zum Hauptinhalt
17 Stunden dauerten die Verhandlungen in Minsk.
© dpa

Die Einigung von Minsk: Mit vollem Risiko

Abwarten war diesmal keine Alternative. Die Gefahr eines neuen Kalten Krieges bestand. Und sie besteht immer noch. Für Angela Merkel war sie der Auslöser für eine deutliche Einmischung in die Weltpolitik. Ihr Einsatz hat sich gelohnt. Auch wenn es zum Jubeln noch zu früh ist

Es gibt Sätze, die fallen nur einer Angela Merkel ein. Am Donnerstagmorgen steht die deutsche Kanzlerin im „Palast der Unabhängigkeit“ in Minsk und sieht ungefähr so aus wie immer, nur noch ein bisschen müder um die Nase. Das ist ja auch kein Wunder. Merkel hat seit einer Woche praktisch ununterbrochen auf diesen Moment hingearbeitet, davon zuletzt 17 Nachtstunden am Stück. Jetzt lässt sie Francois Hollande den Vortritt. „Wir haben es geschafft, zu einer Übereinkunft zu kommen“, sagt der französische Präsident. Es gibt eine Abmachung über eine Waffenruhe in der Ukraine und über weitere Schritte, auch die Separatisten haben unterschrieben. „Wir haben jetzt einen Hoffnungsschimmer“, sagt die Kanzlerin.
Und dann kommt dieser Satz, der die Woche merkelisch zusammenfasst: „In der Abwägung kann ich sagen, dass das, was wir jetzt erreicht haben, deutlich mehr Hoffnung gibt, als wenn wir nichts erreicht hätten.“ So klingt es, wenn eine Kanzlerin aufatmet. Es hat sich also gelohnt, bis hierher jedenfalls.
Selbstverständlich erschien das nicht, als Merkel und Hollande am vorigen Donnerstag zu ihrer Friedensmission aufbrachen. Selbstverständlich erschien es noch eine Stunde vor dem kurzen Presseauftritt der Beiden nicht. Das Ergebnis ist auch kein Grund zum Jubeln. „Wir hätten uns mehr gewünscht“, sagt Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der zeitweise an den Verhandlungen teilnahm.
Aber ein Grund zum Aufatmen ist es allemal. Wenn die Abmachung hält, macht der kleine Krieg im Osten der Ukraine eine Pause. Vor allem aber wird er dann nicht zum großen, zum Stellvertreterkrieg der Großmächte entlang der lange überwunden geglaubten Linien des Kalten Krieges.

Die Gefahr besteht weiter

Die Gefahr bestand, und sie besteht weiter. Für Merkel war sie der Auslöser für eine ungewöhnlich deutliche Einmischung in die Weltpolitik. Abwarten war diesmal keine Alternative. In der Ostukraine trieb alles auf eine blutige Kesselschlacht um die strategische Ortschaft Debalzewo zu, in den USA und in Europa bekamen die Anhänger einer militärischen Eskalation Auftrieb. Das fragile Gebäude aus Sanktionen und Gesprächen, vorsichtigen Angeboten und leisen Drohungen drohte zu zerbrechen, das den Konflikt an der Grenze zwischen Europa und Russland bisher eingehegt hatte – oft mehr schlecht als recht, aber immerhin. Und mit diesem Einsturz drohten weitere. Noch hielt die europäische Solidarität, die gegen alle Bedenken und Einzelinteressen eine einheitliche Linie in der Sanktionsfrage gegen Russland ermöglicht hat. Noch hielt die stillschweigende transatlantische Abrede, dass die Weltmacht USA den Europäern den Vortritt in der Ukraine-Krise lässt. Noch hatten in Kiew nicht die Bellizisten die Oberhand, die einen Sieg über die Rebellen in Donezk und Luhansk erträumen.

