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Geerdet. Sami Khedira bei seiner Rückkehr ins Nationalteam beim Spiel gegen Kamerun am 1. Juli. „Sein Wert für die Mannschaft ist riesengroß“, sagt Bundestrainer Löw.
© Rolf Vennenbernd/dpa

WM 2014: Sami Khedira - der Leidwolf

Andere hätten nach so einer schweren Verletzung mit dem Schicksal gehadert. Sami Khedira aber hat alles getan, um in die deutsche Elf zurückzukehren. Willensstärke und Widerstandskraft: Wahrscheinlich ist es genau das, was die Nationalmannschaft in Brasilien braucht.

Sami Khedira kann sich jetzt auch an den kleinen Dingen erfreuen. Daran zum Beispiel, dass er seinen Kollegen Jerome Boateng erfolgreich genarrt hat. Dass er ihm beim Fünf-gegen-zwei den Beinschuss angeboten und dann im entscheidenden Moment die Beine wieder geschlossen hat. Als der Ball gegen seinen Schenkel prallt, hüpft Khedira zweimal kurz in die Höhe. Wenn er sich jetzt umdrehte, könnte er den Atlantik sehen. Aber das interessiert ihn im Moment nicht. Seit ein paar Tagen ist Khedira mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im brasilianischen Urlaubsparadies. Dass er gerade keinen Urlaub machen muss, stattdessen in Santo André mit seinen Kollegen trainieren darf, das grenzt schon an ein Wunder.

Sieben Monate ist es her, dass Khediras Knie in Trümmern lag.

Es passiert im Mailänder San-Siro-Stadion, im Länderspiel gegen Italien. Mitte der zweiten Halbzeit stürzt sich Khedira im Mittelfeld, nahe der Außenlinie, in einen Zweikampf mit Italiens Spielmacher Andrea Pirlo. Bis oben auf die Tribüne spürt man: Khedira will den Ball, jetzt und hier. Er bleibt mit dem Schuh im Rasen hängen und verdreht sich das Knie.

Als Sami Khedira zum ersten Mal wieder das Hemd der Nationalmannschaft trägt, sind es nur noch wenige Tage bis zur Weltmeisterschaft in Brasilien. Er ist gerade aus Madrid im Trainingslager in Südtirol angekommen, vier Tage zuvor hat er mit Real Madrid die Champions League gewonnen, das Höchste, was es im Klubfußball gibt. Jetzt ist er zur Pressekonferenz gekommen. Er sagt „herzlich willkommen“ – als wäre er schon lange da und nicht gerade erst eingeflogen worden, eine knappe Woche nach dem Rest der Mannschaft. Khediras Stimmung ist aufgeräumt, er lobt dieses und jenes, das Quartier, die Stimmung, die Landschaft. „Die Berge strahlen unglaubliche Kraft und Ruhe aus“, sagt Khedira. Und ohne es zu wollen, ist ihm ein Bild geglückt, das genauso gut auf ihn selbst zutrifft. Sami Khedira ist der Fels in der deutschen Nationalmannschaft. Zumindest soll er das sein, wenn die Deutschen bei der heute beginnenden Weltmeisterschaft in Brasilien um den Titel spielen.

In Oliver Bierhoffs Stimme liegt Bewunderung, wenn er von Khediras Rückkehr spricht

Im November war daran nicht im Traum zu denken. Oliver Bierhoff hatte Khedira damals in Mailand ins Krankenhaus begleitet. Wenn der Manager der Nationalmannschaft jetzt über Khediras Rückkehr auf den Platz spricht, hört man die Bewunderung aus seinen Worten heraus. Weil Bierhoff dann wieder an diese Nacht von Mailand denken muss, an das niederschmetternde Bild, als Khedira im Rollstuhl über den Krankenhausflur geschoben wird. Und an den ebenso niederschmetternden Befund: Kreuz- und Innenbandriss im rechten Knie. Normalerweise bedeutet das sechs Monate Pause - und für Khedira das sichere WM-Aus. Denn selbst wenn die Heilung perfekt verlaufen würde – in welchem Zustand würde er nach Brasilien reisen? Ohne Spielpraxis, ohne Rhythmus, ohne Wettkampfhärte.

Als Khedira an jenem Abend ins Mannschaftshotel zurückkehrte, wartete sein Vater schon auf ihn. Lhazar Khedira ist als junger Mann aus Tunesien nach Deutschland gekommen, er hat als Arbeiter in einer Stahlfirma die Familie ernährt und seinen drei Söhnen die deutschen Tugenden vorgelebt. Als er seinen Sohn im Rollstuhl sieht, schießen ihm die Tränen in die Augen.

