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Der Spiegelsaal diente schon Hollywoodfilmen als Kulisse.
© Kai-Uwe Heinrich

Über 100 Jahre Party im Ballhaus: So soll Clärchens Seele weiterleben

Musik aus, Licht an, Clärchens Ballhaus hat ausgeschwoft. Doch es gibt Pläne, wie es für die Berliner Nachtleben-Legende weitergehen soll – trotz Renovierung.

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Um 4.53 Uhr am Sonntagmorgen bebt der ausgetretene Parkettboden im Spiegelsaal, die rund 40 verbliebenen Gäste von Clärchens Ballhaus springen und tanzen im Takt. Zwei Paare drehen sich unter dem Kronleuchter und den silbernen Lamettaketten im Discofox umeinander, immer und immer wieder. Das Licht ist schon an.

Alle Gläser und Flaschen sind bereits abgeräumt, auf dem Boden an den Seiten der Tanzfläche liegen Scherben, die Holztische kleben. Von der Empore mit dem Mischpult ruft DJ Henning herunter in den Saal: „Allerletztes Lied. Tut mir leid!“ Dann spielt er „Don’t stop believin’“ der 80er-Rockband Journey, im Refrain heißt es auf Englisch: „Hör nicht auf zu glauben, halt dich an diesem Gefühl fest.“

Um kurz vor fünf Uhr ist auch dieses Lied verklungen, das Clärchen hat ausgeschwoft. „Danke schön, wir sehen uns wieder!“, ruft DJ Henning und formt ein Herz mit seinen Fingern. Alle Tänzer bleiben stehen, schauen sich um. Sollen sie jetzt wirklich gehen?

Das Ende einer Legende – zumindest vorerst. Mit Clärchens Ballhaus schließt das populärste Überbleibsel einer beinahe untergegangenen Berliner Ballhauskultur. Nur unterbrochen von zwei Weltkriegen, haben hier seit 1913 mehr als 100 Jahre lang Berliner und Touristen getanzt. Unten im Ballsaal mit dem Lametta an den Wänden. Und oben im Spiegelsaal mit dem aufwendigen Stuck, der in den vergangen Jahren auch als Kulisse für Hollywoodfilme diente.

Für die Stadt, für ihre Kulturszene, aber eben auch für die ganz normalen Leute, die hierher zum Tanzen kamen, ist die Schließung von Clärchens ein großer Verlust. Denn in einem Stadtteil, der sich wie kaum ein anderer in Berlin verändert hat, war das Ballhaus auch ein Symbol des Widerstands des alten Mitte.

David Regehr, ein groß gewachsener Mann mit grauem Sakko, steht am Eingang des mehr als sechs Meter hohen Spiegelsaals. Er blickt müde durch den Raum, den er 15 Jahre lang gepachtet und betrieben hat. „Ein sehr gelungener Abend“, sagt Regehr. „Man hat einfach gemerkt, wie sehr die Leute das Ballhaus lieben.“ Einer der Türsteher kommt auf ihn zu und verabschiedet sich. „Es war wunderschön, bei ihnen zu arbeiten.“ David Regehr nimmt die Hand seines Mitarbeiters in beide Hände. „Ihr habt das großartig gemacht!“

Die Gäste holen sich an der Garderobe ihre Mäntel, viele nehmen als Andenken die Speisekarten mit. Regehr zieht einen Holzstuhl mit rotem Samtüberzug heran, setzt sich damit fast in den Eingang. Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Das ist schon ein Wahnsinnsschuppen.“

2005 mieteten der Bühnenbildner David Regehr und der Kulturunternehmer Christian Schulz das Haus, erweckten es zu neuem Leben. Regehrs Frau Lisa, Tanzlehrerin und Tänzerin, war verantwortlich dafür, dass das Clärchen wieder für jene Tanzfreude berühmt wurde, für die es schon zu den Zeiten der ehemaligen Betreiberin und Namensgeberin Clara „Clärchen“ Bühler bekannt war.