Aber die Frage von Waffenlieferungen an die ukrainische Armee hatte das Zeug, all diese Übereinkünfte zu sprengen. Merkel entschied sich zum spektakulären Auftritt mit vollem Risiko. „Sie ist durchaus mit der Vorstellung gefahren, dass das scheitern könnte“, sagt ein deutscher Regierungsvertreter. Als sich Merkel und ihr Kronzeuge Hollande vor einer Woche auf den Weg nach Kiew und Moskau machten, erschien das sogar als die wahrscheinlichste Variante. Schließlich hatten sie nicht viel mehr im Gepäck als das Signal, das von ihrer Reise ausging: Die wichtigste Frau und der traditionelle Zweite in Europa legen ihr ganzes Gewicht auf die Waage.Wenig ist das übrigens nicht. Diplomatie hat auch im 21. Jahrhundert immer noch viel mit Persönlichem und mit Symbolen zu tun: Ob man sich unter vier Augen trifft, wer wen in wessen Hauptstadt besucht, wer zuerst anruft oder auch mal ein paar Tage nicht – alles Fragen, die über das Klima zwischen Politikern und Nationen mitbestimmen. Wladimir Putin hat seit Beginn seiner allwöchentlichen Telefonate mit Merkel über die Ukraine-Krise versucht, die Deutsche zum Besuch in Moskau zu bewegen, da könne man doch dann über Alles reden. Merkel hat es ihm verweigert: Erst eine Aussicht auf einen Durchbruch, dann ein Besuch. Merkel weiß inzwischen ganz gut, was sie von dem geschulten Geheimdienstler an der Spitze einer ehemaligen Supermacht zu erwarten hat, sie ist mit ihm vertraut, nicht vertraulich.Eier, Käse und "ein paar Eimer Kaffee"

Dass die Deutsche in den Kreml kam, ohne dass eine Lösung feststand, war symbolisch ein Schritt auf den Russen zu. Ein kleiner psychologischer Hebel, nicht mehr, aber immerhin. Dass sie nach der Rückkehr allen Freunden von Waffenlieferungen an die Ukraine bei der Münchner Sicherheitskonferenz kühl entgegenhielt, sie könne sich keine Situation vorstellen, in der Putin sich militärisch geschlagen geben würde, dürfte in Moskau ebenfalls vermerkt worden sein. Putin, lautet seit langem die Analyse der deutschen Seite, ist mit Drohungen kaum zu beeindrucken. Das Einzige, was vielleicht hilft, sind Appelle an seine Vernunft. Als sich die Unterhändler am Mittwochabend im „Palast der Unabhängigkeit“ einfinden, richten sich alle auf eine lange Nacht ein. In dem spätsozialistischen Scheusal von einem Protzbau aus Beton und vergoldetem Stuck sind Räume für die Delegationen vorbereitet, und der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko wird anderntags berichten können, dass seine Gäste neben Eiern und Käse „ein paar Eimer Kaffee“ verzehrt hätten. Stunde um Stunde wird verhandelt, mal reden nur Merkel, Hollande, Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko miteinander, mal werden die Außenminister dazu gebeten. Die Kommentare zum Sachstand fallen spärlich aus.

"Super" oder "Besser als super"

„Super“, knarzt der russische Außenminister Sergej Lawrow gegen Mitternacht. „Besser als super“, lautet sein Zwischenresümee Stunden später. Wörtlich muss man das nicht nehmen, Lawrow hat einen stabilen Ruf als Spötter. Parallel tagt die so genannte Kontaktgruppe unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) – und mit Vertretern der Rebellen aus Donezk und Luhansk. Diese Gruppe hatte im vorigen Herbst jenes Minsker Protokoll abgesegnet, das den Weg zum Frieden ebnen sollte und nie wirklich eingehalten wurde. Auf ihre Unterschrift kommt es auch diesmal an. Verweigern sich die Separatisten, droht jedem Minsk–II-Papier das Schicksal seines Vorgängers.

