Von Nazis bis zu Autonomen in Berlin: Tom Schreiber - der Mann, der sich mit allen anlegt
Nazis, Hells Angels, kriminelle Clans und Autonome: Der Berliner SPD-Abgeordnete Tom Schreiber scheut vor niemandem zurück. Von den meisten Kollegen wird er dafür verhöhnt. Zu Recht?
Gerade war der Mann wieder hier. Schmächtig, grimmiger Blick, Trainingshose. Er blieb auf dem Bürgersteig vor Tom Schreibers Wahlkreisbüro stehen und spuckte gegen die Fensterscheibe. Als Schreibers Mitarbeiter fragte, was dies denn solle, drohte der Mann, er könne auch gleich ein paar Fressen einschlagen. Es ist nicht das erste Mal, dass er Ärger macht. Er wohnt im selben Gebäude, oben im ersten Stock. Tom Schreiber sagt: „Das ist unser kleiner Haus-Nazi.“
Das Büro liegt in der Köpenicker Wendenschloßstraße, gegenüber vom BVG-Betriebsbahnhof. Hinten in der Küche stehen zwei weiße Metallzylinder auf der Ablage. Überwachungskameras, eben erst ausgepackt. Die werden Tom Schreiber und sein Mitarbeiter jetzt anbringen, und zwar so, dass jeder, der künftig das Büro betritt, gefilmt wird.
Es gab in den vergangenen Monaten einfach zu viele Vorfälle. Der Typ, der die Tür eintrat. Zwei Unbekannte, die den Hitlergruß zeigten. Der beschmierte Briefkasten. Und dann der Mann, der drinnen mit der bloßen Hand auf den Schreibtisch einschlug. Ein fingerlanger Riss in der Holzplatte ist geblieben. „Zum Glück nur von Ikea“, sagt Schreiber. Er wird vielleicht einen Blumentopf draufstellen.
Das hätte Tom Schreiber, 37, nicht gedacht: dass er sich als Landespolitiker mal darum kümmern muss, in welchem Winkel eine Kamera an die Wand gehört und ob sich Splitterschutzfolie für Fensterglas lohnt. Dass jede Stunde ein Streifenwagen der Polizei vorfährt. Andererseits, das kann man so sagen, hat sich Tom Schreiber die Anfeindungen und Drohungen gegen ihn hart erarbeitet.
Er ist Sprecher seiner Fraktion für Verfassungsschutzfragen, vor allem aber ist er derjenige im Abgeordnetenhaus, der am lautesten und häufigsten all denen den Kampf ansagt, mit denen man sich eigentlich besser nicht anlegt. Den Rechtsextremen, den Linksextremen, Rockerklubs wie den Hells Angels und den kriminellen arabischen Clans. Über die Razzien gegen Mitglieder der Familie Al-Z., die kürzlich in Berlin in 16 Objekten durchgeführt werden, sagt Schreiber: „Ein guter Schritt, aber nur ein Anfang. Entscheidend wird sein, ob es zu Anklagen und Urteilen kommt.“
Störenfried oder rechts?
In der CDU gilt Tom Schreiber als Aufschneider, als penetranter Störenfried, der keine Gelegenheit auslässt, gegen Innensenator Frank Henkel zu keilen. Unter Linken ist Tom Schreiber der rechte SPD-Mann, der mit „Law and Order“ Karriere machen will. Welche Seite ist näher an der Wahrheit, Herr Schreiber?
„Keine“, sagt er. „Ich denke, ich habe schlicht einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“ Klingt ein bisschen pathetisch. Ob man ihm das glauben kann?
Tom Schreiber behauptet, es sei für ihn unerträglich, dass sich jeder Durchschnittsbürger in dieser Stadt an lästige Vorschriften halten müsse - während andere davon faktisch ausgenommen seien, weil Politik und Polizei den Konflikt scheuten. Zum Beispiel die Bewohner der linken Wohnprojekte in der Rigaer und Liebigstraße in Friedrichshain, mit denen er sich seit Monaten öffentlich befehdet. Warum sollen für deren Kneipen keine Brandschutzbestimmungen gelten, warum sollen die keine Steuern zahlen?
Seine Gegner twittern unter #tomduarsch
Die Autonomen werfen Schreiber Geltungssucht und Hetze vor. Auf Twitter erfanden sie den Hashtag #tomduarsch. Mitte Februar wollte Schreiber mit einem Reporter vom „Focus“ vor den fraglichen Häusern aufmarschieren, dort für ein Foto posieren. Er informierte die Polizei, die stellte zwei Beamte als Begleitung ab, elf weitere hielten sich bereit, um notfalls einzugreifen.
