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Alles in Bewegung. Wütende Muslime protestieren auf beiden Seiten der Grenze in Kaschmir, seit im Juli ein pro-pakistanischer Rebell starb.
© Farooq Khan/dpa

Konflikt im Kaschmir: Indien und Pakistan hart an der Grenze

Während Pakistan dieser Tage wieder afghanische Flüchtlinge zurück in ihre Heimat schickt, droht Krieg an der anderen Grenze: Zwischen den Atommächten Pakistan und Indien eskaliert der ewige Konflikt im Kaschmir.

Wird das gut gehen? Aggressiver können sie kaum schauen, die pakistanischen Grenzsoldaten. Mit drohend aufgerissenen Augen marschiert der Sechsertrupp auf die indischen Grenzer zu, die geballten Fäuste hochgerissen. „Pakistaaaaan“, brüllen die Zuschauer, dazu Trommelwirbel. Das trägt zur Erregung bei, die in dieser Region leicht außer Kontrolle gerät.

Doch alle können aufatmen, hier am Wagah-Grenzübergang. Auf der anderen Seite brüllen die Inder gerade genauso. Dieser Theaterdonner in abgegriffenen Gala-Uniformen ist ein tägliches Schauspiel. Eine Show militärischer Macht an der Grenze zwischen Lahore in Pakistan und Amritsar in Indien.

Seit Wochen eskaliert aber der echte Streit um das zwischen beiden Ländern geteilte Kaschmir wieder. Die Provinz etwas weiter im Norden, um die die Atommächte schon zwei Kriege führten. Der Premier Indiens, Narendra Modi, und der Pakistans, Nawaz Sharif, gefährden zumindest verbal den Frieden fast täglich an einer der gefährlichsten Grenzen der Welt. Die Lage ist so ernst, dass jetzt UN-Generalsekretär Ban Ki Moon seine Vermittlung angeboten hat. Das Auswärtige Amt warnt inzwischen auch davor, nach Indisch-Kaschmir zu reisen.

Einem Ranger in olivgrüner Uniform stockt der Atem: Was macht bloß dieser Knirps da? Er wird doch nicht ...! Ein Junge krabbelt zum Grenztor, schwenkt ein grün-weißes Pakistan-Fähnchen. Der Ranger hat Mühe, ihn zurückzuhalten. Endlich, der Vater kümmert sich, der Wachsoldat ist erleichtert. Wie leicht könnte es wohl aus Versehen ernst werden? Die Sicherheitsvorkehrungen rund um Wagah sind seit einem Anschlag auf das Spektakel vor zwei Jahren noch strenger. Damals starben 60 Menschen.

„Jeden Inch des geliebten Vaterlands“

Die übertriebenen Gesten der schauspielernden Grenzer sind dieser Tage grimmiger als sonst, sagen Einheimische. Vielleicht ist es ganz gut, dass es dieses Theater noch gibt – zum Abreagieren. So komödienhaft die Zeremonie daherkommt, der Konflikt um die Gebirgsregion Kaschmir ist alles andere. Spätestens seit indische Soldaten im Juli den von seinen Anhängern als neuen Che Guevara verehrten 22-jährigen Separatistenführer Burhan Wani erschossen. Für Indien war er ein pro-pakistanischer Terrorist. Im September wurden dann 18 indische Soldaten getötet, Delhi machte umgehend Pakistan verantwortlich.

Der pakistanische Premier Sharif trug Kaschmir in die UN-Generaldebatte, zog eine Parallele zur Lage der Palästinenser. Seine Armee ließ auf einer Autobahn Mirage-Jets landen. Ein unmissverständlicher Gruß an Delhi – und die eigenen Leute: Uns kann keiner was. Der Armeechef drohte, „jeden Inch des geliebten Vaterlands“ zu verteidigen. Indien, der Feind – das Bild ist allgegenwärtig.

