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Beschleunigtes Elementarteilchen. Wie kaum ein anderer Regierungschef in Europa treibt Italiens Matteo Renzi Reformen voran.
© Remo Casilli/AFP

Italien und Europa: Matteo Renzi baut sein Land um

Regierungschef Renzi trimmt Italien auf Erneuerung und beharrt auf feste Regeln in Europa. Als Modell für sein Land hat er ein Vorbild im Kopf: Deutschland. Nur sagen darf er das gerade nicht.

Das Europa, „wie es uns gefällt“, das hat Matteo Renzi neulich tief unter der Erde vorgefunden und „den Stolz Italiens“ gleich mit. Einen blankpolierten, blauen Schutzhelm auf dem Kopf, die Hände wie üblich ganz lässig in den Hosentaschen, ließ sich der italienische Ministerpräsident das Cern erklären, das Europäische Kernforschungszentrum in den Bergen rund um Genf. Technisch, sagte Renzi am Ende des Rundgangs, „schließe ich nicht aus, das eine oder andere verstanden zu haben“, aber darum ging’s ihm ja auch gar nicht.

Renzi hatte in Genf nur Zwischenstation gemacht auf seinem Weg nach Brüssel, zu einem der vielen Krisengipfel in griechischer Sache. „Grau und traurig“, sagt er immer wieder, findet er den EU-Palast dort, das sei ein „Hort langweiliger und müder Bürokratie“, die EU eine „Summe einzelstaatlicher Egoismen“, alles reduziert auf den Euro, ohne weitere Werte, ohne Esprit, ohne Seele, ohne Humanität, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht. „Hier, hundert Meter unter der Erde aber“, rief Renzi, und weit hallte seine Stimme wider in den 27 Kilometer langen Tunnelröhren des größten Teilchenbeschleunigers der Erde, „da funktioniert Europa“. Da arbeiteten alle zusammen, da sei Innovation, Wagemut, Talent und Intelligenz, viele junge Leute auch; „das duftet nach Zukunft, nach einer besseren Welt für unsere Kinder“.

Matteo Renzi steht für ein anderes, für ein einiges und solidarisches Europa. Im Cern tat Renzi auch wieder einmal, was er am liebsten tut: die Stärken, die „Exzellenz“ Italiens preisen, gegen den Defätismus im eigenen Land, „gegen die Selbstgeißelung und das dauernde Vor-uns-hin-Weinen“. Am Cern konnte Renzi ein paar hundert italienische Spitzenforscher präsentieren – unter ihnen ein Nobelpreisträger und die künftige Leiterin des Instituts. „Wir werden nie eine militärische Supermacht werden, auch keine diplomatische und keine wirtschaftliche. Unsere Zukunft liegt im menschlichen Kapital.“

Dieses aufzuwerten, das italienische Selbstvertrauen zu stärken in einer Wirtschaftskrise, von der man auch nach Jahren nicht weiß, ob und wann sie verlässlich ein Ende nimmt, das ist Renzis Anliegen. Symbolisch aufgeladen, wie sein Besuch in Genf ohnehin war, hätte der gerade 40-jährige Regierungschef die Analogien auch noch weitertreiben können. Er hätte erwähnen können, dass Italien die Cern-Führung zu Anfang 2016 ausgerechnet aus deutschen Händen übernimmt und wenigstens da jene „Frau Merkel“, zu deren blindem Erfüllungsgehilfen sich Renzi in den Augen seiner innenpolitischen Gegner gemacht hat, nicht mehr das Sagen hat. Er hat es sich verkniffen. Matteo Renzi polemisiert nicht gerne auf Kosten anderer.

Renzi hätte im Cern auch darüber philosophieren können, was passiert, wenn hoch beschleunigte Elementarteilchen in eiseskalter Umgebung auf recht träge, andere Massen treffen. Selbst Experten können schließlich nur aus den davonstiebenden Trümmern erschließen, was da vor sich geht.

Solche politischen Anspielungen hat Renzi sich verkniffen; zuhause hätte man sie wohl mittlerweile für unangebracht gehalten. Denn Renzi, der große Beschleuniger, der „Verschrotter“, der alle überrannt hat mit seinen Ideen, ist nach den ersten 15 Regierungsmonaten deutlich langsamer geworden. Aus dem Tritt geraten, sagen die einen Kommentatoren, ins Stottern verfallen, behaupten die anderen. Das will etwas heißen bei einem Menschen, der normalerweise in einer halben Stunde mehr Worte spricht, als Politikerkollegen in einer ganzen Woche.

Ende Mai verlor seine Partei bei den Regionalwahlen deutlich. Es war ein politisch unbrauchbarer „Sieg“, bei dem Städte wie Venedig an den politischen Gegner fielen. Seitdem ist Renzi leiser geworden. Die Ellbogen hat er eingefahren. Bei einzelnen seiner Reformprojekte erklärt er sich heute sogar „zu Diskussionen bereit“.