Jetzt wird Kritik laut, Schreiber binde unnötig Polizeikräfte, um Wahlkampf zu machen. Er selbst sagt: Ist es nicht schräg, dass darüber diskutiert wird, ob ein Abgeordneter sich nicht besser aus bestimmten Gegenden fernhalten sollte - dass es für ihn No-go-Areas gebe, weil es weniger Aufwand bedeute? „Das wäre doch irre“, sagt er. Und dass er sich bei dem Termin, diesen Satz sagt er wirklich, ein bisschen vorgekommen sei wie ein italienischer Staatsanwalt.
Die Anfragen stellt er in Zehnerpaketen
Für einen, der seit zehn Jahren für die größte senatstragende Partei im Abgeordnetenhaus sitzt, legt Tom Schreiber erstaunlich wenig Wert auf Diplomatie. Oft spricht er wie einer aus der Opposition. Die Regierungszeit von Rot-Rot? „Es war ein Fehler, dass im Sicherheitsbereich so viel gespart wurde.“ Die anschließenden fünf Jahre Rot-Schwarz? „Innenpolitisch gesehen vergeudete Zeit.“
Sein wichtigstes Instrument, seine liebste Waffe, sind Kleine Anfragen an die Senatsverwaltung. Zu Linken, Rechten, Rockern, Mafia. Er stellt sie reihenweise. Sind Rocker im Autohandel und in Malerbetrieben tätig? Wie viele gewaltbereite Fußballfans gibt es bei Hertha, Union, Dynamo? Wie viele Strafanzeigen werden wegen Schutzgelderpressung gestellt? Welche Fahrzeugtypen sind im Postleitzahlengebiet 10247 - dort liegen die beiden linken Hausprojekte - im vorigen Jahr angezündet worden? Acht Stück, heißt es in der Antwort. Fünf waren BMWs.
Den Reiz des Anfragenstellens hat Schreiber erst im Lauf der Zeit entdeckt. Unter Rot-Rot schrieb er nur zehn Stück. In der jetzigen Legislaturperiode sind es schon 260. Bis September will er die 300 schaffen. „Aber nicht um die Verwaltung zu ärgern, sondern um meine Themen zu bearbeiten“, sagt er. Von den 50, die er zwischen Dezember und Mitte Januar rausschickte, sind einige noch unbeantwortet. Er ist jetzt dazu übergegangen, seine Anfragen schubweise loszuschicken. Immer in Zehnerpaketen. Wer glaube, er frage wahllos, erkenne das Gesamtbild nicht. „Ich mache das wie ein Adler“, sagt er. „Ich umkreise die Dinge und packe dann zu.“ Er muss einen sehr hungrigen Adler vor Augen haben.
Was die Anfragen bringen
Spötter sagen, Tom Schreiber sei der Grund, warum die Innenverwaltung nicht zum Arbeiten kommt. Doch oft steht in den Antworten Erstaunliches, das bisher unbekannt war. Das streut Schreiber dann in der Presse. Zum Beispiel, dass bei Rockern, die unter dringendem Mordverdacht stehen, Mobiltelefone in den Gefängniszellen gefunden wurden, mit denen sie weiter ihren Geschäften nachgehen konnten. Dass sich im vergangenen Herbst 700 Hells Angels aus der ganzen Welt im Ortsteil Biesdorf trafen, wird erst im April 2016 bekannt, weil Schreiber nach einem Tipp eine Anfrage stellte. Er bekommt inzwischen viele Hinweise. Auch von Polizisten, die hoffen, dass sich Schreiber für ihre Interessen einsetzt. Denn kein Abgeordneter kämpft so laut für Personalverstärkung wie er.
Das macht er ohnehin gern: Forderungen stellen. Schreiber hat das italienische Modell zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgeschlagen, was hieße: Wird illegales Geld beschlagnahmt, geht die Hälfte in die Sanierung des Berliner Haushalts, die andere wird in weitere Ermittler und Technik investiert. Schreiber will ein Aussteigerprogramm für Rocker. Eine gemeinsame Wache von Landes- und Bundespolizei am Alexanderplatz. „Ich behaupte nicht, dass alle meine Ideen genial sind“, sagt er. Welche denn nicht? „Vielleicht die Sache mit den Segways.“ Schreiber wollte Polizisten mit den fahrenden Untersätzen ausrüsten, für nächtliche Patrouillen. Tagsüber sollte das Ordnungsamt mit den Segways Knöllchen eintreiben. Der Vorschlag wurde fraktionsübergreifend belächelt.
