Mutmaßlicher Mörder von Mohamed und Elias: Im Heimatdorf von Silvio S.
Silvio S. war schon als Kind schwer gestört, behauptet einer aus seinem Dorf. Die anderen haben beschlossen zu schweigen. Und ein Forensiker glaubt: Dieser Täter hätte weitergemacht.
- Sven Goldmann
- Torsten Hampel
- Sebastian Leber
Früh am Vormittag liegt der Nebel so dicht über den Brandenburger Äckern, wie es das Klischee vom November verlangt. Dabei ist doch noch Oktober. An Tagen wie diesen können nicht mal die bunt gefärbten Ahornblätter Trost spenden, man sieht sie ja auch kaum. Der Mann, von dem später bekannt wird, dass er Harald heißt, steht in einem grobgestrickten Pullover und in Filzpantoffeln vor der Tür. „Mich wundert das nicht, was da passiert ist“, sagt er, und dass er jetzt schon ein paar Stunden vor seinem Haus stehe. „Ist schon seltsam, dass auf einmal so viele Leute herkommen, hier ist doch noch nie was passiert.“
Die Gemeinde Niedergörsdorf im Fläming südwestlich von Berlin hat schon bessere Tage gesehen. Tage, an denen noch kein Gestrüpp vor dem Eingang zur stillgelegten Ziegelei wucherte, im Einkaufszentrum noch eingekauft wurde und in den Straßen zwischen Bahnhof und Gokartbahn womöglich noch Menschen zu sehen waren. Vom Bahnhof Niedergörsdorf ist es zu Fuß eine halbe Stunde zum Ortsteil Kaltenborn. Allerlei wild parkende Autos und Menschen mit Kameras und Fotos weisen den Weg zum Haus, in dem Silvio S. mit seinen Eltern gewohnt hat. Der Mann, der mutmaßlich zwei kleine Jungen entführt und getötet hat, den Flüchtlingsjungen Mohamed aus Berlin und Elias aus Potsdam. Zwei Jungen, vier und sechs Jahre alt, die Berlin und Brandenburg, ja ganz Deutschland einen Sommer und einen beginnenden Herbst lang in Atem gehalten haben. Die Spur führt nach Kaltenborn. 84 Einwohner, eine Feldsteinkirche und das graubraun verputzte Haus der Familie S.
Auf dem Gehweg brennt ein Lichtlein im Glas, jemand hat eine weiße Rose abgelegt. Ein paar Meter weiter vorn steht der Mann mit den Filzpantoffeln. „Mein Name tut nichts zur Sache“, und sein Alter will er auch nicht verraten, „ich bin Rentner, den Rest können Sie sich denken.“ Der Mann sagt, niemand im Dorf habe Kontakt zur Familie S., „mit denen will keiner was zu tun haben“, und der Sohn sei ihm schon immer komisch vorgekommen, „der war bereits als Kind nicht ganz richtig im Kopf, wenn Sie verstehen, was ich meine“. Nein, eigentlich nicht. „Na, der war geistig ein bisschen zurückgeblieben, das hat hier doch jeder gewusst.“
"Redeverbot"
Von der anderen Straßenseite nähert sich ein anderer Mann in Jeans und dunkler Jacke, er führt seinen Hund spazieren. „Gestatten, Christian Laiblin, ich bin der Ortsvorsteher“, und dann eilt er auch schon weiter zu dem Mann mit den Filzpantoffeln. „Harald, hör jetzt sofort auf damit, solchen Unsinn zu erzählen!“ – „Ich sag doch gar nichts!“
In der allgemeinen Erregung fällt das Wort „Redeverbot“, aber das mag der Ortsvorsteher auf keinen Fall so stehen lassen. „Hier kann jeder sagen, was er will, ich verwahre mich nur dagegen, dass dieser Mann für den Ort spricht.“ Es gehe hier um eine schreckliche Tragödie. Es gehe um Anstand und Respekt, vor den Eltern der toten Kinder, aber auch vor denen des Verdächtigen Silvio S.
Der Mann in den Pantoffeln schlurft zurück in sein Haus. Zurück bleibt der Ortsvorsteher. „Es gibt für uns hier eine Fürsorgepflicht im Umgang mit den Eltern“, sagt er. „Wir alle im Ort stehen zu den beiden, sie trifft keine Schuld an dem, was passiert ist, wir werden normal mit ihnen umgehen.“ Ob er schon mit ihnen gesprochen habe? „Nein, die beiden arbeiten gerade. Aber ich habe einen Brief hinterlassen.“ Ansonsten hätten sich alle im Ort darauf geeinigt, nichts zu sagen.
