Französische Juden wandern aus: Leben wie Gott in Israel
Die kleine Côte d’Azur nennen sie Netanja. Nirgends im Land ist die Einwanderung französischer Juden so deutlich sichtbar. Nun wird mit tausenden Neubürgern gerechnet.
Als sie die Nachricht vom Pariser Attentat erreichte, hatten Lucette und Patrice Doizon rund 3300 Kilometer entfernt bereits ihr neues Leben begonnen. Noch ohne eigene Wohnung und Arbeit. Während ihre Möbel auf einem Containerschiff über das Mittelmeer schipperten, ihren Besitzern hinterher.
Alles, was die Doizons und ihre 14-jährige Tochter Shani hatten, waren ihre neuen israelischen Pässe, ihre neuen jüdischen Vornamen, die sich manche religiöse Juden bei der Einwanderung geben, und die Gewissheit, dass es die richtige Entscheidung war, nach Israel zu ziehen. Rechtzeitig. „Als wir die Nachricht hörten, habe ich zu Patrice gesagt: Das hättest auch du sein können“, sagt Lucette Doizon, die sich nun Levana nennt. Ihr Ehemann, der jetzt Michael heißt, habe früher jeden Freitag vor dem Beginn des Schabbats in jenem Hyper Casher Supermarkt in Paris eingekauft, wo am 9. Januar 2015 – ebenfalls ein Freitag – ein Attentäter vier jüdische Franzosen erschoss. Knapp einen Monat später, am vergangenen Samstag, in Kopenhagen: ein Angriff auf ein Kulturcafé und eine Synagoge. Wieder wird ein Mensch getötet, ein 37-Jähriger, der während einer Bar Mitzwa vor der Synagoge Wache hielt.
"Israel ist euer Zuhause"
Wieder fordert Israels Premierminister Benjamin Netanjahu zur Auswanderung auf: „Wir sagen zu den Juden, unseren Brüdern und Schwestern: Israel ist euer Zuhause.“ Das Land will 180 Millionen Schekel, also knapp 41 Millionen Euro, in ein neues Aufnahmeprogramm investieren. So sollen beispielsweise bereits im Auswanderungsland mehr Hebräischkurse, Infoveranstaltungen und Beratungsstunden angeboten werden. Das Bild, das Netanjahu von Europa zeichnet, ist düster: „Wieder wurden auf europäischem Boden Juden getötet, nur weil sie Juden waren. Es ist zu erwarten, dass diese Terrorwelle weitergeht – auch die tödlichen antisemitischen Angriffe.“
Die Terrorattacken und die Reaktionen aus Israel entfachen eine neue Diskussion: Sollen Juden fliehen? Erinnert das, was derzeit in Europa passiert, an die Zeit vor mehr als 80 Jahren? Und was wird aus den europäisch-jüdischen Gemeinden? Bundeskanzlerin Angela Merkel meldet sich ebenfalls zu Wort: „Wir sind froh und dankbar, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt.“ Und auch die jüdischen Gemeinden Europas sind nicht ausnahmslos erfreut über Netanjahus Aufforderung. Auch Israel sei kein vollkommen sicherer Ort, sagt der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster.
7000 Franzosen sind 2014 in Israel eingewandert
Für Levana und Michael Doizon, beide Mitte 40, war er aber genau das. Sie haben Frankreich verlassen, weil sie es leid waren: die Angst vor dem Terror, Schändungen jüdischer Gräber, die Blicke und Reaktionen der Menschen auf den Straßen, die vor ihnen ausspucken, die sie anrempeln. Die Familie ist sichtbar religiös, wenn auch nicht ultraorthodox. Levana Doizon hat einen dunklen Rock an, der bis über die Knie reicht, einen modernen Steppmantel und ein azurblaues Tuch, das sie sich locker um den Kopf gelegt hat. Ihr Mann trägt zu seiner braunen Lederjacke Jeans und eine Kippa, keinen Hut, keine Schläfenlocken.
Die Familie zählt zu den rund 7000 Franzosen, die 2014 in Israel eingewandert sind, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Damit sind die Franzosen die stärkste Einwanderungsgruppe. In diesem Jahr rechnet Israel mit bis zu 15 000 neuen Staatsbürgern aus Frankreich.
Heute, Wochen nach den Anschlägen in Paris, sitzt das Ehepaar in der Wintersonne vor einem Café am Unabhängigkeitsplatz Kikar Ha’atzmaut in Netanja, der Stadt nördlich von Tel Aviv. Nirgends wird die französische Einwanderung so deutlich sichtbar wie hier, direkt am Mittelmeer. La petite Côte d’Azur, die kleine Côte d’Azur, wird die Stadt genannt, die schon immer französische Touristen und Einwanderer angezogen hat.