Als Schreiber anfing mit der Parteipolitik, interessierte er sich wenig für Sicherheitsfragen. 2001 wird er in die Bezirksversammlung Treptow-Köpenick gewählt, kümmert sich um Jugendthemen. Er engagiert sich dann aber auch gegen die Neonazi-Kameradschaft „Berliner Alternative Südost“, deren Mitglieder im Bezirk Hakenkreuze schmieren und undeutsch aussehende Imbissverkäufer verletzen. 2006 schafft es Schreiber ins Abgeordnetenhaus, 27 ist er da, in der Fraktion werden Zettel verteilt, auf denen soll jeder ankreuzen, in welche Ausschüsse er will. Schreiber wünscht sich den Innenausschuss und den für Verfassungsschutz, er darf in beide, so geht es los.
Inspiriert von Bad Boy Uli
In den folgenden Jahren wühlt er sich in die Themen ein. Zum Beispiel die Rocker. Als Vorbereitung auf eine Podiumsdiskussion kauft er sich 2012 „Höllenritt“, die Autobiografie von Ulrich Detrois, einem ehemaligen Hells Angel. Im Buch erklärt der Aussteiger mit dem Szenenamen „Bad Boy Uli“, wie Rocker mit Drogenhandel und Zwangsprostitution Geld verdienen. Tom Schreiber liest es im Türkeiurlaub am Strand. Leg doch mal das blöde Buch zur Seite, sagen seine Freunde. Aber das Thema lässt ihn nicht mehr los.
Bald kennt Schreiber die Unterschiede zwischen Hells Angels, Bandidos, Gremium und Mongols, er weiß, warum sie verfeindet sind, was ihre Abzeichen bedeuten und warum so wenige von ihnen verurteilt werden: weil Opfer und Augenzeugen unter Druck gesetzt werden. Kommt es zur Gerichtsverhandlung, sind sie so eingeschüchtert, dass sie keine Aussagen mehr machen. Viele behaupten, sie könnten sich nicht erinnern.
Hells Angels vor seiner Wohnung
Auch Schreiber spürt den Druck. Da sind etwa die dunklen Limousinen, die gelegentlich vor seinem Büro vorfahren, auf der anderen Straßenseite halten. Als Nächstes gehen die getönten Scheiben runter, und stiernackige Männer blicken herüber. Rocker? Mafiosi? Clanmitglieder? Keine Ahnung, sagt Schreiber. Er hat bei der Versicherung angefragt, ob er das Innere seines Büros gegen Vandalismus absichern könnte. Na klar, kam als Antwort. Aber nach dem, was dort schon vorgefallen ist, nur mit einem Aufschlag von 500 Prozent.
Schreiber hat sich eine Wohnung in einem anderen Bezirk gesucht, die Anschrift hält er geheim. Trotzdem standen bereits Rocker aus dem Umfeld der Hells Angels vor seiner Tür, sogenannte Supporter, das sind die für die Drecksarbeit. Kommt Schreiber nach Hause, schaut er zuerst, ob jemand im Treppenhaus steht. „Das belastet einen, das muss man aushalten“, sagt er. Und er sorgt sich um seine Familie. Dem Bruder haben sie schon drei Mal die Autoreifen zerstochen, die Eltern fanden einen NPD-Aufkleber an der Tür. „Ich weiß, dass es für mich auch richtig übel ausgehen kann.“ Manchmal schlafe er schlecht.
Die Linken aus der Rigaer waren ebenfalls schon zu Besuch in Köpenick. Jedenfalls glaubt Schreiber das, denn auf dem Rollladen prangt ein aufgesprühtes schwarzes „A“, und das steht ja für Anarchie. Schreibers Mitarbeiter hat bisher keine Chemikalie gefunden, mit der sich das A entfernen lässt.
Tom, der Linken-Hasser?
Was Schreiber dagegen mag, ist Streit um die Sache. Wie neulich in der U1, als plötzlich ein junger Mann auf ihn zukam. „Du bist doch Tom, der Linkenhasser.“ 20 Minuten hätten sie diskutiert, über das Gewaltmonopol des Staates. Einig wurden sie sich nicht, aber es hat ihn gefreut, sagt Schreiber. In seinem Büro hängt ein Schild mit drei großen Buchstaben: SMS. Das steht für „Sicher mit Schreiber“. Die Idee ist ihm schon vor Jahren gekommen.