Seit der Subkontinent 1947 geteilt wurde, schwelt der Streit um das von Muslimen bewohnte, einstige Fürstentum in Asien. Seit 1989 kämpfen Rebellen für die Unabhängigkeit, viele von ihnen letztlich für den Anschluss an Pakistan. Ein Waffenstillstand wurde 2003 ausgehandelt, doch immer wieder gibt es Attentate und Ausschreitungen. Seit Wochen gehen wieder Bilder von jungen Leuten um die Welt, beschossen mit sogenannten Pellets – einige starben, viele verloren ihr Augenlicht.

Sind diese Menschen vielleicht nur Statisten in einem zynischen Machtpoker? Die Rivalen in Delhi und Islamabad streiten nicht nur um Kaschmir, sondern um ihren Platz in der Welt.

Vom Wagah-Grenzübergang geht es nach Norden, in das Kernland Kaschmirs. Langsam löst sich nach dem Morgenregen der Dunst, dichte Bäume säumen die Serpentinen, geben ab und zu den Blick auf eine Karstlandschaft frei. In der Tiefe schlängelt sich ein Fluss. In Muzaffarabad, Hauptstadt von „Azad Kashmir“, wie der pakistanische Teil heißt, ist es ruhig. Abgesehen von den Autos und Mopeds, die in den engen Straßen hupen.

Viele Bewohner sind vor einem Vierteljahrhundert aus Keran in Indisch-Kaschmir in den pakistanischen Teil geflohen. Den Ort jenseits der Demarkationslinie nennt der Premier des teilautonomen „Azad Kashmir“, Raja Muhammad Faruk Haider Khan, heute ein „24-Stunden-Konzentrationslager“ - aus Sicht der Pakistaner herrschten dort jedenfalls unerträgliche Nöte und Repressionen. Die meisten, die geflohen sind, wünschen sich Ruhe und das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden. Politiker rühren derweil die Trommel dafür, dass die Welt trotz der Kriege im Nahen Osten endlich auch Kaschmir zu ihrem Anliegen macht.

Shah Ghulam Qadir, Chef der örtlichen gesetzgebenden Versammlung.
Shah Ghulam Qadir, Chef der örtlichen gesetzgebenden Versammlung.
© Ingrid Müller

Die Rollen sind klar verteilt. „Wir wollen kein Konfliktmanagement, das geht allenfalls drei oder vier Monate gut. Wir wollen eine Konfliktlösung“, fordert der pakistanische Provinzpremier Khan an seinem wuchtigen Schreibtisch in Islamabad. Für ihn wäre der Ausgang einer Abstimmung klar: Anschluss an Pakistan. Unabhängig könne Kaschmir zwischen seinen Nachbarn nicht bestehen.

Von der Decke blättert Farbe, der Provinzchef spielt mit einem Stift. Indien misstraut er. Wenn das so weitergehe, nun ja: „Die Dinge könnten außer Kontrolle geraten.“ Wie leicht das passiere, hätten doch die Weltkriege gezeigt. Pakistan solle den UN-Sicherheitsrat anrufen: „Wir bereiten uns nicht auf einen Krieg vor. Wir wollen Frieden, Wohlstand, ein Ende der Armut, sauberes Wasser, Schulen.“ Nutzen dann - wie Beobachter meinen - vielleicht Islamisten die Lage aus, um eine Annäherung beider Atommächte zu verhindern? Provinzpremier Khan weicht aus, als er sagt: „In Kaschmir mag niemand Fundamentalisten.“

Einige derjenigen, die aus dem indisch-kontrollierten Keran kamen, lernen und arbeiten in einem Handarbeitsprojekt einer Entwicklungsstiftung. Manchmal fahren sie zu der Stelle, an der ihr Keran am gegenüberliegenden Ufer des Grenzflusses liegt. Wenn die Soldaten es gut meinen, können sie ihren Verwandten etwas hinüberwerfen. Von solchen Szenen gibt es Videos.