Er galt als Einzelgänger, arbeitete beim Wachschutz
Mit einem Mal ist Kaltenborn wieder menschenleer. Auch Harald lässt sich nicht mehr blicken. In der Einfahrt vor dem Haus der Familie S. parkt ein Polizeiauto. Die Rollläden sind heruntergelassen. Silvios Wohnung liegt unter dem Dach. Was ist da oben passiert? Aber will man das wirklich wissen, in allen furchtbaren Einzelheiten?
Über Silvio S. ist bislang wenig bekannt. Er ist 32 Jahre alt, arbeitete in einem Teltower Wachschutzunternehmen, er stand im Ruf eines Einzelgängers und ist polizeilich noch nicht in Erscheinung getreten. Er soll ein Geburtstagsgeschenk für seine Cousine gekauft haben, bevor er am Donnerstag vor dem graubraunen Haus in Kaltenborn festgenommen wurde.
Man kennt ihn nicht in der Kleingarten-Kolonie
Angeblich hatte er eine Parzelle in einer Kleingartenkolonie im nahe gelegenen Luckenwalde gepachtet, aber davon will man bei den Schrebergärtnern nichts wissen. „Der Täter ist hier nicht bekannt und hat auch keinen Garten gepachtet“, sagt Werder Fränkler, er steht dem „Kreisverband Luckenwalde der Gartenfreunde“ vor. Und doch verdichtet sich nach der Vernehmung von Silvio S. schnell das Gerücht, der seit dem 8. Juli vermisste Elias aus Potsdam sei in der Luckenwalder Kolonie Am Honigberg verscharrt worden. Schon zur Mittagsstunde hat die Brandenburger Polizei das Gelände im Süden der Stadt weiträumig abgeriegelt. Ein ältere Frau steht vor dem rot-weißen Absperrband an der Schwalbenstraße. „Komme ich denn nicht mehr in meinen Garten?“ – „Tut mir leid, gute Frau, aber das wird heute wohl nichts mehr.“ Am frühen Nachmittag transportieren Polizisten ein Paket ab. Am Abend steht fest, dass eine Kinderleiche gefunden wurde.
Auf dem Lageso-Gelände in Moabit, dem Ort, an dem Mohamed entführt wurde, ist die Trauer schon seit Donnerstag nicht zu übersehen. Gleich rechts neben dem Haupteingang Turmstraße – in Sichtweite der Überwachungskamera, die den Jungen vor 30 Tagen an der Hand des Täters beim Verlassen des Areals filmte – haben Passanten und Flüchtlinge mittlerweile hunderte Kerzen angezündet. Es sind so viele, dass man die Wärme der kleinen Flammen sogar aus ein paar Metern Entfernung spürt. Inmitten des Lichtermeers liegen Blumen, Briefe, winzige Engelsfiguren und eine Menge Stofftiere: ein Pinguin, ein Panda, mehrere Teddys. „Wir konnten dich nicht beschützen, möge dich Gott schützen“, hat jemand auf ein Stück Pappe geschrieben. Immer wieder bleiben Menschen stehen, einige knien sich hin, es wird geflüstert und auch gebetet. Schnell spricht sich herum, dass der Täter einen zweiten Mord gestanden hat. Vielleicht sollte man noch ein Foto von Elias ausdrucken und es dazulegen, schlägt einer der Umstehenden vor. Petra Kühn, eine Frau aus der Nachbarschaft, sagt, wie gern sie Mohameds Eltern ihr Beileid aussprechen würde. „Sie hatten es eh schwer im Leben, sie sind immerhin hierher geflüchtet.“ Und nun sei ihnen ausgerechnet dort, wo sie sich Sicherheit erhofften, der Sohn genommen worden.
