Terroranschlag auf Popkonzert: Manchester und die Stille nach dem Knall
Paul McCartney, U2 und Madonna traten schon in der Manchester Arena auf. Nun wird die Stadt immer mit Ariana Grande und den 22 Toten verbunden sein.
Am Piccadilly-Bahnhof in Manchester herrscht am Dienstagmorgen wie gewohnt großes Gedränge. Tausende Menschen sind auf dem Weg zur Arbeit. Doch die Stimmung ist angespannt. Die Menschen wirken nervös. Sie mustern ihre Umgebung kritisch.
In der Bahnhofshalle stehen Polizisten, einer ihrer Kollegen hält vor einem der Eingänge ein Maschinengewehr fest im Anschlag. Er trägt eine schwarze Maske. In der ganzen Innenstadt ist die Polizeipräsenz erhöht worden. Etliche Straßen sind leer. Wo sich ansonsten Busse, Autos und Lieferwagen stauen, sind Ströme von Pendlern zu sehen, die heute zumindest die letzten Kilometer zur Arbeit zu Fuß zurücklegen müssen. Der Parkplatz neben der Konzernzentrale einer Versicherung ist verwaist. Auf einer großen elektronischen Werbetafel ist eine Union-Jack-Flagge abgebildet und der Schriftzug „Pray for Manchester“.
Es traf eine Kultstätte der Stadt
Polizisten haben auch das Viertel um die Victoria Station, den zweiten großen Bahnhof der Stadt, abgeriegelt. Er grenzt unmittelbar an die Manchester Arena, die riesige Veranstaltungshalle. Das dreistündige, von 21 000 Menschen besuchte Konzert der Sängerin Ariana Grande war am Montagabend gerade zu Ende gegangen, die Lichter waren schon an. Die Konzertbesucher strömten ins Freie, als kurz nach 22 .30 Uhr eine gewaltige Explosion im Eingangsbereich das Gebäude erschütterte. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie anschließend Panik ausbrach. Besucher des Konzerts stürmten auch durch den angrenzenden Bahnhof. Etliche Menschen wurden dabei verletzt.
Das Attentat tötete und verletzte Menschen, und es traf eine Kultstätte der Stadt, deren Geschichte vom industriellen Aufstieg und Niedergang, vom Fußball und der Popmusik geprägt ist.
„Ich habe in meiner Wohnung etwas gehört, das wie Donner klang“, sagt Kaylie, eine Frau Anfang 30. Sie arbeitet in einem Café, das wenige hundert Meter von der Arena entfernt liegt. Im Nebenhaus wohnt sie. „Dann kam mein Mitbewohner in mein Zimmer und sagte, ein Freund von uns, der noch näher an der Arena wohnt, habe gerade geschrieben, es sei etwas passiert, und er könne Rauch riechen.“ Eine Dreiviertelstunde später sei klar geworden, was passiert ist. Zu diesem Zeitpunkt hätten zahlreiche Hubschrauber über dem Viertel gekreist, das vom Geräusch unzähliger Sirenen erfüllt gewesen sei.
Viele sind den Tränen nah
Den Stadtteil – ein pulsierendes Geschäftsviertel Manchesters – habe sie noch nie so gesehen, erzählt sie dann und deutet auf die Straße vor dem Café. Noch immer zieht sich ein Strom von Berufspendlern die Straße entlang, es ist später Nachmittag. Nur wenige Autos fahren vorbei. Tausende andere Pendler kommen an diesem Tag wegen des geschlossenen Victoria-Bahnhofs gar nicht erst in die Stadt.
Viele Einwohner Manchesters boten nach dem Anschlag sofort ihre Hilfe an. Unter dem Hashtag #RoomsForManchester posteten Hotels und Anwohner, dass sie kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten bereitstellen können. Viele Taxifahrer schalteten die Taxameter aus und brachten Menschen aus der Innenstadt.
Am späten Vormittag kulminiert die Anspannung, die in der Stadt herrscht. In einem Einkaufszentrum in der Nähe des Anschlagsorts bricht Panik aus. Hunderte Menschen rennen ins Freie, viele sind den Tränen nah oder weinen. Auf Aufnahmen ist zu sehen, wie Polizisten hunderte Flüchtende in einer Fußgängerzone anweisen, sich in Sicherheit zu bringen. Was genau passiert ist, ist zunächst unklar. Augenzeugen berichten, es habe einen lauten Knall gegeben. Auch ist die Rede davon, dass Menschen plötzlich geschrien hätten, alle sollten sofort das Gebäude verlassen, ein zweiter Anschlag stehe bevor.
