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Das Kreuz mit der Religion. Der Luthergarten in Wittenberg.
© Jan Woitas/dpa

Kirchentag 2017: Religion in Ostdeutschland? Ach, Gott ...

Ja, leider sei sie Atheistin, sagt Christina Häseler. Sie lebt in Wittenberg, der Lutherstadt – nirgendwo im Land ist den Menschen der Glaube ferner als in dieser Gegend. Vor dem Kirchentag hat sie ihn wiedergefunden. Unser Blendle-Tipp.

Der Mann mit dem großen gelben Schild auf dem Rücken bemerkt den prüfenden Blick sofort, der wohl einen Moment zu lang auf ihm ruhte.

– Haben Sie schon eine Bibel zu Hause?, fragt er und öffnet die Arme.

– Vier Bibeln!

– Tragen Sie die Bibel auch in Ihrem Herzen?

– Auch, aber mehr im Kopf, doch da fällt immer alles raus.

Der Propagandist des Herrn weist mit sanftem Tadel darauf hin, dass dies ohnehin der falsche Aufbewahrungsort sei:

– Können Sie von sich sagen, dass Sie Jesus Christus gehören?

– Nein, ich kann sagen: Ich gehöre mir selber.

Wie schade! Ein tiefes Mitleid erscheint in den Augen des Bodenpersonals Gottes: Schon wieder eine unrettbare Seele! Und diese Stadt ist voll davon.

Im Landstrich, den der Kirchenkreis Wittenberg abdeckt, sind nur 14 Prozent der Bewohner gläubige Christen, und das in der Stadt Luthers, in der Hauptstadt der Reformation! Sachsen-Anhalt wirbt damit, ihr Ursprungsland zu sein. Von der Topografie her gesehen stimmt das auch: Lutherstadt Eisleben, Mansfeld … Aber es ist zugleich die gottverlassenste Gegend Deutschlands, Ostdeutschland insgesamt die der ganzen Welt. Kann der Herr auch dort sein, wo fast keiner mehr mit ihm rechnet?

Zu abgelegen, zu ostdeutsch, zu ungläubig, zu provinziell

Nie war der Himmel blauer. Auch das ist ein Gottesbeweis, den verstehen auch die 86 Prozent der Wittenberger, die sich daran gewöhnt haben, ohne Beistand von oben zu leben. Sie sitzen neben der noch überschaubaren Zahl ihrer Gäste draußen vor den Restaurants und Cafés und blinzeln in die Sonne: Es ist einer jener Momente, da der Mensch weiß, dass ihm nichts geschehen kann. Die Christen nennen das auch Gnade.

200 000 Besucher kommen wohl am Wochenende nach Wittenberg, oder werden es noch mehr sein beim großen Abschlussgottesdienst des Kirchentages? Sie kommen in eine Stadt, die mit ihren Eingemeindungen 46 000 Einwohner und in den Augen ihrer Besucher streng genommen nur zwei Straßen hat, eine vom Lutherhaus zum Schloss hin, eine zurück. Das wird gnadenlos. Mit Gottes Hilfe kriegen wir das hin, sagen die Atheisten.

Nicht-Wittenberger sind da oft skeptischer. Ihre tendenzielle Wittenberg-2017-Prognose lautet: zu abgelegen, zu ostdeutsch, zu ungläubig, zu provinziell, um das zu schaffen. Vor allem zu provinziell. Schon Martin Luther urteilte, dass sich Wittenberg unmittelbar „an der Grenze der Zivilisation“ befinde. Dahinter kommt nur noch Berlin.

Der Wittenberger Herbert Krause, bald 70 Jahre alt, ist eigentlich Diplomingenieur für Bauwesen, aber er mag es, Fremden seine Stadt zu erklären. Er versammelt seine Gruppe im Schatten der Schlosskirche, gleich neben der Tür, an die Luther im Oktober vor einem halben Jahrtausend seine 95 Thesen genagelt hat. „Und diese schlug er öffentlich an die Kirche, welche an das Schloss zu Wittenberg stößt, am Tage vor dem Feste aller Heiligen im Jahre 1517“, überlieferte Luthers Weggefährte Melanchthon. Aber bei Luther ist Krause noch lange nicht, schließlich ...

Den vollständigen Text lesen Sie für 45 Cent im Online-Kiosk Blendle.

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