Ex-Pirat Christopher Lauer nennt Schreiber eine Knallcharge, die von Innenpolitik schlicht keine Ahnung hat. Einen SPD-Hinterbänkler, der verzweifelt versuche, einen „Law and Order“-Politiker zu mimen. Mit bizarren Forderungen, die vor Unwissenheit strotzen. Allein Schreibers Vorschlag aus dem Herbst, junge Polizisten in Gefängnisse einzuschleusen, um dort kriminelle Strukturen aufzudecken.
Lächerlich, sagt Lauer. Als ob die Polizei Mitarbeiter habe, die so eine Rolle glaubhaft spielen könnten. So nach dem Motto: „Hallo, ich bin der Jürgen, ich verkaufe Koks.“ Sollten Schreibers Vorschläge je umgesetzt werden, bekämen Berlins Zeitungen Schlagzeilen wie „Schon wieder verdeckter Ermittler in Tegel zusammengeschlagen“. Oder eben auch: „Beamter stürzt vom Segway und bricht sich das Bein.“
Ein Altgedienter aus der SPD-Fraktion findet, Schreiber habe großes Talent, müsse aber endlich lernen, sich besser im Griff zu haben. „Er sollte begreifen, dass man, wenn man sich ständig zu Wort meldet, Neider auf sich zieht.“ Dass es auch innerhalb einer Fraktion einen Aufmerksamkeits-Proporz gebe. Dass Schreiber manchmal echt nerve.
Im Milieu der organisierten Kriminalität ist Schreiber inzwischen bekannt. Beim Besuch in der Justizvollzugsanstalt Heidering, im Stuhlkreis beim Anti-Gewalt-Seminar, begrüßte ihn einer der Häftlinge: „Ah, der Abgeordnete von der SPD.“ Er war auch in Tegel, Moabit und Plötzensee. Er hat Polizisten auf Streife begleitet, ebenso die Berufsfeuerwehr Neukölln. Manchmal setzt er sich in Gerichtsprozesse.
Zu Gast beim Rockerprozess
Wie neulich im Kriminalgericht Moabit. Auf der Anklagebank des Hochsicherheitssaals 500 sitzen elf Hells Angels hinter Panzerglas. Sie werden verdächtigt, den sogenannten Wettbüromord begangen zu haben, bei dem Anfang 2014 in der Reinickendorfer Residenzstraße ein junger Mann durch sechs Schüsse in die Brust hingerichtet wurde. Ganz hinten, am anderen Ende des Saals, hockt Schreiber auf einer der Besucherbänke, neben ihm die Frauen und Freundinnen der Angeklagten. Sie zischen und fluchen, wenn der Richter spricht, sie sagen Sätze wie „Der soll verrecken“.
Tom Schreiber ist genervt, nicht nur von den Frauen, sondern auch von der Schar von Anwälten, die die Rocker vertreten. 24 zählt Schreiber heute. „Dafür, dass die meisten der Rocker Hartz IV haben, ist das ziemlich luxuriös“, sagt er. „Bin ich der Einzige, den es stört?“ Am meisten regt sich Tom Schreiber über die Polizeibeamtin auf, die heute als Zeugin aussagen soll. Es geht um die Frage, ob die Polizei vom bevorstehenden Mord wusste und das Opfer hätte warnen können. Die Frau kann sich an den Inhalt einer wichtigen Lagebesprechung kurz vor der Tat kaum noch erinnern, sie widerspricht sich. „Ich kann das nicht glauben“, sagt Schreiber. „Wie kann man so schlecht vorbereitet sein?“
Es wird dazu jetzt eine Anfrage stellen. Ach was, Quatsch, gleich mehrere.
Störenfried? Aufschneider? Oder ein Kämpfer für die Gerechtigkeit? Vielleicht vor allem einer, der sich interessiert, der wühlt und immer mehr wissen will. Mal einer in seiner Generation, der sich entschieden hat, sich an Sicherheitsfragen abzuarbeiten und seine Kraft gegen organisierte Kriminelle einzusetzen statt für Kultur und Kreativwirtschaft.
Er feilt gerade an einem neuen Antrag, die Fraktion wird ihn beraten. Schreiber will sicherstellen, das private Sicherheitsunternehmen, die verurteilte Straftäter beschäftigen, keine Aufträge vom Land Berlin mehr erhalten. Nur ein weiterer Mosaikstein, sagt Schreiber, nur ein ganz kleiner.