Nach dem Rücktritt von Sepp Blatter: Kann Michel Platini Fifa-Präsident werden?
Schon bringen sich bei der Fifa die ersten Bewerber ins Spiel. Doch das Format zum Präsidenten hat eigentlich nur einer: Michel Platini. Der Franzose kennt das System, beherrscht jeden Trick.
- Dominik Bardow
- Johannes Nedo
Als die Bühne leer ist, betritt sie Michel Platini. Es ist ein Moment der Ungewissheit, am vergangenen Freitag im Zürcher Hallenstadion, es sind die Minuten nach der Wahl, als noch unklar ist, ob Joseph Blatter Fifa-Präsident bleibt. Während alle im Saal warten und sich die Kandidaten zurückgezogen haben, schlendert Platini aufs Podium. Der Franzose stellt lässig ein Bein auf einen Stuhl und plaudert mit hohen Fifa-Direktoren um ihn herum. Eine Geste, die zu Platini passt – lässig und machtbewusst zugleich.
Der Chef des europäischen Verbandes Uefa weiß da längst, dass er diese Schlacht verloren hat, dass der von ihm unterstützte Kandidat verloren hat und Blatter gewonnen. Doch Platini weiß auch: Seine Stunde kommt noch.
Auch das FBI untersucht WM-Vergabe nach Katar und Russland
Sie kam schneller als gedacht. Nur vier Tage nach seiner Wiederwahl trat Blatter als Chef des Fußball-Weltverbandes zurück und wieder ist die Bühne verwaist. Nach 40 Jahren in der Fifa, 17 davon als Präsident, übergibt der Schweizer das mächtigste Amt des Weltsports an – ja, an wen eigentlich? Sein Nachfolger wird frühestens im Dezember gewählt.
Am Mittwoch verabschiedete sich Blatter von gut 400 Fifa-Mitarbeitern, sie applaudierten zehn Minuten lang, ihr Chef wirkte, als müsse er gleich weinen. Dann zog sich Blatter in sein Büro zurück und es blieb eine Ungewissheit: Wie geht es nun weiter im Fußball? Wer kann einen echten Wandel gestalten?
Aus den USA droht weiteres Ungemach: Das FBI untersucht jetzt ebenfalls die WM-Vergaben an Russland 2018 und Katar 2022. Bisher hatten nur die Schweizer Bundesanwälte ermittelt. Der Fifa stehen unruhige Zeiten bevor.
Schon am Tag Blatters überraschenden Rücktritts brachten sich die ersten Bewerber ins Spiel: der Jordanier Prinz Ali bin al Hussein, der die Wahl gegen Blatter trotz der Unterstützung der Europäer verloren hatte. Auch Scheich Ahmad al Fahad al Sabah aus Kuwait ist interessiert, der Südkoreaner Chung Mong Joon, selbst Diego Maradona wurde genannt und englische Buchmacher bieten eine Außenseiterwette an: noch einmal Blatter als Präsident, Quote 100:1.
Doch eigentlich hat nur ein Mann das Format, Blatters Platz einzunehmen: Michel Platini. Als Fußballer war er einst Weltstar, hat dann als Blatters Lehrling alle Tricks gelernt und ist heute Chef des reichsten Fußballkontinents Europa. Dessen Stimmen reichen in der Fifa zwar noch nicht für einen Wahlsieg, aber Platini kennt das System, weiß, wie man sich Mehrheiten verschafft und hat den Charme, andere zu überzeugen. Keiner weiß das besser als er selbst. „Ich bin der Einzige, der Blatter schlagen kann“, sagte Platini schon vor einem Jahr. Und trat dann doch nicht an. Traut er sich nun?
Am Samstag hätten sich die europäischen Verbandschefs in Berlin treffen sollen, anlässlich des Champions-League-Finals, um ihr weiteres Vorgehen gegen Blatter zu besprechen. Das Treffen ist nun abgesagt. „Es ist klüger, sich Zeit zu nehmen, um die Situation, besser einzuschätzen“, sagte Uefa-Chef Platini. Offenbar sind sich die Europäer untereinander nicht einig. Viele fragen sich, ob Platini derjenige ist, der sie einen kann, gar die ganze Fußballwelt. Gerade er, der erst als Zögerer galt, als Feigling, weil er nicht kandidierte, und der nun plötzlich Hoffnungsträger sein soll, für alle, die sich ein besseres, sauberes Spiel nach Blatter wünschen.