Am Samstagnachmittag, wenige Stunden vor dem Beginn der Abschiedsparty, kommt Yoram Roth zu Fuß vom Hackeschen Markt in die Auguststraße. Seit gut einem Jahr ist er der neue Besitzer des Hauses mit der rissigen grau-braunen Fassade. Wie viel er dafür gezahlt hat, ist nicht bekannt. „Ich liebe das unperfekte Berlin“, sagt Roth. „Es soll nicht alles so geleckt und sauber sein.“ Die grauen Haare trägt Roth kurz, sein schwarzer, dünner Mantel reicht ihm bis über die Knie. Vor knapp zwei Jahren hat er seinen 50. Geburtstag im Ballhaus gefeiert. Er lacht, freut sich. Denn er hat viele Ideen, wie man in Clärchens Ballhaus Altes und Neues miteinander verbinden kann.

Doch nicht nur Stammgäste sind der Meinung, dass das Ballhaus gar nichts Neues braucht. Dass alles so bleiben soll, wie es ist. „So sehr ich Berlin liebe – es gibt leider viele Berliner, die alles schwarz sehen“, sagt Yoram Roth. „Komplimente sind hier selten zu finden.“

Als Erstes, sagt Roth, soll der Pizzaofen raus. „Es gibt tausend Pizzerien in Berlin, die das besser machen. Warum machen wir nicht das, was wir in Berlin gut können?“, fragt er. Er beneide das Café Einstein um dessen Kuchenangebot, „so was möchte ich hier auch“. Roth blickt über die beiden kleinen Grünflächen und den Weg zur Straße, wo vor dem Krieg noch ein Vorderhaus stand. Er wird an dieser Stelle nichts bauen, auch diese Angst sei völlig unbegründet, sagt er.

Der Platz vor dem Clärchen soll frei bleiben, nur ein bisschen mehr Leben hätte Roth gern. Im Sommer sei es hier märchenhaft, da möchte er draußen sitzen mit einem Stück Kuchen oder Torte. Das Restaurant soll wieder deutsche Küche servieren, wie damals bei Clärchen, die das Ballhaus 1913 übernahm. Einen neuen Betreiber habe Roth schon im Blick, wer es ist, verrät er nicht. Doch er sei Berliner. „Das funktioniert nur mit Berlinern.“

Die Seele des Hauses, sagt Roth, wolle er erhalten. Was diese Seele ausmacht? Noch hat er darauf keine Antwort.

Yoram Roth ist Künstler, Fotograf. Ihm gehört das „Fotografiska“-Museum in Stockholm, das mittlerweile Ableger in Tallinn und New York hat. Auch in Berlin soll es bald eine Dependance geben. Die Geschichte seiner Familie ist mit der Stadt eng verbunden. Bevor sie auf Grundlage der Nürnberger Gesetze enteignet und viele wegen ihrer jüdischen Herkunft ermordet wurden, war Roths Familie über Generationen in der Berliner Immobilienbranche tätig, Yorams Vater Raphael Roth nahm das Geschäft wieder auf, nachdem er 1954 aus dem Exil zurückgekehrt war.

Zunächst wird Clärchens Ballhaus einige Monate schließen. Ein paar Sanierungen, die dringend notwendig sind, hat Roth als Erstes vor: Küche, Toiletten, Brandschutz, eine Belüftungsanlage. Die beiden Säle sollen währenddessen für Veranstaltungen gemietet werden können. Dann soll der Kuchensommer kommen und vielleicht im Herbst oder Winter 2020, noch ist unklar wann, die zweite Schließzeit beginnen. Ein Aufzug soll das Ballhaus barrierefrei machen, der Keller ist teilweise eingestürzt, da müsse man mal ran. Roth möchte die Küche nicht nur modernisieren, sondern auch vergrößern. Damit neben dem Restaurant auch der Spiegelsaal parallel bei Veranstaltungen kulinarisch versorgt werden kann.

„Das kostet alles Zeit. Wenn wir erst mal anfangen, muss man es einmal richtig machen“, sagt Roth. „Und dann müssen wir wahrscheinlich an jedes Stromkabel und jedes Wasserrohr ran.“ Wie lange das dauert, weiß niemand. Roth hofft auf ein Jahr, noch sind keine Anträge eingereicht. „Ich werde so schnell machen, wie ich kann. Aber wir sind nun einmal auch in Berlin und in den Händen der Ämter“, sagt er. „Ich versichere, dass ich so schnell wie möglich wieder eröffnen werde.“

Verstehen Sie, dass die Leute Angst haben vor der Sanierung?