Tatsächlich ist die Lage der Rebellen komplizierter, als sie in den Fernsehbildern und auf den Karten derzeit oft aussieht. Seit Mitte Januar sind die Freischärler an allen Fronten auf dem Vormarsch. Sie haben die ukrainische Armee zum Rückzug vom Flughafen Donezk gezwungen und im nordöstlich davon gelegenen Debalzewo tausende Regierungssoldaten eingekesselt – oder jedenfalls so gut wie. Schweres russisches Militärgerät wie Panzer, Raketenwerfer und Maschinengewehre sickern seit Mitte Januar wieder verstärkt über die Grenze. Mit ihm kommen russische Ausbilder und offenbar von Fall zu Fall auch reguläre russische Einheiten, die sich aber wohl nach begrenzten Einsätzen wieder über die Grenze zurückziehen.

"Wie die Situation in den "Volksrepubliken ist"

17 Stunden dauerten die Verhandlungen in Minsk.
17 Stunden dauerten die Verhandlungen in Minsk.
© dpa

Gleichzeitig ist die Situation in den selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk selbst katastrophal. Die Ukraine hat die Finanzierung öffentlicher Einrichtungen und die Überweisung von Löhnen und Renten eingestellt, die Industrie liegt brach. Noch hält die ukrainische Armee viele wichtige Transportwege – darunter eben den Eisenbahn- und Straßenknoten Debalzewo, über den die Verbindung zwischen den Städten Luhansk und Donezk verläuft. Die Separatisten hängen deshalb finanziell komplett am russischen Tropf. Das Geld für die im Dezember erstmals ausgezahlten Renten und Gehälter kam aus Moskau. Aber Russland, wegen des sinkenden Ölpreises und der Sanktionen selbst finanziell angezählt, kann sich das auf Dauer kaum leisten. Ob diese Einsicht in Minsk eine Rolle spielte? Oder eher das Szenario, das Merkel für den Fall unschwer ausmalen konnte, dass in Minsk eine Einigung ausbleibt? Kaum vorstellbar, dass nicht beim EU-Sondergipfel in Brüssel noch unter dem Eindruck eines Scheiterns sofort der Ruf aufgekommen wäre, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. Absehbar, dass US-Präsident Barack Obama dem innenpolitischen Druck der Republikaner wie aus den eigenen Reihen nicht mehr widerstanden hätte, der Ukraine mit Waffen zu helfen. Absehbar auch, dass östliche EU-Staaten wie Polen oder die Balten dem Beispiel gefolgt wären. Donnerstagmorgen tritt Wladimir Putin als erster vor die Presse. Die anderen lassen ihm den Vortritt, um die Einigung zu verkünden. Der Russe scherzt ein bisschen, bevor er zur Sache kommt: „Na, was habt ihr gemacht? Habt ihr geschlafen?“ Natürlich hat keiner geschlafen. „Also“, sagt Putin, „das war nicht die beste Nacht meines Lebens, aber der Morgen ist ein guter.“ Die großen Vier haben eine Erklärung verfasst. Sie sichert der Ukraine ihre Souveränität und territoriale Integrität zu und ist auch sonst staatsmännisch korrekt gehalten.

