Nach dem Gaza-Krieg: Leben in Trümmern
Nach dem Krieg wollte Hanin mit ihrer Familie zurück in ihr Haus in Gaza. Doch das Haus gab es nicht mehr. 120 000 Menschen haben die Bomben obdachlos gemacht, sagt die UN. In die Verzweiflung mischt sich Trotz.
Zwei Tage nach dem Waffenstillstand kniet Hanin al Ajla in ihrem schwarzen Kleid auf einer dünnen Schaumstoffmatratze mit abgenutztem Blümchenbezug. Die Sonne scheint der 20-Jährigen ins Gesicht. Es ist heiß, stickig. Fliegen schwirren in der Luft. An den Wänden ihres weißen Containers kleben keine Tapeten, nur ein paar Sticker der Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge UNRWA.
Seit über einem Monat harrt sie mit ihrer neunköpfigen Familie in einem zwölf Quadratmeter großen Container in der Selahaddin Schule in Gaza-Stadt aus, die wie viele UN-Schulen als Flüchtlingslager genutzt wird. „Als wir uns unser altes Haus angeschaut haben, war das so traurig. Wir konnten nicht bleiben“, sagt sie.
Hanin und ihre Familie stammen aus Shujaiyeh im Nordosten von Gaza. Bei israelischen Bombenangriffen am 20. Juli wurde ihr Haus zerstört. Nur die Fassade steht noch. In der Nacht, als die Bomben kamen, konnten sie nichts retten. Alle Familien im Haus rannten so schnell sie konnten die Treppen hinunter, hinaus auf die dunkle Straße – auch der Strom war im Viertel ausgefallen. Hanin hatte nicht einmal mehr Zeit, sich Schuhe anzuziehen und das Kopftuch anzulegen.
Sie hat sich abgefunden mit der Zerstörung ihres Hauses
Wenn sie heute davon erzählt, muss sie nicht mehr weinen. Sie hat sich mit dem Gedanken abgefunden, dass nur noch Schutt und Asche von ihrem Heim geblieben sind. „Ich bin müde“, sagt sie und blickt mit ihren braunen Augen auf den Boden. Alles, was ihr geblieben ist, sind Erinnerungen: an ihr Kinderzimmer, in dem sie als Kind mit Puppen gespielt hat.
Fragt man Hanin, was sie den ganzen Tag lang macht, hält sie kurz inne: „Die Uni hat gerade wieder begonnen, eigentlich sollte ich Kurse besuchen und mit meinen Freunden Zeit verbringen“, sagt sie. Doch der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat nicht nur Häuser zerstört, sondern auch den Alltag der Familien in Gaza.
Über 1,8 Millionen Menschen leben in Gaza. Hanins Familie gehört zu jenen 120 000 Menschen, die der Krieg laut den Vereinten Nationen obdachlos gemacht hat. 50 Tage haben die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas gedauert. Es war der dritte Krieg seit 2008. Dabei sind etwa 2000 Menschen auf palästinensischer Seite ums Leben gekommen, ein Großteil davon Zivilisten. Über 17 000 Wohnungen und Häuser wurden vollständig zerstört oder so schwer beschädigt, dass die Familien nicht zurückkehren können.
Wie Hanins Familie stammen die meisten Flüchtlinge in der UN-Schule Selahaddin aus dem Viertel Shujaiyeh. Mit einer groß angelegten Bombardierung hat die israelische Armee die Mehrheit der Häuser dort zerstört. Shujaiyeh liegt direkt an der Grenze zu Israel. Das israelische Militär begründete die Bomben damit, dass sich in der Gegend und unter den Häusern Tunnel befänden, über die Hamas Waffen und Selbstmordattentäter nach Israel schmuggeln wolle. Die Flüchtlinge der Schule sagen, sie wüssten nichts von Tunneln. Sie wollen auch nicht über Politik oder die Hamas reden.
Trümmer, Schutt, Zerstörung. Überall
Wer durch das Viertel geht, sieht Zerstörung: Trümmer. Schutt. Riesige Löcher in Hauswänden. In manchen Straßen blieb kein Haus verschont, manche sind komplett eingestürzt.
Man sieht verbogene Metallstangen aus dem Beton ragen, Männer, Frauen und Kinder suchen zwischen den Steinen nach Habseligkeiten.
Einige Häuser kann man betreten. Steigt man über die Trümmerberge, knirschen Glasscherben unter den Schuhsohlen. Zerbrochenes Geschirr liegt auf den Küchenböden, mit Staub und Geröll beschmutzte Frauenkleider hängen noch an den Hügeln von halb zusammengefallenen Kleiderschränken.