Menschenfeindliche Unterstellungen
Mohameds Mutter stammt aus Bosnien, kam vor einem Jahr nach Berlin, lebte mit ihrem neuen Freund und drei kleinen Kindern in Reinickendorf. Nach Bekanntwerden von Mohameds Verschwinden gerieten Mutter und Stiefvater zunächst selbst in Verdacht: Womöglich, so hieß es, hätten sie das Verschwinden des Jungen bloß vorgetäuscht, um ihre drohende Abschiebung zurück nach Bosnien zu verhindern. Erst als die Aufnahmen aus der Überwachungskamera auftauchten, verstummten die bösen Gerüchte. Bald hieß es stattdessen, bei dem Fremden handele es sich um einen ehrenamtlichen Helfer – oder jedenfalls einen Menschen, der sich wiederholt auf dem Gelände als Helfer ausgegeben habe.
Womöglich ist das nicht einmal falsch. Wie Winfrid Wenzel, Kriminaloberrat beim LKA Berlin, am Freitag auf der Pressekonferenz mit versteinerter Miene feststellt, hat Silvio S. im Rahmen seines Geständnisses eine kaum zu glaubende Aussage gemacht: Am Tattag habe er sich zum Lageso begeben, um Gutes zu tun. Er habe den notleidenden Flüchtlingen helfen und Kindern Spielzeug schenken wollen.
Die Mutter hat ihn angezeigt
Frank Häßler, forensischer Psychiater am Universitätsklinikum Rostock, ist überzeugt, „dass dieser Mann nicht unauffällig war in seiner Biografie“. Der Professor hat, wie er sagt, für Gerichte etwa 70 Mörder begutachtet. Er vermutet, dass Silvio S. früher in einem Heim oder in der Psychiatrie gewesen oder wegen Auffälligkeiten in Behandlung und ambulant betreut worden ist. Dass der Mann mit seinen Eltern zusammenlebt, deute auf eine „Abhängigkeitsbeziehung“ hin. Vermutlich habe Silvio S. die Erfahrung gemacht, dass er das Selbstständigwerden nicht schaffe, den „Sprung in die Autonomie“, den Jugendliche in der Pubertät vollziehen. „Wenn man den Absprung nicht schafft, leidet man“, sagt Frank Häßler. Damit verbunden sei ein Mangel an sozialer Kompetenz. Womöglich habe der Mann „eigene Gewalterfahrung“ in Kindheit oder Jugend erleben müssen. Doch auch wenn er missbraucht worden sei, folge daraus nicht zwangsläufig eine kriminelle Entwicklung. Viele Kinder machten Erfahrung mit Gewalt, so Häßler, „nur ganz wenige von ihnen werden straffällig“.
"Gut, dass die Odyssee dieses Mannes ein Ende hat“
Für den Gewaltausbruch des Silvio S. könne es verschiedene Ursachen geben. Womöglich sei S. vor Monaten in eine Krisensituation geraten, zum Beispiel durch eine Trennung. Menschen wie S. seien durchaus in der Lage, ihre Impulse oder Triebe über lange Zeit im Griff zu haben. Eine Krise könne das ändern und dazu führen, dass jemand Gewalttaten in kürzeren Abständen begehe.
„Nicht außergewöhnlich“ sei, dass Silvio S. von seiner Mutter angezeigt wurde. Sie habe vielleicht einfach Angst gehabt, dass ihr Sohn ein weiteres Kind töten könnte. Jedenfalls, so Häßler, sei es gut, dass die „Odyssee dieses Mannes ein Ende hat“ – weil er sonst wahrscheinlich noch andere Kinder ermordet hätte.
Was den Täter an den Ort seines ersten Verbrechens verschlug, ist unklar. Elias lebte im Potsdamer Ortsteil Schlaatz, und dort ist es Freitagmittag fast menschenleer. Im Bürgerhaus, wo sich die Freiwilligen trafen, die bei der Suche nach dem Jungen halfen, haben sich die Nachrichten bereits herumgesprochen. Eine Frau aus der Gruppe von damals hat angerufen, völlig aufgelöst sei sie gewesen, sagt der Büroleiter. Er sagt auch: „Wer weiß, was da noch kommt. In Sachsen-Anhalt ist ja auch ein Kind verschwunden, so weit weg von hier ist das nicht.“
Auch Janine Lucas hat bei der Suche geholfen. Sie arbeitet hinterm Tresen der Gaststätte „Full House“, die im Erdgeschoss eines Hochhauses untergebracht ist. Die Tische sind gut besetzt, Lucas kommt mit dem Bedienen kaum hinterher. Ob sie, da nun der mutmaßliche Mörder des Jungen gefasst ist, auch etwas erleichtert sei an diesem Tag? „Nee, bestimmt nicht.“ Dann schweigt sie lange. „Ist ja keine schöne Nachricht. Und unsere Befürchtung traurige Gewissheit.“
"Irgendwann mussten wir es hinnehmen"
Eineinhalb Wochen hatte Janine Lucas mitgesucht, von jenem Mittwoch an, an dem Elias verschwunden war. „Ich hatte das an dem Abend auf Facebook gelesen und sofort den Impuls: ‚Ich will da unbedingt helfen gehen.‘“ Es war der 8. Juli, Elias und seine Mutter lebten damals seit einem Jahr im Schlaatz, vier Wochen zuvor hatten sie eine neue Wohnung im Hochparterre bezogen. Halb sieben am Abend, der Junge war vom Spielen nicht nicht heimgekommen, bat die Mutter Freunde darum, beim Suchen zu helfen. Um 19 Uhr 12 ging der Notruf bei der Polizei ein. Gegen 21 Uhr war Lucas, die in Teltow wohnt, im Schlaatz eingetroffen und half mit. Zehn Tage lang, dann sei „die Luft raus“ gewesen, „und irgendwann mussten wir es hinnehmen, dass wir nichts mehr machen können.“
Genauer gesagt: Es hatte Ärger gegeben. Hunderte von Helfern hatten sich gelbe Warnwesten angezogen und waren durch das Viertel gelaufen, über die Wiesen, immer auf der Suche nach Elias. Erst später merkten Helfer und Polizei selbst, dass das ein Problem werden könnte. Der Polizeidirektor, der selbst 170 Beamte täglich im Einsatz hatte, lobte die Freiwilligen ausdrücklich. Und er formulierte einen Satz, der allenfalls andeutete, dass es Probleme gab beim Koordinieren des breiten Engagements. „Die Helfer waren in der euphorischen Phase etwas jenseits dessen, wie man suchen sollte.“ Da ist was dran, sagt David Krause, einer der Helfer von damals. Es habe Leute gegeben unter ihnen, die sich in den Vordergrund spielen wollten. Aber eben auch andere. „Wütend“ sei er jetzt, sagt er, „traurig“, „ein gemischtes Gefühl, sprachlos“. Krause steht vorm Bürgerhaus, nicht weit von hier wohnt er. Am Abend findet am Bürgerhaus eine Gedenkveranstaltung statt.
Weiße Plüschhasen und rote Rosen
Dort fällt es Anja Berger schwer, ihre Tränen zu verbergen. Dennoch steht die Frau tapfer oberhalb der kleinen Treppe vor dem Bürgerhaus und spricht zu den etwa 150 Trauernden. Sie danke allen, die mitgeholfen hätten zu suchen. „Wir und die Familie sind euch unendlich dankbar dafür. Ihr habt uns geholfen, jeder von euch.“ Nun sei es leider Gewissheit, dass man Elias nicht mehr in die Arme schließen könne. Anja Berger ist eng befreundet mit dessen Mutter und ihrem Lebenspartner. Sie spricht auch für die Familie, die an diesem Tag nicht zu sehen ist. Ihre Trauer und ihren Schmerz über den grausamen Tod des Jungen teilten am Abend viele Anwohner und Nachbarn. Immer mehr Kerzen wurden auf der Treppe vor großen aufgestellten Plakaten mit den Bildern von Elias, Mohamed und Inga platziert, dem Mädchen, das in Stendal vermisst wird. Jemand legt einen weißen Plüschhasen ab, weitere Stofftiere kamen hinzu sowie rote und weiße Rosen. Dann legte sich Stille über den Platz zwischen den Plattenbauten, nur das Bellen eines Hundes in der Ferne ist zu hören.
Elias’ Mutter ist weggezogen, ein Hausmeister bestätigt das. Wohin, weiß hier keiner. Auch der Spielplatz, auf dem Elias zum letzten Mal gesehen wurde, ist in der Nähe. Er ist leer. „Er ist ständig leer seit dem Julimittwoch“, sagt Krause. Kaum ein Kind habe er seitdem dort noch spielen sehen. Von dem Spielplatz gehe etwas Gespenstisches aus, sagt er. Es ist ein böser Ort.
Mitarbeit: Steffi Pyanoe, Werner van Bebber, Thorsten Metzner, Stefan Engelbrecht