Militärische Zugeständnisse gegen politische

Das Konkrete und Eingemachte steht in einem 13-Punkte-Papier, das die Kontaktgruppe unterschrieben hat. Es läuft auf ein Tauschgeschäft hinaus, das sich grob mit der Formel umschreiben lässt „Militärische Zugeständnisse gegen politische“. Ab Sonntag um Mitternacht sollen die Waffen schweigen. Danach sollen beide Seiten ihr schweres Gerät um 50 bis 140 Kilometer zurückziehen, die Ukraine hinter die jetzigen Frontlinien, die Separatisten hinter den Frontverlauf des September. Alle ausländischen Kämpfer und Waffen sollen aus dem Land heraus. Die Ukraine soll wieder die Kontrolle über die eigene Grenze bekommen, die OSZE soll das überwachen. Zeitgleich soll ein politischer Prozess beginnen, der auf eine Teilautonomie der Rebellenregionen hinausläuft: Wahlen, eine Verfassungsreform – und nicht zuletzt: Die Ukraine soll wieder die Renten und Gehälter in den Ostgebieten zahlen.
„Wir haben keine Illusionen“, sagt Merkel. „Es ist noch sehr, sehr viel Arbeit nötig.“ Es hat ja nicht zufällig diese fast 17 Stunden gedauert. Poroschenko hat sich – Putin beklagt das – hartnäckig geweigert, mit den Abtrünnigen direkt zu verhandeln. Die Rebellen selbst – Merkel und Hollande weisen darauf ausdrücklich hin – mussten erst vom russischen Präsidenten bearbeitet werden, bevor sie ihre Unterschrift unter dieses zweite Minsker Protokoll setzten. Die Frage, ob die ukrainische Armee in Debalzewo schon in einem Kessel sitzt oder noch nicht, hat offenbar viel Raum eingenommen – „natürlich“, sagt Putin, gingen die Rebellen davon aus, dass ihre Gegner „die Waffen strecken werden“. Aber was da genau los sei, das sollten Militärexperten klären.
Man ahnt bei solchen Sätzen, was Hollande meint, als er ein paar Stunden später in Brüssel von Druck spricht, der weiter nötig sein werde. „Wir sind an einem entscheidenden Punkt“, sagt der Franzose. „Die nächsten Stunden werden entscheiden.“ In der belgischen Hauptstadt warten die Chefs der anderen EU-Staaten auf die Abgesandten aus Minsk. Der Euro-Sondergipfel war eigentlich einmal einberufen worden, um über Konsequenzen aus dem Anschlag von Paris zu beraten. Jetzt rangiert das Thema schon wieder unter „ferner liefen“.

Die Nachricht aus Minsk löst Erleichterung aus, auch Bewunderung für Merkel. „Kompliment“, sagt der niederländische Premier Mark Rutte kurz und knapp. „Es ist ein kleines Wunder, dass sie überhaupt noch lebt“, sagt der EU-Botschafter eines Nachbarlandes. „Aber wir wissen ja aus vielen Eurokrisennächten, dass sie das beste Sitzfleisch von allen hat und mit ihrer Kondition jedes Gegenüber mürbe machen kann.“ Dass die deutsche Regierungschefin trotzdem kein Roboter ist, beweisen zwei Textnachrichten auf dem Handy. Der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk lässt mitteilen, dass der Beginn des Gipfeltreffens um zwei Stunden nach hinten verlegt wird. Und die deutsche Botschaft teilt mit, Merkel werde vielleicht erst am späten Nachmittag zur Runde dazustoßen. Nach der Landung gegen 13.30 Uhr am Flughafen Zaventem werde sie ins Hotel Amigo hinter dem Brüsseler Marktplatz gefahren, wo sie sich ein paar Stündchen aufs Ohr legen wolle. Aber niemand ist wirklich überrascht, als Angela Merkel doch früher erscheint. Kurz im Hotel frischgemacht, steht sie fünf Minuten vor Sitzungsbeginn vor den Mikrofonen der Journalisten. Die Worte sind die gleichen wie in Minsk: „ein Hoffnungsschimmer – nicht mehr und nicht weniger.“ Jetzt müssten den Worten Taten folgen.

Die nächste Krise wartet schon

Dann verschwindet sie im Tagungssaal. Die nächste Krise wartet schon und der nächste schwierige Gesprächspartner. Alexis Tsipras mag kein ganz so harter Brocken sein wie Wladimir Putin, und hinter ihm steht auch keine militärische Weltmacht. Aber die neue griechische Regierung hat in der Nacht, in der Merkel und Hollande in Minsk verhandelten, einen Kompromiss im Schuldenstreit zwischen den Finanzministern erst einmal platzen lassen. Doch Angela Merkel ist jetzt so viel als Weltpädagogin unterwegs gewesen, dass sie gleich weitermacht. „Europa ist darauf ausgerichtet, und das ist auch der Erfolg Europas, einen Kompromiss zu finden“, sagt sie in die Mikrofone hinein. Dann geht sie auf Tsipras zu und drückt ihm lächelnd die Hand. Sie hoffe auf eine gute Kooperation trotz aller Schwierigkeiten. Der Satz, aus dem Merkelischen übersetzt, heißt so viel wie: Das mit dem Kompromiss lernt ihr Griechen auch noch.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Zur Startseite