Platini: Machtmensch oder Lebemann?
Zweifel sind angebracht. Als Spielmacher im Mittelfeld war Platini ein schlampiges Genie, einer, der sich auf dem Rasen seine Pausen nahm, bevor ihm plötzlich ein genialer Einfall kam und er die Regie an sich riss. 1984 wurde er Europameister mit Frankreich, dreimal hintereinander Europas Fußballer des Jahres, das hatte vor ihm noch keiner geschafft. Heute, mit 59 Jahren, sieht der frühere Profisportler mit seiner markanten Nase, dem Bauchansatz und dem vorne schütteren, hinten wallenden Haar aus wie eine Mischung aus Napoleon Bonaparte und Gerard Depardieu. Auch das passt, denn er scheint nicht zu wissen, was er nun sein will: Machtmensch oder Lebemann?
Über die Fifa-Präsidentschaft sagte Platini einmal: „Glaubt ihr wirklich, ich brauche das und will es mir antun, ständig in die Karibik oder nach Ozeanien zu fliegen wie der Sepp?“ Ihm seien schon die Reisen nach Osteuropa zu weit. „Ich will abends zu Hause sitzen.“ Blatter blieb abends oft noch im Büro. Er war lange mit der Fifa verheiratet, Platini genoss das Leben. Der Franzose ließ es sich lange gutgehen von seinen Millionen aus Spielerzeiten, scheiterte als französischer Nationaltrainer, aber tummelte sich ansonsten überall dort, wo es schön ist. Dann organisierte er die WM 1998 im eigenen Land mit und kam mit Blatter in Kontakt. Die beiden verstanden sich sofort. Als technischer Berater erhielt Platini ein Büro in Paris. Es muss in dieser Zeit gewesen sein, dass er Geschmack fand an Macht und Einfluss. Mithilfe seines neuen Freundes aus der Fifa gewann Platini 2007 die Wahl zum Uefa-Präsidenten.
Er liebt diese Rolle. Wenn Platini sich auf einer Bühne bewegt, kann er alle in seinen Bann ziehen. Der Franzose versteht es, Menschen für sich einzunehmen. Er weiß, dass er grandios kokettieren kann. Er schiebt dann seine Unterlippe nach vorn, bläst seine Wangen auf und macht große Augen. Ein virtuoser Dackelblick.
Auch bei dem Uefa-Kongress Ende März in Wien. Platini führte durch die Sitzung wie ein erfahrener Conferencier, ein eleganter Showmaster, besser noch als Blatter. Und das Publikum lauschte begeistert jedem Wort, das er sprach. Zum Uefa-Präsidenten wurde er per Akklamation wiedergewählt. Alle im Wiener Messesaal erhoben sich und klatschten für ihn. Er umgarnt die Vertreter der europäischen Verbände, hat für jeden Lob übrig und bringt seine Zuhörer zum Lachen. Wenn er grinst, wirkt es oft wie ein Statement: Ich kann gar nicht verlieren.
Aus Freunden wurden Feinde
Diese Gewissheit hatte er lange mit Blatter gemein, doch er überwarf sich mit seinem Ziehvater, der Platini wie vielen anderen sein Erbe in Aussicht gestellt hatte. Als Platini zu mächtig wurde, kam es zum Bruch. Platini wollte sich die Fifa-Präsidentschaft selbst holen, aber zum richtigen Zeitpunkt. Einer wie er riskiert nicht, zu verlieren. Also schickt er al Hussein vor, einen Kandidaten, der nie eine richtige Chance hatte. Ob Platini die Wahl gewonnen hätte? Nach all den Skandalen, den Ermittlungen von US-Behörden, Verhaftungen von Fifa-Funktionären und Hausdurchsuchungen hätte es zumindest die Möglichkeit gegeben.