Schon einmal gab es einen Anschlag in Manchester
Der bis zum Montagabend letzte Terroranschlag, der Manchester erschütterte, war das Werk der Irisch-Republikanischen Armee. Sie zündete während der Fußball-Europameisterschaft 1996 eine 1500-Kilo-Autobombe, die im Zentrum der Stadt kaum einen Stein auf dem anderen ließ. Todesopfer gab es nur deshalb nicht, weil die Terroristen per Anruf vor der Explosion gewarnt hatten.
Manchester, mit seinen Textilfabriken einst Motor der Industrialisierung in Europa, hat ein Jahrhundert des Niedergangs hinter sich. Doch seine Kaputtheit und Abgehängtheit boten auch die besten Bedingungen für den Aufstieg zu einer Pop-Hauptstadt, deren Kreativität zeitweilig sogar London überflügelt hat. Seine Kindheit, schreibt beispielsweise Peter Hook, habe sich „düster und versmogt und braun“ angefühlt, „wie die Farbe eines nassen Pappkartons“. Die Vorstadt Salford, in der der Bassist der Bands Joy Division und New Order aufgewachsen war, hatten die Kommunalpolitiker nahezu vollständig abreißen und neu aufbauen lassen. Eine Band zu gründen, wurde für Jugendliche zu einer Art von Notwehr. Entsprechend klingt die Musik, die aus der 500 000-Einwohner-Stadt kam: dunkel, minimalistisch, rau, resigniert bis wütend. „Isolation“ heißt ein Hit von Joy Division. Der Sänger Ian Curtis hat sich mit 23 Jahren erhängt.
Hier wurde die Vorform des Techno erfunden
Legendär geworden ist ein Auftritt der Sex Pistols im Juni 1976. Es waren damals zwar nur 70 Besucher in die Lesser Free Trade Hall gekommen, doch viele von ihnen fanden, resümiert der Pop-Historiker Jon Savage, die „Aneinanderreihung musikalischer Manifeste“ so überzeugend, dass sie anschließend selbst Punk-Musiker werden wollten. Unter ihnen waren Morrissey, der Gründer von The Smiths, Peter Hook mit seinem baldigen Bandkollegen Bernard Sumner, Mark E. Smith von The Fall und Tony Wilson, bei dessen Plattenfirma Factory Records bahnbrechende Alben von Cabaret Voltaire, OMD, New Order oder den Happy Mondays erscheinen sollten.
In den 80er und frühen 90er Jahren entstand die vielleicht aufregendste Popmusik der Welt in Manchester und Nordengland. Zu verdanken war dies auch dem Club Hacienda, den das Factory-Label mitgründete. Hier verschmolzen Gitarrenpop und House Music miteinander zu einer Vorform von Techno. Das Ergebnis wurde halb ironisch Madchester genannt, und Bands wie die Inspiral Carpets, die Stone Roses oder Primal Scream verlegten ihre Auftritte später für einen Sommer der Liebe und des Wahnsinns in die Freiheit illegaler Open-Air-Auftritte.
Inzwischen ist Manchester weitgehend durchgentrifiziert, es gibt kaum noch Freiräume. So verschaffen sich erlebnishungrige Jugendliche nun wieder mit dem Bolzenschneider Zugang zu ungenutzten Grundstücken, um Partys zu feiern.
Paul McCartney, U2 und Madonna waren hier
Musik und Fußball bleiben Hauptstützen der britischen Arbeiterkultur. Das gilt besonders für Manchester, wo Liam und Noel Gallagher mustergültig die Allianz von Proll und Pop verkörpern. Die Brüder, glühende Anhänger von Manchester City, brachten es vor 20 Jahren mit ihrer Band Oasis zu vorübergehendem Weltruhm.
Heute besitzt die Stadt drei Kultstätten: die Stadien Old Trafford und Etihad, in denen Manchester United und Manchester City spielen, und eben die Manchester Arena. 1995 für eine Olympia-Bewerbung errichtet, war sie bislang bereits fünf Mal die Veranstaltungshalle mit den weltweit meisten Besucherzahlen pro Jahr. Paul McCartney, U2 und Madonna sind dort aufgetreten, aber auch der Klassik-Geiger André Rieu oder Motocross-Artisten. Ab jetzt wird die Arena vor allem für die amerikanische Sängerin Ariana Grande stehen und für die 22 Menschen, die dort nach ihrem Konzert starben.