„Die Häuser sind noch da, wir können das Dorf sehen“, erzählt Mumtaz Khan. Der schmale 29-jährige Schneider lächelt verlegen. „Da kommen eine Menge Gefühle hoch.“ Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Cousins und Tanten leben noch dort, ein Onkel sei immer wieder eingesperrt worden. „Drei Jahre, zwei, mal einen, anderthalb Monate, ein Jahr beim letzten Mal.“ Im Moment hat er keinen Kontakt zu den Verwandten, die Telefonverbindungen sind gesperrt.

Rechnet er mit Krieg? „Wenn die anderen angreifen, wird es sicher eine Antwort geben“, formuliert er vorsichtig. Ginge es nach ihm, sollten die Kaschmiris selbst entscheiden. „Es wäre eine große Sache, endlich frei zu sein“, sagt er. Er würde für den Anschluss an Pakistan stimmen. Und „inschallah“, so Allah will, werde er das auch noch erleben dürfen. Draußen ruft der Muezzin. Im ersten Stock singt ein Kollege beim Sticken: „Mein Land, eines Tages werde ich hingehen und die Leute dort vertreiben “

Pakistan macht Geschäfte mit China - auch ein Rivale Indiens

Auf dem Basar schlagen sie kämpferische Töne an. Der Maschinenbaustudent Hassan Alazaz sagt: Indien zerstöre Kaschmir, „sie schießen auf die Augen der Leute, das muss sofort gestoppt werden. Die pakistanische Armee sollte reingehen und den Menschen helfen“ - am besten mit den Mudschahedin, Gotteskriegern. Er selbst wolle nicht in den Krieg, ihn interessierten Mädchen mehr.

Der Sprecher der gesetzgebenden Versammlung in der Provinz kennt seine Rolle und schildert eindringlich die Gräuel in Indisch-Kaschmir. Staatsmännisch sitzt Shah Ghulam Qadir im traditionellen weißen Shalwar Kameez mit grober Weste auf dem Sofa in seinem holzvertäfelten Büro in Muzaffarabad. „Ihr seid doch Deutsche, ihr kennt doch die Mauer. Warum muss es diese Mauer zwischen uns geben?“, fragt er die deutschen Journalisten, die das „Institut für strategische Studien“ in Islamabad eingeladen hat. Auf seinem Laptop lässt er Bilder vom brutalen Vorgehen indischer Sicherheitskräfte zeigen. „Sie haben nicht auf die Beine geschossen, sondern auf die Brust und ins Gesicht, 150 haben sie blind geschossen, 116 sind tot.“

Wenn es so weitergehe, sagt Provinzpremier Khan, „ist es sehr schwer für uns, auf dieser Seite zu leben und friedlich zu bleiben“. Stolz erzählt er, dass Pakistans Premier Sharif bei ihnen war, bevor er in New York ihre Forderungen vorgetragen habe: Die Lösung seien Dreiparteiengespräche - zwischen den Kaschmiris, die selbst entscheiden sollen, den Indern, die von ihnen selbst mitgetragene UN-Resolutionen ignorierten, und der pakistanischen Regierung. Zuerst aber müssten die Angriffe aufhören. Klar, wer aus seiner Sicht die Rolle des Bösen hat.

Kaschmir ist und bleibt zwar eine besondere Wunde. Doch schon bald möchte die pakistanische Regierung große Geschäfte mit Indiens Rivalen China machen. Außerdem versucht das muslimische Pakistan, sein Image vom Terrorstaat abzuschütteln.

Seit im Sommer der 22-jährige Separatist und die indischen Soldaten starben, eskaliert die Lage fast Tag für Tag. Auf indischer Seite wurden kürzlich mehr als 10.000 Bewohner umgesiedelt, berichtete der Sender CNN. In Städten entlang der Grenze gelte abends Verdunkelung, erzählen Pakistaner. Auch die eng verbundenen Kulturszenen leiden. Pakistanische Schauspieler sind von den Sets in Bollywood verbannt, pakistanische Kinos zeigen keine indischen Filme. Das trifft viele Pakistaner hart. Aus den Autos der Partycrowd in Lahore dröhnt indischer Pop.