Noch aus dem Krankenwagen rief er seinen Arzt an

„Dass man kurz traurig, enttäuscht ist, das ist völlig normal“, sagt Sami Khedira. „Aber das war bei mir eine Sache von Minuten.“ Andere hätten mit ihrem Schicksal gehadert: Warum ich? Warum jetzt, so kurz vor der WM? „Meine erste Reaktion war: gleich alles Nötige in die Wege zu leiten“, sagt Khedira. Noch aus dem Krankenwagen rief er seinen Arzt an, 15 Stunden später lag er bei ihm in Augsburg auf dem Operationstisch.

„Erfolg fängt immer im Kopf an“, hat Sami Khedira einmal gesagt. Nach nicht einmal fünf Monaten kehrt er bei Real Madrid ins Mannschaftstraining zurück. Anfang Mai spielt Khedira wieder, Ende Mai gewinnt er die Champions League. Mesut Özil, der mit Khedira drei Jahre lang für Real gespielt hat, twittert anschließend: „Für mich ist Sami der erste WM-Held.“ Da hat die WM noch gar nicht angefangen.

Der kurze Weg vom Krankenbett zurück aufs Spielfeld

Khediras Rückkehr auf den Platz könnte zur Blaupause für eine erfolgreiche Weltmeisterschaft der Deutschen werden – weil er in den vergangenen sieben Monaten genau das gezeigt hat, was Bundestrainer Joachim Löw von seiner Mannschaft in den nächsten vier Wochen in Brasilien erwartet: Willensstärke und Widerstandskraft. Khedira hat gegen das Schicksal angekämpft, sich nicht unterkriegen lassen, nie gejammert.

Löw hat sich früh festgelegt, nur hundertprozentig fitte Spieler mit nach Brasilien zu nehmen. Ebenso früh hat Löw diese Regel für Khedira außer Kraft gesetzt: „Ich werde warten auf den Sami, sehr, sehr lange.“ Die Entwicklung der vergangenen Monate scheint Löw Recht zu geben. „Seine Trainingsarbeit war in den letzten Monaten absolut beachtlich, unglaublich, was er alles investiert hat“, sagt Löw. Sami Khedira ist der Ausnahmespieler in Löws Team – in vielerlei Hinsicht. Der Bundestrainer hat lange davon geträumt, eine perfekt funktionierende Maschine zu konstruieren, ein Wunder der Fußballkunst. Er hat dem deutschen Fußball das Kraftprotzgehabe ausgetrieben, er hat Foulspiele auf die rote Liste gesetzt, den Verteidigern das Grätschen untersagt und Eleganz und Spielwitz zu den neuen deutschen Tugenden erklärt. Von flachen Hierarchien war die Rede: Niemand erhebe sich über den anderen, Verantwortung wird als gemeinsames Projekt verstanden.

Und dann hat der Bundestrainer Sami Khedira über alle anderen erhoben.

Sein Wert für die Mannschaft ist riesengroß, sagt der Bundestrainer

In der Vergangenheit hat Löw immer gesagt, man könne die Spanier, die beste Mannschaft der Welt, nicht bloß mit den alten deutschen Tugenden, mit Kampfkraft und Willensstärke, besiegen, man müsse ihnen spielerisch beikommen. Angesichts der Fixierung auf Sami Khedira scheint er inzwischen zu dem Schluss gekommen sein, dass man gegen die Besten der Welt auch nicht ohne die alten deutschen Tugenden bestehen kann. Khedira ist das archaische Element in Löws Konzept. „Er ist ein Spieler, der einen Leader darstellt, eine Führungspersönlichkeit ist, weil er Charakter hat, Charisma“, sagt der Bundestrainer. „Sein Wert für die Mannschaft ist riesengroß.“

Vom Franzosen Arsène Wenger, dem Trainer des englischen Spitzenklubs FC Arsenal, ist das Bonmot überliefert: „I don’t believe in leaders, I believe in good passers.“ Laut Wenger braucht der moderne Fußball keine Führungsspieler, er braucht gute Passgeber. Khediras Passspiel ist passabel, sonst wäre er kein Nationalspieler geworden. Aber ihm fehlt das Geschmeidige von Mesut Özil, das Unberechenbare von Thomas Müller, das Lineare von Toni Kroos. Khediras Bewegungen sehen immer ein wenig kantig aus, seine Zuspiele holpern auch mal über den Rasen. Aber er hat etwas, was man kaum lernen kann: Präsenz.

1,90 Meter groß, schwarze Haare, durchgedrücktes Kreuz

Khedira ist schon von seiner Statur her eine imposante Erscheinung. Fast 1,90 Meter groß, pechschwarzes Haar, durchgedrücktes Kreuz. Wie die meisten Spieler seiner Generation hat er den Fußball in einem der modernen Leistungszentren gelernt, und doch ist er anders als die meisten Zöglinge der Akademien. Anders als diese glatten Poser, die ein Selfie nach dem anderen über soziale Netzwerke verbreiten – und die manchmal genauso Fußball spielen. Khedira ist der Gegenentwurf zu all den Kringeldrehern und Häkchensetzern. Er kann seine seine Mannschaft mitziehen. Und mitreißen.

„Musterschüler“ hat ihn der „Spiegel“ am Anfang seiner Karriere genannt – unter anderem, weil Khedira schon damals so reif wirkte, so reflektiert, so klar in all seinen Vorstellungen. Inzwischen, mit 27, besitzt er auch die passende Vita dazu. Sami Khedira weiß, dass er das nicht seiner technischen Brillanz als Fußballer zu verdanken hat. „Meine Verbissenheit hat mich nach oben gebracht“, sagt er.

Die Sehnsucht der Deutschen nach dem Leitwolf

Khedira bedient damit eine Sehnsucht, die tief in der deutschen Fußballseele verankert ist. Je länger das Volk auf einen großen Titel warten muss, desto mehr werden die Zeiten verklärt, in denen die Nationalmannschaft noch einen Leitwolf auf dem Platz hatte. Die Geschichte des deutschen Fußballs wird am liebsten als eine Geschichte der starken Männer erzählt: von Paul Breitner über Lothar Matthäus, von Stefan Effenberg bis zu Michael Ballack. Schwierige Typen, an denen sich eine Mannschaft in schwierigen Zeiten aufrichten konnte.

In gewisser Weise schreibt Sami Khedira diese Geschichte jetzt weiter. Khedira ist die Fortsetzung von Stefan Effenberg mit anderen, mit modernen Mitteln. Ihm geht das Kraftmeierische und Provokative ab, das bei Effenberg immer auch ein wenig Selbstzweck war. „Es reicht nicht, dass man die Brust rausstreckt und die Schultern nach hinten nimmt“, sagt Khedira. „Da piekst dann jemand rein, und alles fällt in sich zusammen. Das muss von innen kommen. Nur dann spürt man auch von außen diese Stärke.“

Er hat keine Angst mehr Chef zu sein

Khedira hat „keine Angst, Chef zu sein“. Nicht mehr. Er musste erst lernen, Verantwortung für das große Ganze zu tragen. In der Jugend ist er nicht gerne Kapitän gewesen. „Vorneweg zu marschieren, vielleicht auch den einen oder anderen Spieler härter anzugehen, das wollte ich nicht“, sagt Khedira. „Ich glaube, ich hatte Angst, dass ich nicht mehr akzeptiert, vielleicht auch nicht mehr gemocht werde.“

Horst Hrubesch hat für Khediras Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle gespielt. Als er kurz vor der Europameisterschaft 2009 als Trainer der U 21 einsprang, ernannte er Khedira zu seinem Kapitän. Die Mannschaft sollte ihre Angelegenheiten weitgehend unter sich ausmachen, Khedira die Ansprachen halten und die Abläufe bestimmen: „Das hat mir noch einmal einen Schub gegeben, auch außerhalb des Platzes anders zu denken und zu handeln.“

Dass Khedira ein Typ und Charakterkopf ist, dass er zum Leitwolf taugt, das hat er längst nachgewiesen. Auf seine Art. Sami Khedira führt eine Mannschaft so, wie er Fußball spielt. Er ist da, wenn er gebraucht wird. So war es auch vor zwei Jahren, bei der Europameisterschaft, als sich Bastian Schweinsteiger ermattet an Geist und Körper durch das Turnier schleppte. In dem Maße, in dem Schweinsteigers Einfluss schwand, gewann Khedira an Statur. Wo Schweinsteiger nicht sein konnte, da war Khedira.

Aber reicht seine Kraft?

Im Grunde soll er genau das auch bei der WM tun: überall sein. Aber reicht seine Kraft? „Ich bin zuversichtlich, dass ich am 16. Juni meine Topleistung abrufen kann“, hat Khedira in Südtirol gesagt. Im Finale der Champions League hat er das noch nicht gekonnt. Der zentrale Mittelfeldspieler war nicht mehr als eine Randfigur. Nach seiner Auswechslung fingen ihn die Fernsehkameras auf der Ersatzbank ein: Khediras Blick war leer, und selbst beim Jubel wirkte er seltsam ermattet.

Die Zweifel bleiben, ob Khedira bei der WM von Anfang an der Motor des deutschen Spiels sein kann. Anstatt die Mannschaft zu schleppen, wird er sich vielleicht erst einmal selbst schleppen lassen müssen. Es ist weniger die Frage, ob Sami Khedira sich damit abfinden kann. Die Frage ist eher, ob die Mannschaft in ihrer derzeitigen Verfassung mit ihren vielen angeschlagenen Spielern dazu in der Lage ist.

Der Text erschien auf der dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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