ihrer Begegnung ist eine tiefe Freundschaft geworden, das Schlüsselwort für alles Heilende heißt: Zeit.

Die Mutter blieb stumm, bis jetzt. Aber „Folgen der Tat“ ist ihr Film geworden. Vielleicht ist er – wohl kaum beabsichtigt – in ihrer Person stellvertretend die späte Rehabilitierung einer von Grund auf verdächtigten Generation. Unfähig zur Selbst- und Weltbegegnung, unbegabt zur Aufarbeitung der Vergangenheit und vor allem ohne Talent zur Kindererziehung, insofern es um mehr ging, als am Tisch geradezusitzen und keine Schramme ans Klavier zu machen.

Die RAF, das war nicht zuletzt der Krieg der Kinder gegen ihre Eltern. Aber warum traf es diese Frau?

Christa Albrecht, Jahrgang 1926. Man kann sie heute nicht mehr befragen, das Alter hat sie nicht verschont. Sie kommt aus einer Offiziersfamilie, die beteiligt war am Widerstand gegen Hitler. Als junges Mädchen ist sie mit Mutter und Schwester in Berlin ausgebombt worden. Sie wurde Bibliothekarin, studierte Orientalistik, lernte Hebräisch und Arabisch. Und dann? „Während mein Vater an einem der beiden Schreibtische seine Doktorarbeit schrieb“, formuliert Julia Albrecht, „wickelte meine Mutter auf ihrem Schreibtisch die Kinder“, Elisabeth und Susanne. Ein typischer Frauenlebenslauf der sechziger Jahre.

Der Holocaust war erst gestern, und der Vater baut einen Pool?

Typisch? Als die Studentenbewegung begann, machte auch Christa Albrecht mit, auf ihre Weise. Sie las das „Kursbuch“ und den „Merkur“, sie las Alexander Mitscherlich, Hannah Arendt, Freud, Adorno und wen man sonst noch kennen musste. Trotzdem muss sie wohl auf bestimmte Normen des Betragens bei Tisch bestanden haben, man könnte das auch Kultur nennen, die Kinder nennen es retrospektiv „nicht locker“. Dass man die Regeln, die man bricht, zumindest kennen sollte, ist kein dummer Gedanke, der Jugend lag er trotzdem fern. Preußische Tugenden, man wisse ja, wohin die führten.

Christa Albrecht störte es nicht, dass Sohn und Töchter sich weigerten, im Poloclub Tennis zu spielen, zur großen Enttäuschung des Vaters. Der Welt in einem weißen Tennisröckchen gegenüberzutreten, bedeutet, entweder sich oder die Welt nicht ernst zu nehmen, argwöhnten die Kinder. Und als der erfolgreiche Begründer einer Hamburger Seerechtskanzlei Hans-Christian Albrecht begann, einen Pool vors Haus zu setzen, fand sogar seine Frau das zu viel. Und seine Tochter Susanne? Der Holocaust war erst gestern, und der Vater baut einen Pool?

Susanne Albrecht ging zu Hause ins Exil, verließ ihr Zimmer bald nur noch, insofern das unbedingt nötig war. Christa Albrecht spürte, wie das Kind ihr entglitt. Dass sie in ein Internat „abgeschoben“ wurde, war entscheidend für alles Spätere, betonte Susanne Albrecht immer wieder. Ihre Mutter fand jedoch Notizen der Tochter, aus denen hervorging, dass sie selbst auf das Internat gewollt hatte.

Julia Albrecht erspart ihrer Mutter nichts; der Dialog erinnert mitunter an ein Verhör, Christa Albrecht nimmt es hin. Und zeigt dabei menschliche Reife, Reflexivität und Einsicht, die erstaunen. Diese Frau besitzt etwas, das man nur „Haltung“ nennen kann.

Es gibt eine Ungerechtigkeit der Generationen gegeneinander, es wird sie wohl immer geben. Die ’68er werden es inzwischen selbst erfahren haben. Machten sie es sich mit ihren Eltern doch zu leicht?

Nach dem Mord sperrt die Polizei den Tatort im Haus der Pontos ab.
Nach dem Mord sperrt die Polizei den Tatort im Haus der Pontos ab.
© dpa

„Liebe Susanne, ... Manchmal glaube ich, daß Du nur einen Fuß vor dem Abgrund stehst. ... Weder bist Du ein Typ für Gewalt und Kälte des Verstandes. Noch kann man mit dieser Art von Gewalt irgend etwas anderes als Gegengewalt erreichen.“ So beginnt ein Brief ihres Vaters an die Gefährdete, er wird fast zur Beschwörung: „Hör auf mit dem Verzweiflungsspiel. Versuch nicht die Welt mit Bomben zu retten, sie schlägt auf Dich zurück.“ Der Mann mit Pool war doch mehr als ein Mann mit Pool. Der Brief an die Tochter ist geschrieben vor dem Mord an seinem Freund. Hans-Christian Albrecht hat ihn nie abgeschickt. Warum hat sie nicht mich erschossen?, fragte er gleich nach der Tat. Damit er länger Zeit hatte, darüber nachzudenken?

1990, nach dreizehn Jahren, war Susanne Albrecht wieder da. Richtiger: In Berlin-Marzahn wurde die Bürgerin der DDR Ingrid B. verhaftet, verheiratet, ein Kind, wohnhaft in der Rosenbecker Straße 3. Sie sprach sächsisch. Es war der vielleicht schönste Tag in Julia Albrechts Leben. Doch die Schwester hatte sie vergessen, einfach vergessen. Sie kam nicht nur aus einer anderen Welt, sie kam auch aus einer anderen Familie.

Den Kontakt zur Schwester hat sie abgebrochen

1991 verurteilte das Gericht Susanne Albrecht zu einer zwölfjährigen Freiheitsstrafe, 1996 wurde sie auf Bewährung entlassen.

Es begann ein mühsamer familiärer Prozess von Annäherung und neuem Fremdwerden. „Folgen der Tat“ ist ein Lehrstück über die Zeit. Diesen Film zu sehen, heißt zu lernen, dass da nichts einzusparen, nichts zu überspringen ist. Es heißt, den trivialen Satz, wonach die Zeit alle Wunden heilt, neu zu begreifen, in seiner ganzen nichttrivialen Zumutung.

In dieser Woche sind auch die Ermittlungen im Buback-Prozess eingestellt worden. Mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback hatte die RAF im April vor 38 Jahren die „Offensive 77“ eröffnet, wie sie das nannte. Jene Reihe von Terrorakten, der auch Jürgen Ponto zum Opfer fiel.

Susanne Albrecht lebt heute in Bremen und gibt wohl an Grundschulen Deutschunterricht für ausländische Kinder. Kurz vor dem Mord an Ponto legte sie das 1. Staatsexamen für Grund- und Realschullehramt ab. Sie hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Schwester Julia. Ihre Mutter besucht sie regelmäßig.

Dieser Text erschien auf der Reportage-Seite im gedruckten Tagesspiegel

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