Viele kommen, weil sie sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlen
Am Unabhängigkeitsplatz, wenige hundert Meter vom Strand entfernt, bieten Immobilienagenturen Wohnungen auf Aushängen in den Schaufenstern an – auf Französisch. In einem einfachen Raum mit vier Schreibtischen und abgewetzten schwarzen Ledersesseln, dem Büro der Agentur Fitoussi, sitzt Avi Mesulaty und berät seine französischen Kunden in ihrer Muttersprache. Avi Mesulaty ist in Israel geboren. Die Sprache spricht er dennoch fließend. „Das lernt man in Netanja eben, man schnappt anfangs ein paar Worte auf und irgendwann merkt man, dass es für das Geschäft ganz hilfreich ist“, sagt er. Ein paar Häuser weiter bietet das „Café Gourmant“ crêpes au sucre, der Friseur nebenan trägt den Namen „Nouvel Hair“ und selbst die Schawarma-Bude heißt hier „Chez Claude“.
Levana und Michael Doizon sind nach Netanja gekommen, weil sie die Stadt bereits von ihren Urlaubsbesuchen kannten. Sie wussten, dass sie in der Stadt mit ihren wenigen Hebräischkenntnissen leichter Anschluss finden würden. Und dass es hier Menschen gibt, die ihnen gerade am Anfang helfen könnten.
"Wir müssen wieder von null anfangen"
Odette Jascenski zum Beispiel, die für die französische Organisation Casifan arbeitet. Auch diese hat ihren Sitz am Unabhängigkeitsplatz. Jascenski, eine ältere Dame, sitzt in ihrem Büro ohne Computer, dafür mit ständig klingelndem Telefon, Handy und vielen Dokumenten und Ordnern. Sie hilft den Neuankömmlingen, ein Konto zu eröffnen, eine Krankenversicherung abzuschließen oder die hebräischen Wasser- und Stromrechnungen zu entziffern. „Wir merken, dass die Einwanderung zunimmt“, sagt Odette Jascenski, die selbst vor 40 Jahren nach Israel gekommen ist. „Die Sprachschulen sind überfüllt, die Klassenräume zu klein, die Wartelisten lang. Und auch unsere Beratungsstunden bei Casifan sind voll“, erklärt sie. „Viele kommen, weil sie sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlen. Bei manchen spielt auch die Wirtschaftskrise eine große Rolle.“
Für Michael Doizon wäre die wirtschaftliche Situation eher ein Grund gewesen, in Paris zu bleiben. „Ich habe meinen gut bezahlten Job aufgegeben. Uns ging es in Frankreich finanziell sehr gut, wir hatten eine schöne große Wohnung. Meine Frau hat nicht mehr gearbeitet, weil ich genug für die ganze Familie verdient habe“, sagt er. An diesem Vormittag hat er sich mit einem Arbeitsvermittler getroffen. In Paris war er Werbemakler und verkaufte Anzeigen für Magazine. Die Suche sei nicht einfach, sagt er. „Wir müssen wieder von null anfangen.“ Auch Levana Doizon braucht bald einen Job. Ihr Mann hat als Kind Hebräisch gelernt – in der jüdischen Schule. Sie selbst spricht noch kein Wort. „Aber das macht nichts“, sagt sie. „Denn hier sind wir in Sicherheit. Mein Mann kann sorglos seine Kippa tragen und ich mein Kopftuch. Baruch Hashem.“ Gelobt sei Gott.
Starker Antisemitismus in Frankreich
Dass gleich neben dem Café ein gut sichtbares Schild mit roter Schrift – auch auf Französisch – den Weg zum „abris“, zum Luftschutzbunker weist und so daran erinnert, dass noch vor wenigen Monaten Raketen aus dem Gazastreifen in Israel einschlugen, macht den Doizons keine Angst. Sie waren zu dieser Zeit hier im Urlaub. Viel schlimmer ist für sie, persönlich angegriffen zu werden und sich damit alleingelassen zu fühlen.
