Alexander Gerst startet zur ISS: Trotz aller Gefahr: "Ein befreiendes Gefühl, dass es endlich losgeht"
Alexander Gerst wird der elfte Deutsche im All sein. Am Mittwochabend startet er vom Weltraumbahnhof in Baikonur aus zur Raumstation ISS. Für ihn geht ein Traum in Erfüllung, doch es gibt Zweifel an der Mission.
Wenn die Giraffe abhebt und zu schweben beginnt, hat er es geschafft. Dann ist Alexander Gerst endlich ein richtiger Astronaut. Oder Kosmonaut, wie man hier sagen würde in der engen „Sojus“-Kapsel, wo alle Schalter und Instrumente mit kyrillischen Buchstaben beschriftet sind und die Bodenkontrolle in Russisch aus den Kopfhörern knarzt. In 100 Kilometer Höhe, so die Definition der Internationalen Aeronautischen Vereinigung, beginnt das Weltall. Nur wer diese Grenze hinter sich gelassen hat – etwa dort, wo bei einem Raumflug die Schwerelosigkeit beginnt – ist ein Raumfahrer. 537 Menschen haben das bisher geschafft.
Er will die Nummer 538 im All werden
Alexander Gerst will die Nummer 538 werden. Er hat eine vielversprechende Forscherkarriere aufgegeben, um sich jahrelang mit Raumfahrttechnik, Russisch und Rettungsübungen in der Wildnis zu plagen. Endlose Lektionen in Physik und Medizin, Trainingseinheiten in nachgebauten Raumschiffen und in Tauchbecken, die das Gefühl von Schwerelosigkeit vermitteln. Ein Privatleben gab es in den vergangenen Jahren für den heute 38-Jährigen kaum, bei 60-Stunden-Wochen, die mal in Houston stattfanden, mal in Köln oder Moskau. 400 000 Kilometer hat er dafür im Flieger zurückgelegt.
Gerst nahm das alles in Kauf, um seinem Traum näher zu kommen. Heute Abend könnte er in Erfüllung gehen: Um 21.56 Uhr MESZ sollen er und seine Teamkollegen Reid Wiseman (USA) und Maxim Surajew (Russland) von Baikonur aus mit einer Sojusrakete in den Himmel geschossen werden. Ihr Ziel ist die Internationale Raumstation (ISS). Eines der spektakulärsten Bauwerke der Menschheit, mit Kosten von mehr als 100 Milliarden Dollar mit Sicherheit aber das teuerste. Das fußballfeldgroße Konstrukt, das in 400 Kilometern Höhe um die Erde kreist, ruft extreme Reaktionen hervor: von großer Faszination darüber, was die Menschheit imstande ist zu leisten, bis hin zu großer Abneigung gegen das fliegende Milliardengrab, das kaum sinnvolle Ergebnisse liefert und Ressourcen bindet, die auf der Erde sinnvoller einzusetzen wären.
Erste Aufgabe? Urinbehälter wechseln
„Es ist ein befreiendes Gefühl, endlich auf der Zielgerade zu sein und bald abzuheben“, sagt Gerst bei einem Treffen im April. Kurz vor seiner Abschlussprüfung über sämtliche Systeme des Raumschiffs und der Abreise ins Kosmodrom Baikonur in Kasachstan ist er noch einmal nach Berlin gekommen. Sichtlich entspannt sitzt der groß gewachsene, sportliche Mann in einem Besprechungsraum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Mit Blick auf die Friedrichstraße erzählt er von den letzten Vorbereitungen. Er steckt auch dieses Mal in dem blauen Fliegeroverall, den die Astronauten der Europäischen Raumfahrtagentur (Esa) bei fast allen offiziellen Terminen tragen. Gerade in diesem vornehmen Raum wirkt das etwas seltsam – als müsste er jeden Moment damit rechnen, an die Startrampe beordert zu werden. Gerst legt das iPad beiseite, mit dem er seit Monaten detailliert über seine Vorbereitungen berichtet, in seinem Blog, auf Twitter und Facebook. „Raumfahrerrealität: Meine allererste Aufgabe an Bord der Station wird das Auswechseln des Urinbehälters der Toilette sein“, postete er kürzlich.
Forschen oder Fliegen? Wie Gerst Astronaut wurde
So witzig und belanglos manche der Nachrichten erscheinen – der Eindruck von einem unbekümmerten Mann täuscht. „Beim Flug, aber auch auf der Station kann immer etwas passieren, da muss jeder genau wissen, was zu tun ist“, sagt Gerst. Zum Beispiel wenn Ammoniak aus der Klimaanlage austritt, was schwere Verätzungen in den Atemwegen hervorrufen kann. „Dann müssen wir Atemmasken aufsetzen, rasch die nächste Schleuse erreichen, die Luke verschließen, unter Umständen kontaminierte Kleidung ablegen“, zählt er routiniert die Schritte auf – als ginge es um ein Kochrezept.