„Ja.“

Haben Sie selbst auch Angst?

„Nein. Aber ich verstehe, dass viele sich an das klammern, was sie lieben. Mir geht es ja auch oft so.“

Viele Gäste des Ballhauses sorgen sich um den historischen Charme des Hauses: die Risse und Löcher in den Spiegeln oder die vielen abblätternden Farbschichten im Treppenaufgang zum Spiegelsaal, wo die Reste einer längsgestreiften Tapete durchblitzen. Zum speziellen Ambiente gehören auch die etwas unbequemen Holzstühle im Ballsaal unten, die schon lange nicht mehr einfarbig braun sind. Und von denen man sich ausmalen mag, wer in den vergangenen Jahrzehnten schon alles darauf gesessen hat.

Wie kann man renovieren und gleichzeitig den Charme dieses Hauses mit 105-jähriger Geschichte behalten? Es braucht Zeit, es wird teuer, sagt Roth. Auf keinen Fall wolle er das Haus totsanieren. Eher schauen: Was ist überhaupt noch alt? Was wurde schon notdürftig gemacht? Und was ist möglich?

Die abgeblätterte Farbe im Treppenhaus zum Spiegelsaal möchte Roth genau so konservieren, sogar die schiefe Lampe, die dort hängt, darf bleiben. Aber im Ballsaal unten könnte es etwas gemütlicher werden. Ob das Lametta dauerhaft hängen bleiben kann, muss Roth wegen des Brandschutzes sehen. Wahrscheinlich nicht.

„Ja, es kann passieren, dass ein paar Stammgäste hier dann herkommen, manche Risse nicht mehr da sind und sie dann nicht mehr ins Clärchen kommen“, sagt Roth. „Aber das ist doch kreativlos. Das Clärchen ist mehr.“

Gäste und Mitarbeiter sind sich einig: Das Clärchen, das ist mehr als dieses Gebäude, das an jeder Ecke Geschichten auszuatmen scheint. Vor allem aber, und das hört man bei der Abschiedsparty immer wieder, sei das Clärchen ein Gefühl. Ein Ort, an dem jeder so sein kann, wie er ist, sich nicht verstellen und verstecken muss. Das mag für viele Orte im Berliner Nachtleben gelten. Aber das Clärchen ist familiär, sicher, es wird getanzt, ohne aufzureißen.

Montags Salsa, dienstags Tango, mittwochs Swing, donnerstags Standard- und Lateintänze. Jeden Abend ein anderer Tanz, kein Eintritt, das hat 15 Jahre sehr gut funktioniert. An den Wochenenden war erst in den Morgenstunden Schluss. Dass Schulz und die Regehrs Großartiges geleistet haben und das Ballhaus aus einer Art Dornröschenschlaf geweckt haben, erkennt Roth an. Doch er sagt auch: „Ich bin fest davon überzeugt, dass man es auch noch besser machen kann.“

Christiane aus Karow hat bei der Abschiedsparty zwei Stunden zu Marianne Rosenberg und Abba durchgetanzt, um halb eins lässt sie sich auf einen der Holzstühle unten im Ballsaal fallen und gießt sich einen Schluck Wasser ein. „Ich habe fünf Jahre hier jeden Sonntag getanzt, mir blutet mein Herz“, sagt die 47-Jährige. „Wir hatten beim Tanztee links von der Bühne immer denselben Tisch. Die Kellner haben die Getränke gebracht, ohne dass wir bestellen mussten.“

Die blonden Haare fallen ihr bis auf die Schultern, sie rückt die große, schwarze Brille zurecht. „Wenn man ein Jahr eine Immobilie besitzt und sich nicht äußert, welches Publikum gewollt ist, macht das Angst“, sagt sie. „Ja, natürlich wird hier irgendwann weitergetanzt. Aber betrifft das auch uns?“

Der wöchentliche Tanztee, das war nicht nur für Christiane Zuflucht und ein Mittel gegen die Einsamkeit. Viele begannen hier zu tanzen, wenn es ihnen nicht gut ging. Christiane erzählt, ihre Tochter habe mehrere Jahre ums Überleben gekämpft, ihre eigene Ehe sei kaputt gegangen. „Danach bin ich hierhergekommen. Diese Stunden sind unbezahlbar.“ Beim letzten Tanztee Ende Dezember hat sie deshalb neun Stunden durchgetanzt.