Ob dem Fußball damit gedient wäre, ist eine andere Frage. Blatter hatte lange etwas in der Hand gegen Platini: die Vergabe der WM 2022 nach Katar. Blatter war gegen die wahnwitzige Weltmeisterschaft im Wüstenemirat, Platini hatte dafür gestimmt. Die Verquickungen nach Katar reichen weit, Platinis Sohn erhielt sogar einen Job beim katarischen Staatsfonds QSI. Sollten die Ermittlungen der Schweizer und US-Amerikaner wirklich Korruption bei der Vergabe aufdecken, könnte Platini selbst mitten im Skandal stecken. „Er hat für Katar gestimmt, er wäre kein guter Kandidat“, sagt Theo Zwanziger, der mit Platini im Exekutivkomitee der Fifa saß.
Auch sonst taugt der Franzose nur sehr bedingt als Hoffnungsträger. Wie Blatter sichert er sich sein Wahlvolk mit Versprechen an kleine Verbände. Die Europameisterschaft blähte er auf 24 Teilnehmer auf, vergab die EM 2020 an gleich 13 Länder und führte die Nations League ein, einen Wettbewerb für europäische Nationalmannschaften, dessen Sinn und Zweck wohl nur Platini selbst klar ist. Im Zweifel: Geld und Macht sichern. Und auch beim Financial Fairplay, einem Kontrollinstrument für Klubs, die sich von Scheichs und Oligarchen haushalten lassen, wartet man noch auf die Umsetzung.
Die Vetternwirtschaft der Fifa ist Platini nicht fremd. Sein Schwiegersohn ist Musikproduzent und durfte die Hymne für die Europa League schreiben, einen Wettbewerb der Uefa. Kurz darauf entwarf er auch Hymnen für die Fifa und den Deutschen Fußball-Bund (DFB).
Blatter war Traditionalist
Und so viel Schlechtes sich über Blatter auch sagen lässt: Was das Spiel angeht, war er ein Traditionalist. Die WM mit 32 Mannschaften, die Regeln und die Verlässlichkeit der Marke Fußball tastete er kaum an. Ob Platini so zimperlich wäre als Weltfußballpräsident? Zumal er genau wie jeder andere Kandidat nicht nur Zustimmung aus Europa bräuchte. Die Verbände dort halten nur 53 der 209 Stimmen im Fifa-Kongress, der den Präsidenten wählt. Im Weltverband werden nur wenige Reformen möglich sein, solange die Stimme der Komoren so viel zählt wie die Frankreichs. Und selbst die hat Platini nicht sicher. Auch die Verbandschefs aus Spanien und Zypern, selbst unter Korruptionsverdacht, dürften wenig Interesse an mehr Transparenz haben. Nach dem Sturz des alten Königs droht nun eine Art Bürgerkrieg um die neue Ordnung im Hause Fifa.
„Westeuropa darf den Weltfußball nicht dominieren“, sagt zum Beispiel Jerome Champagne. Der Franzose war einst Vertrauter Blatters und Platinis, er selbst überlegt, noch einmal für die Präsidentschaft zu kandidieren. Und sagt: „Die Welt wird erst im Nachhinein verstehen, wie viel Gutes Sepp Blatter für den Fußball getan hat.“ Zumindest hielt er den Laden zusammen. Es verdient ja jeder etwas am Status quo, am System Blatter, die kleinen und die großen Verbände.
Die Stimme des DFB hätte Platini allerdings sicher. Der deutsche Fußball-Präsident Wolfgang Niersbach ist eng mit ihm befreundet. Er würde ihm wohl folgen. Von Alleingängen hält der 64-Jährige sowieso nichts. Das zeigte er auch rund um den Fifa-Kongress in Zürich. Vor der Wiederwahl Blatters redete er davon, wie sehr der DFB für einen Wechsel an der Fifa-Spitze sei und dass man dafür kämpfen werde. Als dann doch Blatter gewann, klang Niersbach auf einmal ganz anders. Da sprach er davon, die Beziehungen zu Blatter seien doch in Ordnung, man müsse sich annähern und über Nacht könnten aus Gegnern noch Koalitionäre werden.