Laut den Vereinten Nationen und diversen Hilfsorganisation beläuft sich der akute Bedarf für die Soforthilfe auf 367 Millionen Dollar. Langfristig werden die Kosten allerdings um ein Vielfaches höher sein. Die Europäische Union will mit 554 Millionen Euro helfen, über 100 Millionen sollen allein aus Deutschland kommen. Die USA haben der palästinensischen Einheitsregierung 900 Millionen Dollar zugesagt, die Golfstaaten 1,25 Milliarden. Die Hilfsbereitschaft der internationalen Gemeinschaft ist da. Trotzdem ist der Wiederaufbau eine gewaltige Aufgabe.
Ein Treffen mit dem Mann, der den Wiederaufbau organisiert
Der Mann, der für ihn verantwortlich ist, sitzt an diesem Abend im Restaurant des feinen Roots Hotels an der Strandpromenade von Gaza-Stadt. Mofeed al-Hasaini hält hier seine Treffen ab, seitdem seine Behörde, das Ministerium für Öffentliche Arbeiten, bei einem Luftangriff der israelischen Armee schwer beschädigt worden ist: Sie hatte ihren Sitz im Italienischen Turm, einem 13-stöckigen Büro- und Apartmentkomplex im Zentrum.
Al-Hasaini trägt einen maßgeschneiderten Anzug, einen gepflegten Schnauzbart und sagt: „Die neue Einheitsregierung von Fatah und Hamas steht und fällt mit dem Wiederaufbau Gazas.“ Doch der braucht Zeit. Der Minister hat ein Team von 250 Ingenieuren entsandt. Sie sollen bis Anfang Oktober einen detaillierten Bericht erstellen: Wie viel Infrastruktur wurde zerstört? Welche Häuser kann man instandsetzen, welche müssen abgerissen werden? Wie viel Geld wird für den Wiederaufbau jedes einzelnen Gebäudes gebraucht?
Am dringendsten sei es, so al-Hasaini, jene Häuser zu reparieren, die beschädigt, aber nicht vollständig zerstört wurden. In Gaza gibt es keine Mietkultur. Die Einwohner besitzen Immobilien und das meistens über mehrere Generationen. Werden diese zerbombt, gibt es nicht genug Wohnraum für die Flüchtlinge. „Diesen Menschen müssen wir als Erstes ihre Häuser zurückgeben.“
Für alle anderen Flüchtlinge sucht al-Haisainis Behörde derzeit nach Alternativen. In den UN-Schulen können sie nicht langfristig bleiben, der Unterricht soll bald wieder beginnen. Es gebe Überlegungen, Zelte und Container auf Freiflächen in der Nähe ihrer alten Nachbarschaften zu errichten. Wasseranschlüsse und elektrische Leitungen müssen verlegt, sanitäre Anlagen errichtet werden. „Und das alles, bevor der Winter einbricht.“
360 von Gazas 2700 Fabriken wurden beschädigt
Auch die Industrie benötigt dringend Hilfe. 360 von Gazas 2700 Fabriken wurden beschädigt oder zerstört. Die direkten und indirekten Verluste belaufen sich nach Schätzungen des Gaza-Fabrikantenverbands auf 237 Millionen Dollar. Auch der landwirtschaftliche Sektor hat herbe Verluste eingesteckt. Vor allem im Norden und Osten des Gazastreifens haben viele Farmer ihr Vieh, Gewächshäuser und Anbauflächen verloren. Hinzu kommen zerstörte und beschädigte Krankenhäuser und Schulen. „Der Krieg hat uns um 20 Jahre zurückgeworfen“, sagt al-Hasaini.
Gerade einmal einen Monat war al-Hasaini Minister der neuen Einheitsregierung von Hamas und Fatah, bevor der Krieg begann. Auf der Stirn des 50-Jährigen zeichnen sich Sorgenfalten ab. Seiner Familie gehört ein Bauunternehmen, die meiste Zeit seines Lebens hat er in den USA verbracht. New York City kenne er besser als den Gazastreifen. „Hätte ich gewusst, welche Aufgabe auf mich zukommt, hätte ich das Amt nicht angenommen“, sagt er. Er ist permanent im Einsatz, seine Kinder sehe er nur noch, wenn sie bereits schlafen.
