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Klaus Wowereit erhält am 08.11.2014 beim Landesparteitag der Berliner SPD in Berlin lang anhaltenden Applaus. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die offizielle Nominierung seines Nachfolgers Michael Müller.
© dpa

Ein Jahr nach dem Rücktritt: Privatier Klaus Wowereit und Machtmensch Michael Müller

Klaus Wowereit wirkt zufrieden als Privatier. Vor einem Jahr hatte er seinen Rücktritt als Berliner Regierungschef erklärt. Sein Nachfolger, Michael Müller, lernt, seine Macht zu nutzen.

Seinen Terminkalender führt er jetzt selbst. Es ist unmöglich, allen Einladungen nachzukommen, Klaus Wowereit hat noch immer die freie Auswahl. Aber als vor drei Wochen am Gendarmenmarkt die Young Euro Classic eröffnet wurden, war auch der ehemalige Regierungschef unter den Gästen. In Jeans und weißem Hemd, zwei Knöpfe offen, das blaue Sakko lässig über die Schulter geworfen. Begleitet vom Lebensgefährten Jörn Kubicki, beide sonnengebräunt.

Der Vorruhestand scheint ihm gut zu bekommen. Wowereit ist schlanker geworden, die silbergraue Mähne hat er zurückgekämmt, er zeigt wieder sein freches, entwaffnendes Lächeln. Ganz der Alte, könnte man meinen. Doch seit er vor einem Jahr mit Tränen in den Augen seinen Rücktritt ankündigte, hat sich das Leben des prominenten und einst so beliebten Regierenden Bürgermeisters radikal verändert. Wowereit ist, nach jähem Aufstieg, politischem Siechtum und überraschendem Ausstieg, der Politik komplett abhanden gekommen.

Wie groß ist die Lücke, die er hinterlassen hat, als Parteifreund und Regierungschef? Spürt Klaus Wowereit Phantomschmerzen, wenn er an den 26. August 2014 und seine fast 14-jährige Amtszeit im Roten Rathaus zurückdenkt? Nein, er will nicht darüber sprechen. Wowereit scheint es regelrecht zu genießen, nicht mehr öffentlich Stellung nehmen zu müssen. Anfragen werden nicht beantwortet. Dabei hatte sich Wowereit nach seiner Rücktrittserklärung noch einmal kräftig feiern lassen, wochenlang wurde der Abschied des Regierenden zelebriert – bis Michael Müller am 11. Dezember ins Amt gewählt wurde.

Damals umarmten sich beide im Plenarsaal, der bärige Wowereit und der schmale Müller. Dann trennten sich die Wege, der Ex-Regierende zog sich ins private Leben zurück. Ein gut gelaunter Pensionär, der freundlich grüßt, wenn man ihn zufällig trifft. Zum Tod von Egon Bahr, dem Wegbereiter der Entspannungspolitik, hat Wowereit in der vergangenen Woche im Radio ein kurzes Interview gegeben. „Er war so aktiv noch, so fit in seinem hohen Alter“, sagte er. Das klang bewundernd, vielleicht sogar ein bisschen neidisch.

Das politische Tagesgeschäft hat Wowereit hinter sich gelassen, den kulturellen und gesellschaftlichen Rummel sucht er immer noch. Ende Juli, in Worms, umarmte die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer den Genossen aus Berlin, als er die Nibelungen-Festspiele besuchte. Neben Wowereit saß bei der Premiere des „Gemetzels“ der hessische Ex-Ministerpräsident Roland Koch. Auch zur Birthday-Party der Queen war Wowereit eingeladen und scherzte im Garten des britischen Botschafters fröhlich mit der alten Dame.

Auch ohne im Zentrum der Macht zu stehen, scheint Wowereit das Leben also durchaus zu genießen. „Ich liebe diese Stadt so, wie sie ist“, sagte Wowereit vor einem Jahr. Es war als pathetisches Bekenntnis gemeint, mit dem Wowereit seiner Heimatstadt die Treue schwor. Wowereit lebt noch immer im beschaulich-urbanen Wilmersdorf, bewohnt mit seinem Freund in der Brandenburgischen Straße eine geräumige Altbauwohnung. Geht ins Café am Preußenpark und kauft bei Kaiser’s ein. Skiurlaub in Österreich, Ferien auf Mallorca. Er hat gute Freunde und pflegt die familiären Kontakte.

Vielleicht ist Wowereit der Absprung so leicht gefallen, weil ihm das Private schon immer wichtig war. Homestorys gab es nie, und kein Journalist durfte den Golfspieler Wowereit auf seinem Lieblingsplatz in Motzen begleiten. Mit dem Amtsausstieg waren seine Vorgänger anders umgegangen: Als Eberhard Diepgen 2001 die Mehrheit verlor, kürte ihn seine CDU nach einer Schamfrist zum Ehrenvorsitzenden. Mit Interviews und Kommentaren mischt sich der 73-Jährige noch in die Tagespolitik ein und kümmert sich ehrenamtlich um Flüchtlinge. Diepgens Amtsvorgänger, der Sozialdemokrat Walter Momper, blieb nach seiner Abwahl 1991 SPD-Landeschef und wurde einige Jahre später noch einmal Spitzenkandidat. Noch früher gab es sogar Regierende, Willy Brandt und Richard von Weizsäcker, die wurden Bundeskanzler und Bundespräsident.

Wowereit will keinen Job mehr, der wirklich Arbeit macht

Klaus Wowereit erhält am 08.11.2014 beim Landesparteitag der Berliner SPD in Berlin lang anhaltenden Applaus. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die offizielle Nominierung seines Nachfolgers Michael Müller.
Klaus Wowereit erhält am 08.11.2014 beim Landesparteitag der Berliner SPD in Berlin lang anhaltenden Applaus. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die offizielle Nominierung seines Nachfolgers Michael Müller.
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Klaus Wowereit, der 2006 auch als Kanzlerkandidat gehandelt wurde, steht nicht vor einem politischen Revival. Es gibt auch keine Anhaltspunkte, dass der 61-jährige Vorruheständler einen Posten sucht, der richtig Arbeit macht. Zwar rutschte ihm im Lauf dieses Jahres der denkwürdige Satz heraus: „Nur Freizeit haben ist auch nicht gut.“ Doch scheint sich Wowereit mit seinen Nebenjobs ausgelastet zu fühlen. Als Kolumnist fürs Spreeradio. Als Talkgast auf dem Luxusliner „Europa 2“, auf dem er mit der Moderatorin und Freundin Sabine Christiansen übers Mittelmeer dampfte. Von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurde Wowereit gebeten, sich um die Probleme der sexuellen Gleichstellung zu kümmern. Der Bericht der Expertenkommission steht noch aus. Im Präsidium des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller soll er Botschafter der Berliner Wirtschaft werden.

Die Berliner SPD hält ihren ehemaligen Superstar in Ehren. Mehr nicht. Wowereit ist einfaches Mitglied im SPD-Ortsverband Halensee – dabei wird es bleiben. Er hatte Michael Müller im Dezember einen aufgeräumten Schreibtisch übergeben, auf dem nur eine dünne Aktenmappe lag und eine Schachtel mit Büroklammern. „Glück und heitere Gelassenheit“, wünschte Wowereit damals.

Man sieht sich gelegentlich, eher zufällig auf Veranstaltungen. „Dann sprechen sie auch mal über die aktuelle politische Lage“, sagt ein Genosse, der beide gut kennt. Auf gute Ratschläge legt der neue Regierungschef aber keinen großen Wert. Müller war es wichtig, sich möglichst schnell vom einstigen Übervater der Berliner SPD abzunabeln. Vor einem Jahr, als Wowereit seinen Rücktritt ankündigte, hatte fast niemand Müller auf der Rechnung. Den technokratisch agierenden, teilweise glücklosen Stadtentwicklungssenator, der nach dem erfolgreichen Volksentscheid zum Tempelhofer Feld im Mai 2014 drauf und dran war, alles hinzuwerfen.

Es kam anders. Müller genießt nach der unverhofften Eroberung des Gipfels die Höhenluft und will auch Kultursenator bleiben, sollte er die Wahl 2016 in Berlin gewinnen. Ausgerechnet in diesem Ressort, das ohne Wowereit nicht auszukommen schien, will Müller in diesem Herbst weitere Akzente setzen. Für das Humboldt-Forum und für das Berliner Stadtmuseum. Ein weiteres Feld, auf dem sich er profilieren will, ist die digitalisierte Wirtschaft. Mit wachsendem Selbstbewusstsein dirigiert Müller den Senat. „Ich will etwas bewegen“, sagt er.

Wer bei den Kabinettssitzungen der Chef im Ring ist, daran lässt er keinen Zweifel. Aber es wird mehr diskutiert als bei Wowereit, um die Probleme „richtig einzuordnen“, wie Müller es nennt. Und noch etwas ist anders geworden. Wenn sich Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen zu Wort meldet, hält keiner mehr den Atem an. So wie früher, als Ulrich Nußbaum noch im Amt war. Der habe Kollegen schikaniert und Themen, die ihm nicht passten, „blöd wegblockiert“, wie sich Zeitgenossen erinnern.

Arbeitswütig und immer auf der Hut vor politischen Gegner und öffentlichen Kritikern, wühlt sich Müller seit Jahresbeginn durch die Berliner Probleme. Mit preußischer Disziplin geht er sein Tagwerk an. „Haltung zeigen“, sagt der Regierende, wenn man ihn fragt, was wirklich zählt. Klappt etwas nicht, wird Müller schnell ungehalten, greift zum Telefon, um Dinge auf kurzem Amtsweg zu klären. Er lernt, dass sein Amt eine Macht verleiht, die er bisher nicht kannte.