Zwischen Islamisten und Moderne

Dass Pakistan zerrissen ist, zeigt sich in der Zwölf-Millionen-Metropole Lahore besonders deutlich. Samstagnacht staut sich der Verkehr wie am Berliner Kudamm nach einem gewonnenen Länderspiel. Frauen der Mittelklasse gehen inzwischen allein aus, auch in Bluse und Hose, haben nicht mal mehr pro forma ein Tuch dabei. Andererseits sind viele Frauen in Burkas unterwegs, an Einfluss gewinnen nicht nur moderne Großstädter, sondern auch Islamisten.

Aktuell steht Pakistans Premier Sharif zudem unter Druck, weil er in den „Panama Papers“ auftauchte. Und enttäuschte Anhänger klagen, er habe seine Wahlversprechen nicht eingelöst. In Islamabad gebe es vielleicht mehr Strom, anderswo habe sich kaum etwas geändert. Viele junge Pakistaner möchten aus ihrem Leben etwas machen. Sie ärgern sich über die Kriegsrhetorik. Und längst nicht alle sind sich sicher, ob sich nicht doch eine Seite provozieren lässt und einen Krieg auslöst. Einige Pakistaner sagen: Sharif und Modi seien allenfalls Konstrukteure, die technisch etwas aufbauen könnten, aber eben keine politischen Führer, die Außenpolitik verstünden.

Für möglichen Fortschritt müsse sich allerdings die gesamte soziale Struktur des Landes ändern. Die Kinder der Reichen könnten ja nicht mal „Parlament“ buchstabieren, schimpfen Kritiker, denn der Oberschichtsnachwuchs verwechsele das College mit einer Party - diese Kinder hätten es eben nicht nötig, einen Abschluss zu machen.

Ein positiveres Image als der Premier hat da eher sein Bruder. Shabaz Sharif ist Ministerpräsident der größten Provinz Pakistans, Punjab. Er präsentiert sich als Macher und empfängt an einem Sonntagmorgen um 9 Uhr die Journalisten. Sein beiges Hemd erinnert an eine britische Kolonialuniform, den lädierten Rücken stützt ein schwarzes „Molty Foam Back Care“-Kissen. „Das Monster Terror“ sei nicht zu besiegen, sagt Sharif , solange es nicht genug gut Ausgebildete, Jobs und Gesundheitsversorgung gebe und die Intoleranz in seinem Land nicht abnehme. Es gelte, den guten Islam zu lehren, alle Religionen sollten friedlich zusammenleben - quasi alles, was das Westherz wünscht. Aber, schränkt er ein, das gehe nicht über Nacht. Die geplante Kooperation mit China werde dazu beitragen, deutsche Investoren sähe er auch gern. Über das umstrittene Blasphemiegesetz seines Landes möchte er lieber ein andermal reden. Auch nicht so lange über Kaschmir. Überschwänglich dankt er Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik, hebt beschwörend seinen Zeigefinger: „Deutschland hat ein Herz.“

Mit dem geteilten Kaschmir sei es übrigens so, „als ob die ganze Bundesrepublik frei und liberal wäre, alle ihre Rechte hätten und es eine Ecke gäbe, in der das nicht gilt“. Es sei „höchste Zeit, dass sich die internationale Gemeinschaft zusammentut und handelt. Deutschland sollte etwas tun.“ Die rote Linie für sein Land? „Wenn sie,“ - die Inder - „Gott verhüte, Pakistan angreifen.“

Indien verkündete vergangene Woche, es habe mit „chirurgischen Schlägen“ Terroristen im pakistanischen Teil eliminiert. Pakistan verurteilte die „offene Aggression“, bestritt aber, dass die Inder auf pakistanisches Gebiet vorgedrungen seien. Selbst wenn es anders gewesen sein sollte, die Pakistaner hätten so einen offenen Krieg vermieden. Anfang der Woche traf Pakistans Premier Sharif die Führer der Oppositionsparteien. Die Welt soll sehen, dass sie die Guten sind.

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