Sein Opa und "Captain Future" inspirierten ihn
Trotz aller Gefahren habe er keine Sekunde bereut, die Ausbildung zum Astronauten begonnen zu haben, sagt Gerst. Seit seiner Kindheit in Künzelsau in Baden-Württemberg träumte er davon. Inspiriert von der Trickfilmserie „Captain Future“ und von seinem Großvater, der Amateurfunker war. Als er die Antenne zum Mond richtete und den Enkel ins Mikro sprechen ließ, konnte der kurz darauf seine Stimme als Echo hören. Die Radiowellen waren bis zum Mond gejagt und dann zur Antenne zurückgekehrt. „Technik und Weltraum waren für mich unglaublich faszinierend“, sagt Gerst.
Er wusste, dass die Chance, ins All zu fliegen, extrem gering war, und studierte Geophysik. „Ich wollte wissen, wie die Erde funktioniert, was Vulkane und Erdbeben antreibt, wie man die Menschen vor den Folgen schützen kann.“ Er unternahm er Expeditionen zu Vulkanen in Neuseeland und der Antarktis. Wochenlang lebte er fern der Zivilisation, oft auch fern jeglichen Grüns, was aus heutiger Sicht kein schlechtes Training ist für einen halbjährigen Aufenthalt im All.
Als die Esa 2008 Kandidaten für ihr Astronautenkorps suchte, bewarb er sich. „Ich glaubte kaum, genommen zu werden, aber ich hätte es mir nie verziehen, diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.“ Dabei war er auf gutem Wege, in der Wissenschaft Karriere zu machen, wichtige Preise und Publikationen inklusive. Er bekam eine Zusage der Esa, da steckte er mitten in seiner Dissertation über das Ausbruchsverhalten aktiver Vulkane. „Irgendwie war das eine logische Fortsetzung. Erst habe ich mich um das Innere der Erde gekümmert, und nun kümmere ich mich um das Drumherum.“
Viele Übungen absolvierten er und die Crew im Kosmonautentrainingszentrum „Juri Gagarin“ nahe Moskau. Oft ging es darum, das Team auf alle erdenklichen Notfälle vorzubereiten: Computerprobleme beim Start des Raumschiffs, Pannen beim Ankoppeln an die Station, Druckverlust in der ISS, weil irgendwo ein Loch in der Hülle ist, Feuer an Bord, beim Außeneinsatz an der Station wird der Kollege ohnmächtig, bei der Rückkehr zündet das Bremstriebwerk nicht, die Kapsel landet nicht im Zielgebiet in der kasachischen Steppe, sondern mitten in der sibirischen Taiga.
Zwei Tage mussten sie im Schnee ausharren
Natürlich wurde auch das geübt, allerdings gleich im Wald neben dem Trainingszentrum. Fast in Sichtweite zu ihren Unterkünften mussten die drei Männer zwei Tage im Schnee ausharren, bis sie „gerettet“ wurden. Aus den Bremsfallschirmen bauten sie Zelte, aus den Sitzen der Raumkapsel Transportschlitten. Zum Feuermachen konnten sie ein Notfallset nutzen, das in jeder Sojuskapsel enthalten ist. „Wenn man abends am Feuer sitzt und Wache hält, auf die schlafenden Gefährten schaut, wächst ein unglaubliches Gefühl der Zusammengehörigkeit“, sagt Gerst. Mittlerweile sind sie auch privat ein Team geworden, besuchen sich gegenseitig mit ihren Familien.
Zu dritt haben sie auch das Maskottchen ausgesucht, das jede Crew mit in die Sojuskapsel nimmt und das nach dem Start mit der 26-Millionen-PS-Rakete nach wenigen Minuten den Beginn der Schwerelosigkeit durch freies Schweben anzeigt. Dieses Mal wird eine kleine Stoffgiraffe von Reid Wisemans Tochter dabei sein – von den Männern in Gedanken an den Film „Gravity“, den sie kürzlich gemeinsam in Moskau gesehen haben, „Giraffiti“ genannt. Von dem Film waren die Profis übrigens begeistert.
Tagsüber wird sich die Crew kaum sehen
Die Frage ist, ob das gute Verhältnis auch in der Raumstation Bestand haben wird, wo sie ein halbes Jahr zusammengesperrt sind. „Die ISS ist groß, sie hat ein Innenvolumen wie ein Jumbojet“, sagt Gerst. Tagsüber werde sich die Crew kaum sehen, weil jeder seinen Aufgaben nachgehen muss. Umso mehr freut er sich auf gemeinsame Mahlzeiten. „Ich denke, dass uns diese extreme Erfahrung, auf der Station zu sein, eher zusammenschweißen wird.“ Ähnliches habe er bei den Expeditionen in der Antarktis erlebt, dort seien Freundschaften entstanden, die bis heute halten.
Arbeiten, Sport, Schlafen: Wie der Alltag auf der ISS aussieht
Wie das Leben da oben sich am Ende anfühlen wird, kann Gerst aber auch nicht sagen. Noch nicht. Er kennt nur Berichte anderer Raumfahrer. Klar ist, die Tage werden sehr anstrengend sein. Aufstehen um sechs, danach Morgentoilette mit feuchten Lappen. Frühstück, Experimente betreuen, Mittagessen, Wartungsarbeiten, eine Stunde Sport, um gegen den Muskelschwund anzukämpfen, Abendessen, Vorbereitungen für den nächsten Tag, vielleicht noch etwas lesen oder aus der verglasten Kuppel hinab auf den Heimatplaneten sehen, den die Station mit 28 000 Kilometern pro Stunde umrundet. Einmal wöchentlich gibt es eine Videokonferenz mit der Freundin oder der Familie auf der Erde. Halb zehn ist Nachtruhe, in einem Schlafsack, der mit Klettverschlüssen an der Wand befestigt wird, damit der Astronaut nicht fortschwebt. So geht es fünf Tage pro Woche, am sechsten ist Stationsputz, am siebten frei. „Familie und Freunde werde ich vermissen“, sagt Gerst. „Und das Joggen im Regen.“
Rund 100 Experimente wird er während der sechs Monate im All betreuen. Versuche aus Physik, Materialwissenschaften, Biologie, Medizin. Bei manchen Tests muss er konzentriert arbeiten und sich intensiv einarbeiten, etwa bei medizinischen Tests, die die Reaktion des Körpers auf die Schwerelosigkeit untersuchen. Bei anderen Tests wird er kaum mehr tun, als eine fertige Experimentierbox anschließen und den Startknopf drücken.
Manch einer stellt deshalb die Frage, warum überhaupt Astronauten die Experimente vornehmen sollen und nicht Roboter, die für wesentlich weniger Geld in den Erdorbit gebracht werden können und immer leistungsfähiger werden.
Es geht nicht um Wissenschaft, sagen die Kritiker
„Die Forschungsergebnisse, von denen die meisten auch ohne Astronauten erzielt werden könnten, stehen in keinem Verhältnis zu den enormen Kosten“, sagt etwa Wolfgang Hillebrandt vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching. Eine mittlere unbemannte Wissenschaftsmission sei mit rund 500 Millionen Euro billiger als die Versorgungsflüge zur Raumstation in einem Jahr. „Im Grunde geht es nicht um Wissenschaft, sondern um andere Interessen“, sagt er. Die USA wollten ihrer Raumfahrtindustrie Folgeaufträge für die nächsten Jahre sichern und auch die Esa wolle ihre Leute beschäftigen, sagt Hillebrandt. „Ein Weiterbetrieb der Station bis 2024 oder gar 2028, wie er derzeit diskutiert wird, ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt.“
Robert Guntlin sieht das natürlich anders. Für seine Firma Access wurden bereits mehrere Schmelzversuche in der Schwerelosigkeit auf der ISS unternommen, auch Gerst wird einige Experimente dazu machen. Die Ergebnisse dienen unter anderem dazu, die Herstellung von Turbinenschaufeln für Flugzeuge zu verbessern.
Doch auch Guntlin sagt: „Es wird immer wieder der Eindruck vermittelt, die Station sei in erster Linie für die Wissenschaftler errichtet worden, aber das ist falsch.“ Vielmehr habe die ISS ihren Ursprung als politisches Projekt der Versöhnung nach dem Kalten Krieg. „Aber dadurch haben wir heute eine nützliche Forschungsplattform für Versuche in der Schwerelosigkeit, die wir gern nutzen und noch weiter nutzen sollten.“
Bemannte Raumfahrt kostet jeden so viel wie ein Kaffee, sagt er
Dass der Forscher und Astronaut Gerst die Raumstation für sinnvoll hält, ist nicht verwunderlich. Er begegnet dem Vorwurf der angeblich teueren Spielereien am Himmel mit einer einfachen Rechnung: „Jeden Bewohner eines Esa-Mitgliedslandes kostet die Raumfahrt im Jahr rund zehn Euro – etwa so viel wie eine Kinokarte. Die bemannte Raumfahrt ist nur ein Bruchteil davon, gerechnet auf jeden Einzelnen kostet sie so viel wie ein Kaffee.“
Und doch greife die Rechnung zu kurz, sagt er. Angesichts der Tatsache, dass sich die Supermächte USA und Russland derzeit auf der Erde wieder voneinander entfremden, gehe von der ISS eine wichtige Botschaft aus. „Die Station funktioniert nur, weil die beteiligten Nationen dort zusammenarbeiten.“ Damit sei sie auch ein Vorbild für das Leben auf der Erde.
Der Text erschien auf der Dritten Seite.