Das Parlament bastelt an einer Überfülle von Projekten

Ist das noch Renzi?

„Stimmt alles überhaupt nicht“, sagt Laura Garavini. Die Sozialdemokratin aus Berlin ist über die Liste der Auslandsitaliener ins römische Parlament gewählt worden. Sie hat für ein Interview nur mittags Zeit. Schnell ein Salat in der Bar gegenüber dem Abgeordnetenhaus, dann geht’s zurück in die Ausschussberatungen: „Ich wette, wir haben unter Renzi mehr zu erledigen als die anderen Parlamente Europas. Er drängt uns dauernd zur Eile. Es ist ein unmenschlicher Arbeitsrhythmus bei einem von Anfang an unglaublich schwierigen Reformprojekt. Aktuell macht das nur weniger Schlagzeilen.“ Und dann gesteht Garavini etwas ein, was unter einem in allen Medien präsenten Premier und Parteichef am meisten verwundert: „Wir schaffen es nicht, den Leuten unsere Erfolge mitzuteilen.“

Das Parlament bastelt an einer Überfülle von Projekten gleichzeitig. Sogar die Sommerpause wurde schon hinausgeschoben. Denn davor soll Renzis als effizienzsteigernd und entbürokratisierend angekündigter Umbau der Öffentlichen Verwaltung beschlussfertig sein. Gesetzeskraft hat soeben die große Schulreform erlangt – unter großen Protesten, weil die Übernahme von 100 000 bisher prekär beschäftigten Lehrern in ein festes Angestelltenverhältnis den Gewerkschaften zu wenig war. Vor allem aber, weil die Schuldirektoren künftig mehr Entscheidungs- und Bewertungsbefugnisse über Lehrer haben sollen. Das jahrelang verschleppte Antikorruptionsgesetz ist durch. Die Liberalisierung des Arbeitsrechts hat zu einer Steigerung bei unbefristeten Jobs geführt. Ein Gesetz über Eingetragene Lebenspartnerschaften hat Renzi auch noch bis spätestens Jahresende angekündigt. Und im selben Tempo soll sich eine von zwei Parlamentskammern, der Senat, per Verfassungsreform auch noch selber abschaffen.

Dass dergleichen auf Widerstand stößt, versteht sich. In Italien aber kommt der größte und einzig ernst zu nehmende Protest aus Renzis eigener Partei. Während Laura Garavini, die aus einer linken, Renzi-kritischen Strömung kam, sich nach eigenem Bekunden „heute zurückhalten muss, ihm nicht allzu sehr zu applaudieren“, wirft eine andere Minderheit dem Ministerpräsidenten vor, er habe sämtliche linken Inhalte einer eigentlich linken Partei verraten.

Wenn Renzi beispielsweise – wie am Wochenende angekündigt – die verhasste Haus- und Grundsteuer streichen will, dann protestiert die Partei-Minderheit: Renzi exekutiere nur, was der Erzfeind Silvio Berlusconi immer gewollt habe. „Was ist links an einer Politik, die sogar dem Eigentümer eines Super-Penthouses die Steuern erlässt?“ rief der Abgeordnete Alfredo D’Attorre bei einer Sitzung des Parteivorstands in Mailand. Und Renzi? Er ließ sich und lässt sich auf solche Diskussionen gar nicht erst ein.

Am Vergangenen Samstag hat Renzi den Parteivorstand auf das Gelände der Expo in Mailand geholt. Beratungen waren ja nur der Form halber geplant, es ging wieder einmal darum, sich an einem „Ort italienischer Exzellenz“ zu zeigen. Und Renzi trat unvermittelt wieder auf, als hätte es den Einbruch in der Wählergunst bei den Landtags- und Kommunalwahlen nie gegeben: „Früher haben wir schlimmer verloren.“

Zwar rechnet er die Parteilinke zu seinen „drei Hauptgegnern“. Aber den Drohbrief von 25 linken Senatoren, sie würden gegen die Parlamentsreform stimmen und damit faktisch die eigene Regierung stürzen, erwähnt Renzi nicht. Und auf die als persönliche Anschuldigungen gemeinten Beiträge, er billige es, dass sich Überläufer aus dem Berlusconi-Lager bei Abstimmungen auf die linke Seite schlügen, entgegnet Renzi mit keinem Wort. Er sagt nur: „Die zwei Jahre bis zur nächsten Parlamentswahl werde ich nicht damit zubringen, interne Streitigkeiten zu beruhigen oder Funktionäre zu beruhigen, die sich schmollend ihr eigenes Profil schaffen wollen. Ich will Italien seinen Stolz zurückgeben.“