Laut al-Hasaini sind 65 Prozent der Menschen in Gaza derzeit arbeitslos. „Wir hoffen, die Arbeitslosenrate um 30 Prozent senken zu können, wenn wir Jobs in der Baubranche schaffen.“ Doch viel hängt davon ab, ob Israel die Grenzen zum Gazastreifen für den Güterverkehr öffnet – so, wie es das Waffenstillstandsabkommen vorsieht. „Wenn wir den Menschen nicht schnell ihr Zuhause zurückgeben, werden Kämpfe auf der Straße ausbrechen“, sagt er.
In er Schule leben immer noch 300 Menschen
Wer konnte, hat die Flüchtlingsunterkunft bereits in den vergangenen Tagen verlassen. Doch jene Familien, die alles verloren haben, wissen nicht wohin. In den Räumen der Selahaddin-Schule leben noch immer mehr als 300 Menschen. Die Schulbänke haben die Sozialarbeiter in den Innenhof geräumt. Kinder laufen herum.
In den Klassenräumen und auf den Fluren haben sie dicke Wolldecken aufgehängt, die als Raumtrenner dienen sollen, damit den Familien ein wenig Privatsphäre bleibt. Spricht man mit den Familien, haben sie ganz unterschiedliche Sorgen: Einer älteren Frau schmerzen die Hüften, weil ihr die medizinische Versorgung fehlt. Ein Mann beschwert sich, weil er am Nachmittag noch immer nicht die Ration Essen für das Frühstück seiner Familie bekommen habe. Ein anderer Mann sagt, es fehlten Matratzen für seine Kinder. Eine Mutter hält ihren vierjährigen Jungen auf dem Arm: „Nach vier Tagen haben wir ihn aus den Trümmern unseres Hauses gezogen“, sagt sie. Obwohl ihr Haus dem Erdboden gleichgemacht wurde, verlange man von ihr ein Dokument, damit sie in der Schule bleiben kann. Das Dokument hat sie nicht.
Gaza Resistance. So haben sie ihre Tochter genannt
Doch zwischen den Trümmergeschichten findet sich nicht nur Verzweiflung, sondern auch Trotz: Gaza Resistance, so der Name des kleinen Mädchens, erst wenige Tage alt, liegt auf einer weißen Decke. Ihre Mutter hat sie in der Flüchtlingsunterkunft zur Welt gebracht. Stolz zeigt der Vater die Geburtsurkunde. Immer wieder kommen Gäste vorbei und beglückwünschen die Familie. Obwohl Mutter und Baby den Krieg überlebt haben, wissen auch sie noch nicht, wann sie wieder zurück in ihr Haus können, wann Gaza Resistance ein Kinderzimmer haben wird.
Beschwerden und Klagen sind bei Adnan Abu Hasna an der Tagesordnung. Der Sprecher der UNRWA in Gaza sitzt an seinem Schreibtisch und sein Telefon klingelt ununterbrochen. Adnan Abu Hasan arbeitet seit vierzehn Jahren für die Hilfsorganisation und hat die vergangen drei Kriege miterlebt. Mit Wiederaufbau kennt er sich aus, jetzt ist es allerdings anders. „So schlimm wie in diesem Krieg hat es die Zivilbevölkerung noch nie getroffen“, sagt er. Das Ausmaß der Zerstörung übertreffe die vorangegangen Kriege um ein Vielfaches.
In zwei Wochen wissen sie, wie viel Geld der Wiederaufbau kostet
Erst in ein bis zwei Wochen könnten sie wirklich sagen, wie viel Geld für den Wiederaufbau benötigt werde. Er hofft auf schnelle Gelder der internationalen Gemeinschaft, denn wenn die Familien bei der UNRWA einen Antrag auf Hilfe stellen, beginnt ein bürokratischer Staffellauf: Erst besichtigen Sozialarbeiter und Ingenieure die Wohnungen und Häuser, schätzen die Kosten, und dann irgendwann wird die Familie eine bestimmte Summe an Geld bekommen. In der Zwischenzeit kann die UNRWA wenig tun, außer die Notversorgung in den Flüchtlingsunterkünften zu gewährleisten.
Die Ungewissheit ist das, was Hanin und ihrer Familie am meisten Sorgen bereitet. Im Jahr 2008 wurde ihr Haus nur leicht zerstört. Minister al-Hasaini weiß, dass die Zeit drängt. „Aber wir dürfen den Menschen keine falschen Versprechen machen“, sagt er, „sonst werden sie ihr Vertrauen in uns verlieren“. Er schätzt, dass Gaza in zwei bis drei Jahren wieder vollständig aufgebaut werden kann. „Aber auch nur, wenn es bis dahin keinen weiteren Krieg gibt.“
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.