„Wir haben schon seit 2006 daran gedacht, Aliyah zu machen, also nach Israel auszuwandern“, sagt Levana Doizon. Aliyah bedeutet „Aufstieg“, es ist ein Begriff aus der Bibel, mit dem heute die Neueinwanderung von Juden aus aller Welt nach Israel bezeichnet wird. Der Antisemitismus in Frankreich sei immer stärker geworden, habe immer mehr Platz in ihrem Alltag eingenommen: „Wenn ich mit meiner Tochter in den Bus steigen wollte, hat der Fahrer vor unserer Nase die Tür zugemacht. In der Metro stießen sie uns absichtlich oder zeigten uns den Quenelle, einen antisemitischen Gruß. Und die jüdischen Schulen müssen von der Polizei bewacht werden.“
Sie hatten nichts vorbereitet, noch keine Pässe und keine neue Wohnung
Mit dem letzten Gazakrieg im Sommer 2014 habe der Hass auf Juden in Frankreich einen Höhepunkt erreicht. Auf Demonstrationen wurden Plakate hochgehalten, auf denen stand: Tod den Juden. „Da war uns klar, dass wir nicht länger bleiben wollen“, sagt Levana. „Es war an Rosh Hashanah, dem jüdischen Neujahrsfest, als wir in die Synagoge gegangen sind. Da ist uns eine Frau mit ihrem Kind auf der Straße begegnet und hat gesagt: ‚Schau sie dir an, diese Juden.‘ Ihr Gesicht war voller Hass.“
Es gebe in Frankreich einen traditionellen alten Antisemitismus, sagt Doizon, der nach dem Holocaust etwas eingeschlafen sei. Und einen neuen, einen muslimischen Judenhass vonseiten zahlreicher Einwanderer. Der neue habe auch den alten Antisemitismus wieder aufleben lassen, da ist sie sich sicher. Deshalb beantragten sie und ihr Mann einen Termin bei der Jewish Agency, einer Organisation, die Juden dabei hilft, auszuwandern. Am 11. Dezember 2014 hatten sie einen persönlichen Beratungstermin in Paris. „Es tut mir leid, alle Plätze für die Auswanderungsrunde in diesem Jahr sind voll“, habe die Beraterin gesagt. „Ich habe ihr geantwortet, dass ich hier keinen Monat länger bleibe. Und ich bestand darauf, dass sie noch mal im Computer nachsah“, sagt Levana Doizon.
Der Umzug ist mehr als nur eine Flucht
Sie hatten nichts vorbereitet, noch keine Pässe und keine neue Wohnung in Israel. „Aber ich war bereit, unsere Wohnung in Paris sofort zu kündigen“, sagt Michael Doizon. Die beiden reden immer schneller, fallen sich gegenseitig ins Wort, so aufgeregt sind sie, ihre Geschichte zu erzählen, das kleine Wunder, wie Levana es nennt. „Die Frau schaut also noch mal in den Computer und tatsächlich hatte eine andere Familie ihre Reise am Morgen abgesagt. Es gab exakt drei freie Plätze für den nächsten Flug für Neueinwanderer am 27. Dezember.“
17 Tage später hatten die drei ihre Wohnungseinrichtung in einen Container zum Verschiffen geladen. „Ich hatte keine Angst, ich vertraute auf Gott“, sagt Levana Doizon. Der Umzug ist für sie mehr als nur eine Flucht. Es ist auch eine Überzeugung. „Wir glauben, dass Israel unser Land, das Land der Juden ist.“
Derzeit lebt die Familie noch in der Ferienwohnung einer Freundin. Die Möbel sind mittlerweile im Hafen von Ashdod angekommen, sie sollen dort lagern, bis die Doizons eine Wohnung gefunden haben. Möglichst im Zentrum, weil dort die Tochter zur Schule geht. „Heute war der zweite Schultag. Es ist anstrengend, sie hat gerade erst angefangen, Hebräisch zu lernen“, sagt Michael Doizon.
Leben ohne Anfeindungen
Auf dem Weg zur Schule besuchen sie noch die Patisserie JB. Zwei Brüder aus der Bretagne haben sie kürzlich eröffnet. In der Auslage: tartes aux pommes, eclaires und mille-feuille, mit Pudding geschichteter Blätterteig. „Sie backen wie in Frankreich, mit echter Butter“, sagt Levana Doizon. „Außer freitags“, korrigiert die Konditorin Hèlène Bonnenfant, die die Kreationen vorsichtig in Pappschachteln hebt. „Für das Wochenende backen wir mit pflanzlicher Margarine, weil die meisten Familien zum Schabbat Fleischgerichte essen.“ Religiöse Juden essen koscher, trennen also Fleisch und Milchprodukte.
Auch Hèlène Bonnenfant ist mit ihrem Mann aus der Bretagne vor zweieinhalb Jahren nach Israel eingewandert. Auch sie wegen des steigenden Antisemitismus. In Netanja kann sie nun ohne Anfeindungen koschere Backwaren verkaufen. Und Levana Doizon hat in ihrer neuen Heimat das gefunden, was sie in Paris so lange vermisst hat: ein Leben als Jüdin ohne Angst – aber mit französischem Lebensgenuss.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.