Mit seiner Strategie, sich nicht festzulegen, ist Niersbach weit gekommen. Das hat er von seinem Weggefährten Franz Beckenbauer gelernt. Mit den Wichtigen muss man sich gut stellen. So hat er es vom Sportjournalisten zum mächtigsten Mann in Deutschlands größtem Verband gebracht. Seine Weigerung, eine Haltung zu entwickeln, nimmt bisweilen absurde Züge an. Als beim Fifa-Kongress der palästinensische Verbandschef Niersbach in einer Pause im Zürcher Hallenstadion zur Seite nahm und bei ihm dafür warb, Israel aus der Fifa auszuschließen, entgegnete Niersbach: „Ich bin neutral.“ Er wiederholte es immer wieder. „Ich bin neutral.“
Niersbach hat eine Kandidatur bereits abgelehnt
So hält er es auch im Streit um die neue Fifa-Führung: erstmal abwarten und später in die stärkste Strömung eintauchen. Damit kam er durch, denn klar ist auch: So schlecht ging es dem deutschen Verband unter Blatter nicht. Mit den Europäern will es sich der DFB auch nicht verscherzen. Schließlich möchte Deutschland die EM 2024 austragen, dafür werden noch einige Stimmen gebraucht.
Dennoch gab es auch innerhalb des DFB Verwunderung über Niersbachs Kehrtwende. Das will öffentlich keiner zugeben. Zum Angriff auf Niersbach rang sich nur der ehemalige Pressesprecher Harald Stenger durch. In der ARD kritisierte er dessen Auftritt in Zürich als sportpolitischen Offenbarungseid.
Niersbach äußert sich zu all dem nicht. Stattdessen brachte er am Mittwoch einen anderen Kandidaten ins Gespräch: Michael van Praag. Niersbach selbst lehnte eine eigene Kandidatur um den Posten des Fifa-Präsidenten schleunigst ab.
Er ist vor allem ein Fußballfan geblieben. Bei seiner Wahl zum DFB-Präsidenten ließ er seine Eintrittskarte von der WM 1972 an die Wand projizieren. Er berichtete davon, bei wie vielen Turnieren er schon dabei gewesen sei. Niersbach ist eher einer, der sich an Selfies mit der Mannschaft in der Kabine erfreut, der Bürokratie und Akten aber scheut. Er kann zwar äußerst gut netzwerken, doch der Blick für die große sportpolitische Strategie fehlt ihm. Einige in seinem Umfeld im DFB empfinden das so.
Ganz anders tritt der Engländer David Gill auf. Er positionierte sich offen gegen Blatter. Der frühere Chef von Manchester United hatte aus Protest gegen Blatter seinen Posten im Fifa-Exekutivkomitee nicht angetreten. An der ersten Sitzung des neu zusammengesetzten Gremiums am vergangenen Samstag nahm er nicht teil. Derzeit hat er den Status als einziger Aufrichtiger. Und wenn Gill nun verkündet, er wolle zu einer Erneuerung der Fifa beitragen, ist er auch einer der Wenigen, dem man das abnehmen könnte. Doch was ist wirklich verantwortlicher: symbolisch zurückzutreten oder weiter mit an Reformen zu arbeiten?
Platini muss sich entscheiden
Es muss und wird sich viel entscheiden in den kommenden Wochen und Monaten. Beginnt da ein neuer Fußball-Frühling? Auch Michel Platini muss sich entscheiden. Will er das Leben genießen oder kandidieren? Stellt er sich auf die Seiten der Reformer oder der alten Eliten?
Seit Blatters Rücktritt hat sich Platini aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, reagiert nur mit Statements. Der Uefa-Chef muss jetzt ausloten, ob er Mehrheiten hinter sich sammeln kann. Aber noch nicht in Berlin. Dort landet er am Donnerstag und will am Samstag nochmal feiern, beim Champions-League-Finale, Lebemann sein. Vielleicht ist es das letzte Mal. Wenn er kandidiert.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel