Wahl im Land der WM 2014: Krieg zwischen zwei Brasilien - Reich gegen Arm
Weiß gegen Schwarz. Süden gegen Norden. Der Kandidat der Wohlhabenden gegen die Präsidentin der Armen. In Brasilien liegen kurz vor der Wahl beide Seiten gleichauf. Nun kämpfen sie um die neue junge Mittelschicht. Doch die träumt von ganz anderem.
Als Helaine Alves nach halbstündiger Fahrt aus dem Bus steigt, stehen fünf Soldaten vor ihr. Die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen, die Zeigefinger an den Abzügen ihrer Gewehre, neben ihnen dröhnt ein Panzer. Die Männer mustern Alves, lassen sie vorbei, lehnen sich gelangweilt zurück. Alves scheint die Soldaten kaum wahrzunehmen, passiert sie federnden Schrittes.
Seit der Fußballweltmeisterschaft geht das schon so, es ist ein alltägliches Ritual, für beide Seiten. Kurz vor dem Anpfiff der WM im Juni wurden mehrere tausend Soldaten in die größte Favela Rio de Janeiros geschickt, den Complexo da Maré. Man wollte die Drogengangs in dem Viertel, das zwischen Zentrum und Flughafen liegt, in Schach halten. Weil nun, drei Monate nach dem Finale die Präsidentenwahlen anstehen, entschied man: Die Soldaten bleiben. Sicher ist sicher.
Wenn Helaine Alves also, so wie heute früh, zur Arbeit kommt, betritt sie militärisch besetztes Gebiet. Sie läuft entlang unverputzter, dicht gedrängter Häuschen, vor denen sich der Müll türmt und das Abwasser ungeklärt abläuft. „In der Maré leben die Abgehängten“, sagt Alves. Sie ist Lehrerin, unterrichtet an zwei öffentlichen Schulen, lehrt auch Erwachsene, die ihren Abschluss nachholen.
Der giftigste Wahlkampf seit langem
In gewisser Weise kehrt sie damit jeden Morgen in ihre eigene Vergangenheit zurück. Es gab eine Zeit, da galt es in Brasilien als unwahrscheinlich, dass eine wie Alves einmal eine richtige Arbeit finden würde. Mit einem Vertrag und festem Gehalt. „Wahrscheinlicher war es“, sagt sie, „dass ich Putzfrau oder Straßenverkäuferin geworden wäre.“ Alves stammt wie ihre Schüler aus einer Favela, doch sie konnte der Armut entkommen, gehört heute zur neuen brasilianischen Mittelschicht, der „Classe C“.
An diesem Sonntag muss sich Alves entscheiden. Brasilien wählt einen Präsidenten. Der Wahlkampf ist der spannendste und giftigste der letzten zwölf Jahre. Von einem „Krieg zwischen zwei Brasilien“ ist die Rede: der reiche weiße industrialisierte Süden gegen den ärmeren ländlicheren Norden. Der smarte Kandidat der Oberschicht, Aécio Neves, tritt an gegen die Präsidentin der Armen, Dilma Rousseff. Alle Umfragen sagen ein Patt voraus. Rousseffs Arbeiterpartei, die Partido dos Trabalhadores (PT), regiert Brasilien seit zwölf Jahren. Die Wahl ist auch eine Abstimmung über ihr Erbe. Und das mögliche Ende ihrer Ära.
Die Opposition verspricht: weniger Staat
Oppositionskandidat Neves verspricht vor allem eins: weniger Staat und das Ende der Ära PT. Verschwitzt steht er auf einer Bühne an der Copacabana, neben ihm lächelt seine zweite Ehefrau, ein ehemaliges Fotomodel. Um ihn herum flattern blaue Fahnen, auf denen „45“ steht. Es ist die Nummer, die die Brasilianer in die Wahlmaschinen eintippen müssen, wenn sie für IHN stimmen wollen.
Neves, 54, ist Spross einer Politikdynastie. Sein Großvater, Tancredo, war 1985 zum Präsidenten ernannt worden, starb aber vor Amtsantritt. Aécio Neves selbst war Gouverneur und erwarb sich das Image eines Pragmatikers und Playboys. Affären um Nepotismus und Alkohol am Steuer hängen ihm bis heute nach. Seine Gegner zeichnen gerne das Bild eines verwöhnten Muttersöhnchens.
Ein besseres Land: 35 Millionen Menschen sind der Armut entkommen
Einer der Fahnenträger an der Copacabana, Anfang 50, T-Shirt, Bermudas, Baseballkappe sagt, dass Brasilien in Bürokratie ersticke. Er sei Besitzer einer Modeboutique und könne ein Lied davon singen. Die PT sei eine „Bande von Dieben“, wie der Korruptionsskandal um die staatliche Ölgesellschaft Petrobras beweise. Der Mann schimpft auf die hohe Inflation und die „kommunistischen Kanaillen“. „Dilma raus! Die soll nach Kuba gehen!“
Aécio Neves hat natürlich einen anderen Habitus. Und kein Problem damit, zuzugeben, dass Brasilien unter der PT ein anderes Land geworden sei.
Ein besseres Land: 35 Millionen Menschen sind der Armut entkommen, der Hunger wurde ausgemerzt, es gibt annähernd Vollbeschäftigung. Der Mindestlohn stieg um 262 Prozent. Alphabetisierung, Elektrifizierung auf dem Land, Hochschulstipendien, der Bau von Häusern für die Armen – überall positive Ergebnisse. Und am wichtigsten vielleicht: Mehr als die Hälfte der Brasilianer zählt heute zur Mittelschicht, der „Classe C“. So wie Helaine Alves.
Sie ist ein Kind des Wandels
Die 35-Jährige ist ein Kind des Wandels. Die erste Generation, die nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern vom Internetzeitalter geprägt wurde. Die weiß, dass heute vieles besser ist als früher. Die aber auch sieht, was nicht klappt. Und die keine Lust hat, ständig zurückzuschauen, sondern Ansprüche anmeldet.
Ohne Helaine Alves’ Stimme, das wissen Neves und Rousseff, können sie die Wahl nicht gewinnen. Für Neves reicht es nicht, Unternehmer zu begeistern. Und nur mit Sozialtransferempfängern kommt auch Rousseff nicht weit.
„Ich wuchs in der Rocinha auf“, sagt Alves. Es klingt wie ein Urteil, lebenslang. Die Rocinha ist eine riesige Favela im Süden Rios, und jahrzehntelang war Herkunft der entscheidende Faktor für die Chancen im Leben eines Brasilianers. Wer arm war, blieb es auch. „Meine Mutter war aus dem Nordosten hergezogen“, sagt Alves. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Dennoch gelang es Alves, auf einer der besten öffentlichen Schulen Rios angenommen zu werden und zu studieren. „Das habe ich auch der Bildungspolitik der PT zu verdanken, die Menschen wie mir die Türen öffnete.“
CV - das Akronym einer Drogengang
Heute lebt Alves mit ihrer Mutter in einer bürgerlichen Ecke in Zentrumsnähe. Sie hat dort eine Wohnung gekauft, mit einem Spezialkredit, den die Regierung für klamme Antragsteller ausgehandelt hatte. Der Wert der Wohnung ist seitdem um ein Vielfaches gestiegen, weil die so genannte Befriedungspolizei in der benachbarten Favela relativ erfolgreich arbeitet. „Es wird zumindest nicht mehr täglich geschossen“, sagt Alves. An einer Wand ihres Hauses prangt dennoch „CV“, das Akronym einer Drogengang.
Bei den großen WM-Protesten war die Lehrerin jeden Tag dabei
Helaine Alves war Anfang 20, als Inácio Lula da Silva mit dem Versprechen Präsident wurde, Brasilien gerechter zu machen. Alves engagierte sich in Lulas Arbeiterpartei, der PT. Die Wahl des ehemaligen Metallarbeiters, über den die Oberschicht spottete, weil er nicht sprach, aß und sich kleidete wie sie, stellte eine kleine Revolution dar. „Wir waren voller Hoffnung“, sagt Alves. Schon bald schuf die Regierung groß angelegte Sozialprogramme, die heute weltweit als vorbildlich gelten. Und sie legte sich den Slogan zu: „Brasilien: ein Land für alle.“
39 Ministerien gibt es in Brasilien
Aber schnell stieß das Projekt an Grenzen. Um Mehrheiten im chaotischen Kongress zusammenzubekommen, schmiedete Lula Allianzen mit den alten Eliten. Diese verhinderten Reformen, die ihre Privilegien gefährdet hätten. Stattdessen forderten sie Posten, so dass es heute in Brasilia 39 Ministerien gibt, oft mit sich überschneidenden Kompetenzen. Schon in den ersten Regierungsjahren verspielte die PT so ihren Nimbus als revolutionäre Kraft. Am schlimmsten war, dass sie zudem – traditionelle brasilianische Politik – ein System des Stimmenkaufs im Parlament etablierte. Eine Landreform, eine Steuerreform oder eine Reform der Sicherheitskräfte verwirklichte Lula nie.
Und in der Wirtschaft? Setzte er auf Export: Soja, Eisenerz, Öl. Die Preise waren ja hoch, und die Chinesen kauften. So finanzierte seine Regierung die Sozialprogramme, mit denen Millionen aus der Armut geholt wurden. Sie waren jetzt Konsumenten, gingen zum ersten Mal im Leben shoppen: Fernseher, Waschmaschinen, Computer. Dazugehörigkeit definierte sich durch Konsum. Oft bezahlt auf Pump, mit Kreditkarten.
Als Dilma Rousseff 2010 Lulas Nachfolge antrat, galt Brasilien zwar als kommende Macht des 21. Jahrhunderts – symbolisiert durch die Vergabe der Fußball-WM und der Olympischen Spiele –, doch Helaine Alves war schon längst nicht mehr bei der PT. „Ich war enttäuscht. Die PT vergaß den Umbau Brasiliens.“ Alves besaß jetzt zwar ein iPhone, aber auf ihrem Weg zur Arbeit stanken die Müllberge zum Himmel. Und gleich daneben standen 16-jährige Dealer mit halb automatischen Waffen.