Die SPD glaubt, dass sie mit Müller weiter regieren kann

Klaus Wowereit erhält am 08.11.2014 beim Landesparteitag der Berliner SPD in Berlin lang anhaltenden Applaus. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die offizielle Nominierung seines Nachfolgers Michael Müller.
Klaus Wowereit erhält am 08.11.2014 beim Landesparteitag der Berliner SPD in Berlin lang anhaltenden Applaus. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die offizielle Nominierung seines Nachfolgers Michael Müller.
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Die Konflikte mit der CDU halten sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie beim harten Streit um die Ehe für alle, in Grenzen. Das Verhältnis zum CDU-Landeschef Frank Henkel ist, nun ja, freundlich und sachbezogen. Henkels gelegentliche Klagen, er werde nicht ausreichend einbezogen, lässt Müller nicht gelten. Man spreche regelmäßig miteinander. Offen ist, ob Müller seine Bodenständigkeit und Bürgernähe bewahren kann. Oder ob er abhebt, ihm Macht und Meinungsumfragen zu Kopfe steigen. Müller ist da sehr empfänglich. Die hohen Beliebtheitswerte für den Regierungschef, die Wowereit seit dem Flughafen-Desaster nicht mehr erreichte, sind seit Monaten stabil.

Sie könnten es bleiben, wenn Müllers Politik der kleinen Schritte zu Ergebnissen führt, die Berlin spürbar voranbringen. Noch ist er als Regierender in keine echte Krise geraten. Müller hat es sich sogar erlaubt, mit der Familie zwei Wochen in den Urlaub zu reisen. „In den Süden“, hört man. Der SPD-Landesverband profitiert vom Aufwind und liegt in den Umfragen deutlich vor der CDU. Die Parteizentrale in Wedding arbeitet schon jetzt am Wahlprogramm und ist zuversichtlich, dass die SPD nach der Wahl im September 2016 mit Müller an der Spitze fünf weitere Jahre regieren kann. Am liebsten mit Linken oder Grünen.

Vor einem Jahr war die Lage noch sehr verworren. Wowereit hatte seine denkwürdige Pressekonferenz kaum beendet, da war der SPD-interne Kampf um seine Nachfolge schon voll entbrannt. „Ich will Regierender Bürgermeister von Berlin werden“, sprach der Fraktionschef Raed Saleh mit bebender Stimme in die Mikrofone. Wenig später kündigte auch Landeschef Jan Stöß seine Kandidatur an.

Zwei junge Vertreter der SPD-Linken, ehrgeizig und machtbewusst. Aber die schweigende Mehrheit im Landesverband wartete auf den Genossen Müller, den Zweifler und Zauderer, der zwei Tage brauchte, um sich zu entscheiden. Er war der heimliche Favorit Wowereits, der Stöß und Saleh nicht viel zutraute.

Es folgte die wundersame Auferstehung des Michael Müller, der in einem Mitgliederentscheid der Landes-SPD mit großer Mehrheit ins Amt katapultiert wurde. Beide Mitbewerber waren düpiert, zerstritten sich, raufen sich jetzt aber wieder zusammen. Stöß und Saleh wissen: Müller braucht für einen Wahlsieg im Herbst 2016 beide. Fürs Tagesgeschäft vor allem den Fraktionschef, an dessen Bürotür er ab und zu klopft. „Hallo Raed, hast du gerade Zeit, sonst gehe ich erst noch einen Kaffee trinken.“ Saleh hat für den Regierungschef immer Zeit, man sitzt auf der weißen Couch und bespricht die Probleme. Fast wie früher mit Wowereit. Der kleine Unterschied ist, dass Wowereit ins Fraktionsbüro stürmte und sich aufs Sofa wuchtete: „Raed, wir müssen reden!“

Saleh hat gute Chancen, nach der Wahl SPD-Fraktionschef zu bleiben. Aber Stöß, der erstmals fürs Abgeordnetenhaus kandidiert, muss sich noch etwas einfallen lassen. Will er Senator werden? Dazu sagt der Parteichef nichts, aber es gibt Gerüchte. Bis zur Wahl wird das merkwürdige Dreigestirn zusammenhalten. Danach hängt alles davon ab, ob die Protagonisten mit der anschließenden Aufgabenverteilung zufrieden sind. Besonders gefährdet ist Stöß. Kürzlich deutete Müller an, dass er den SPD-Landesvorsitz vielleicht wieder übernehmen könnte, den ihm der Parteilinke Stöß 2012 weggeschnappt hatte. Müllers Bemerkung löste hektische Telefonate aus, er selbst tat davon überrascht.

Und was macht Wowereit am Tag des Jubiläums? „Vielleicht spielt er Golf“, sagen Parteifreunde. Öffentlich auftreten wird er wieder am 6. September, da verleiht ihm der Berliner Theaterclub die Goldene Iffland-Medaille. Die Laudatio hält Judy Winter. Ein schöner Rollentausch. Im November 2014 hatte Wowereit der Schauspielerin und guten Freundin noch das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen und die 70-Jährige als „eine der ganz Großen“ gewürdigt. Jetzt kann sie sich revanchieren.

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