Yoram Roth sagt, es gäbe ja noch mehr Orte in einer Millionenstadt wie Berlin, wo man tanzen könne. Viele Stammgäste sagen, nirgendwo in Berlin sei es so schön wie im Clärchen.

Als im vergangenen Sommer bekannt wurde, dass er den eigentlich ohnehin längst ausgelaufenen Mietvertrag der Regehrs nicht verlängern würde, starteten Fans des Hauses eine Onlinepetition dagegen. Auch eine Gruppe Kulturschaffender, darunter der Ex-Leiter des Hamburger Bahnhofs Eugen Blume, die Galeristin Constanze Kleiner und die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, haben sich zum Jahreswechsel mit einem offenen Brief an Roth gewandt: „Clärchens Ballhaus ist das starke, alte Herz von Mitte. Bitte sorgen Sie dafür, dass es weithin für alle schlägt!“, heißt es darin.

Mehr als 6600 Menschen haben das Schreiben bisher unterzeichnet und sich für eine Verlängerung des Mietvertrages mit den Regehrs ausgesprochen. Dem Argument, dass Clärchens Ballhaus bei einer längerfristigen Schließung aufgrund von Sanierungsarbeiten der Verlust der Betriebserlaubnis drohe, hat Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe längst widersprochen.

Es ärgert Roth, dass alle ihm reinreden wollen und glauben, es besser zu wissen. Dass er in den sozialen Netzwerken als böser Immobilienhai dargestellt werde, der wieder ein Stück Berlin zerstören wolle. Roth sagt, er habe das Gegenteil vor. Und wolle mit dem Clärchen ein Berlin erhalten, „das wir bald vermissen werden, wenn wir nicht aufpassen“.

„Leute, die vielleicht vor 15 Jahren aus dem Taunus hergezogen sind, wollen mir erklären, wie mein Berlin funktioniert. Dabei bin ich selbst Berliner, meine Mutter ist 400 Meter von hier entfernt geboren“, sagt er wütend. „Lasst mich doch mal machen!“

Doch das Vertrauen in Immobilieninvestoren muss Berlin noch lernen. Zu viele Clubs wurden schon geschlossen, zu viele Gegenden totsaniert. Fast schon mystische Orte wie das Tacheles sind verschwunden. In das ehemalige legendäre Kunsthaus soll Roths Berliner „Fotografiska“-Dependance ziehen.

Roth sagt, alle würden sich Sorgen machen, was er mit dem Clärchen vorhabe. „Aber ich mache mir Sorgen, was ich machen darf“, sagt er. „Wenn ich gezwungen werde, die paar wenigen Wohnungen, die über dem Clärchen liegen, wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen, dann ist das Clärchen tot.“

Um kurz vor sechs am Sonntagmorgen sind auch die letzten Gäste weg, an der Bar wird noch aufgeräumt. Lisa Regehr sitzt in einer Ecke des Spiegelsaals und legt die Beine auf einen leeren Stuhl. Sie zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich zurück. Eigentlich ist das Rauchen nur auf dem Balkon erlaubt, aber wen kümmert das jetzt noch? Am Mittwoch ist Schlüsselübergabe. 15 Jahre Clärchen sind für Lisa und David Regehr nun Geschichte.

Gibt es etwas, das Lisa Regehr Roth noch auf den Weg geben möchte? Sie überlegt lange, wählt die Worte langsam. „Er muss sich mitnehmen lassen, vom Haus und von den Gästen. Wenn er sich an die Hand nehmen lässt, machen die Gäste den Rest allein.“ Denn die kommen wieder, um zu tanzen, da sind sich David und Lisa Regehr sicher. „Und ich würde ihm raten, mal eine Tanzstunde zu nehmen. Wenn man den Zauber verstehen will, muss man es einmal erlebt haben.“

Am liebsten würde sie ihm diese Tanzstunden selbst geben. „Hier oben im Spiegelsaal. Wir hätten bestimmt viel Spaß.“

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