Zur WM reiste sie lieber durch Europa
Bei den großen Protesten im Juni 2013 gegen die Milliardenausgaben für die Fußball-WM war Alves jeden Tag dabei, sah wie die Militärpolizei gegen die Demonstranten mit Tränengas und Schockbomben vorging. Anschließend streikte Alves mit ihrer Gewerkschaft gegen die Arbeitsbedingungen an Rios Schulen. Und zur WM – als Schulferien ausgerufen wurden, um die Verkehrssituation zu entspannen – reiste die Lehrerin lieber nach Deutschland und Italien. „Fußball ist mir so was von egal.“ Auch die Möglichkeit zu reisen unterscheidet sie von ihrer Mutter, die, 60 Jahre alt, Brasilien bislang nie verlassen hat und die Welt für tendenziell gefährlich hält. „Wenn ich mein Geld ausgebe“, sagt ihre Tochter, „dann um andere Länder zu sehen.“
Nun buhlen Dilma Rousseff und Aécio Neves um Helaine Alves. Nur: Alves ist wie viele ihrer Landsleute weder von Dilma noch Aécio überzeugt.
Sie will für Rousseff stimmen. Aus Mangel an Alternativen
Präsidentin Rousseff, Tochter bulgarischer Einwanderer, wirkt bei ihren Auftritten vor allem stoisch. Die Amtsinhaberin scheint mit einem Panzer ausgestattet, durch den fast keine Emotionen dringen. Sie sei so distanziert, sagen manche, weil sie als junge Guerillera in den Kerkern der Diktatur gefoltert wurde, es sei ihr Umgang mit dem Schmerz.
Wenige Tage vor der Wahl fährt Rousseff auf einem Pick-up-Truck durch einen der Vororte, die sich nördlich von Rio ausdehnen. Sie trägt eine Schärpe, auf der steht: „Gegen Gewalt gegen Frauen“. Die Stimmung wirkt wie auf einem Volksfest. Die Präsidentin ruft dem zumeist dunkelhäutigen Publikum zu: „Was gut ist, wird fortgesetzt. Was nicht klappt, wird verbessert!“ In der Menge werden vor Freude Böller gezündet.
Sie sehnen sich Wandel herbei
Mit strenger Miene warnt Rousseff vor ihrem Herausforderer. Der sei eine Gefahr fürs Land, einer, der den Wandel verspreche, aber in Wirklichkeit die Zeit zurückdrehen wolle.
Wandel – den sehnt sich Helaine Alves tatsächlich herbei. „Besser gestern als heute“, sagt sie. Als Alves beim Tor ihrer Schule ankommt, stehen da einige Mütter und telefonieren aufgeregt. Sie sagen, dass eine Freundin von ihnen im Krankenhaus am Unterleib operiert worden sei. Danach habe das Personal sie einfach heimgeschickt, nun gehe es ihr elend, und sie brauche Hilfe. Entsetzt schimpfen die Frauen über das „fürchterliche“ Gesundheitssystem. Alves erzählt eine ähnliche Geschichte. Alves’ asthmakranker Neffe starb letztes Jahr im Krankenhaus, nachdem ihm ein falsches Medikament verabreicht worden war.
Es sind diese Alltagstragödien, die Helaine Alves daran zweifeln lassen, dass Brasilien sich zum schönen Mittelschichtenland gewandelt hat, mit denen die PT in ihren Fernsehspots wirbt. Brasilien sei eher das Land des schönen Scheins, von dem nicht viel bleibe, wenn man sich mit Europa vergleiche.
Und dennoch will Alves für Dilma Rousseff stimmen. Aus Mangel an Alternativen, wie sie sagt. Denn Neves, der wäre nun wirklich eine Katastrophe. Der repräsentiere das Gegenteil von allem, woran sie glaube: „Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität.“ Aécio hingegen stehe für das Brasilien der abgeschotteten Eliten. Außerdem sei die Mission der PT, Brasilien gerechter zu machen, noch nicht abgeschlossen.
Jetzt werden die Müllberge gefilmt
Alves betritt ihr winziges Klassenzimmer, dort sitzen auf 16 Quadratmetern ein halbes Dutzend Erwachsene, der älteste ist 55 Jahre alt. Ein bisschen scheinen sie sich zu schämen, dass sie wieder zur Schule gehen. Alves erklärt ihnen ihr neues Projekt: Sie sollen mit ihren Handykameras das ungelöste Müllproblem in der Maré dokumentieren. Die Schüler sind erst skeptisch, dann aber einverstanden, das sei ja ein wichtiges Thema.
Zwei Tage später postet Helaine Alves einen Eintrag auf Facebook: „Heute blieb meine Schule geschlossen. Wieder einmal. Schießereien zwischen Drogengangs in der Maré. Die Situation ist angespannt. Am Sonntag sind Wahlen.“