Und Renzis sinkende Umfragewerte? Um gut zehn Punkte innerhalb eines Jahres auf aktuell 31 Prozent? Die Abgeordnete Garavini gabelt ihren Salat, bedient nebenbei das Handy und sagt: „Ach, das war doch bei Gerhard Schröder genauso, als der seine Agenda 2010 durchgezogen hat; das ist bei solch großen Reformvorhaben unvermeidlich.“ Und überhaupt, sagt sie: „Was ist die Alternative? Nur Populisten, sonst nichts.“

In Brüssel will er unbedingt glaubwürdig erscheinen

Nun ja. Die Rechtsextremen von der Lega Nord, „diese Primitiven da“, wie Renzi sagt, schließen in der Wählergunst auf, und die Fünf-Sterne-Bewegung des Gar-nicht-mehr-Komikers Beppe Grillo, mit ihrer Ablehnung des politischen Establishment als ganzem, hält sich stabil bei mehr als zwanzig Prozent. Die „Grillini" kommen exakt bei jenen Jungen an, die Renzi eigentlich für sich gewinnen will. Und auch wenn er es mit dem neuen Kurs der Steuersenkung wieder einmal versucht: Bisher hat Renzi zu seinem Verdruss es nicht geschafft, ins brach liegende rechte Lager einzubrechen.

Die Politiker dort ziehen die Mauern ja auch immer höher. Je länger sich die europäische Diskussion um die Aufnahme der Mittelmeerflüchtlinge hinschleppt, umso wirksamer machen Politiker wie Lega-Chef Matteo Salvini Stimmung gegen die „Überflutung aus Afrika“. Und damit auch gegen einen Regierungschef, der „nichts tut“, in Brüssel aufgrund seiner „Bedeutungslosigkeit und Unfähigkeit nichts zuwege bringt“, kurz: der „zurücktreten soll“. Während Renzi die anderen EU-Staaten zu einer gerechten Aufteilung der Flüchtlinge bewegen will, hintertreiben die von der Lega beherrschten Regionen Lombardei und Venetien jegliche inneritalienische Verteilung. „Absurde ideologische Debatten“ nennt Renzi das; die Anti-Europa-Polemik federt er ab. „Bleiben wir human“, hat er seinem Parteivorstand am Samstag zugerufen: „Auch wenn es uns einen Punkt bei den Umfragen kostet.“

An keiner Stelle bekam er so lang und so laut Applaus wie hier.

Geradlinig und vollkommen unbeirrt hielt Renzi auch seinen europafreundlichen Kurs in der „Grexit“-Frage durch. Mochten Politiker aller anderen Parteien nach Athen stürmen, um Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis als die großen Freiheitskämpfer zu umarmen – Renzi wies darauf hin, dass Europa ohne Einhaltung der Regeln nicht funktioniere: „Wir in Italien haben nicht die Frühpensionierungen abgeschafft, um sie jetzt den Griechen zu zahlen. Und die italienischen Steuern sind nicht erhöht worden, damit die griechischen Reeder die ihren weiter hinterziehen können.“

Gleichzeitig schimpfte er bei allen Gelegenheiten, dass ein „rein auf Austerität gegründetes“ Sanierungskonzept nicht funktioniere. Und seine Reformen treibt er auch deswegen so entschieden voran, um in Brüssel als glaubwürdig dazustehen.

Renzi hämmert es den Leuten immer wieder ein: „Europa ist unser Haus, nicht unsere Stiefmutter.“ Dass er das Haus umbauen will, gehört dazu: Er will es ja erhalten, nicht abreißen. Ausgerechnet Renzi als einer der jüngsten Regierungschefs des Kontinents beruft sich stärker als alle seine Kollegen auf die Ideen der EU-Gründungsväter, auf deren Vorstellung von einem geistig-politischen Werte-, Identitäts- und Solidaritätsverbund. Und als Modell für „sein“ Italien als ein voll mitsprachefähiges, für das neue Europa gerüstetes Land hat er einen ganz bestimmten Staat im Kopf: Deutschland. Auch wenn er das in der aktuellen politischen Anti-Merkel-Stimmung nie öffentlich sagen darf. Renzis Reformen, das gibt Laura Garavini zu, zielen durchweg in diese Richtung.

Da will Renzi hin. Das ist seine Vorstellung von Politik, ein populistisch-antipopulistischer Kurs gewissermaßen: Den Extremen, den Abrisskommandos im eigenen Land und den Gegnern der europäischen Ordnung will er das Feld nicht überlassen: „Diese Kräfte spielen mit der Angst der Menschen.“ Renzi packt die Menschen bei ihren Stärken, Italien bei dessen „Exzellenz“.

Wenn es sein muss, auch tief unter der Erde.

Paul Kreiner

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