Richtungsstreit bei den Berliner Philharmonikern: Harmonie finden sie nur im Konzertsaal
Die Gräben zwischen den philharmonischen Fraktionen des Orchesters sind tief. Die verpatzte Wahl dürfte die Suche nach einem neuen Chefdirigenten für die Berliner Philharmoniker mühsam machen. Denn die bislang gehandelten Kandidaten wissen nun: Das Ensemble traut ihnen nicht alles zu.
Da sitzen sie wieder zusammen. Zwölf Stunden nachdem die Berliner Philharmoniker ergebnislos ihr Ringen um einen neuen künstlerischen Leiter abgebrochen hatten, proben sie auf dem Podium der Philharmonie Felix Mendelssohn Bartholdys „Italienische Sinfonie“. Die soll abends beim Festakt anlässlich der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland vor 50 Jahren erklingen. Zumindest, was das Zusammenspiel der verschiedenen Instrumentengruppen betrifft, herrscht wieder Harmonie.
Am Montag hatten sie sich heillos verrannt in der Diskussion über die Zukunft des Orchesters und über den idealen Nachfolger für Simon Rattle, der 2018 aufhören will. Die Lage bleibt heikel, denn die Gräben sind tief zwischen den verschiedenen philharmonischen Fraktionen – sonst hätten sich die 124 wahlberechtigten Mitglieder der weltberühmten Klassik-Truppe nicht die Blöße gegeben, zu nächtlicher Stunde vor die Öffentlichkeit zu treten und ihr Scheitern in der Chefdirigentenfrage zu verkünden.
„Die Stimmung während der Versammlung wurde von allen Beteiligten als sehr konstruktiv, kollegial und freundschaftlich beschrieben“, heißt es dagegen in einer Mitteilung, die Montagnacht um 23 Uhr veröffentlicht wurde. Es fällt schwer, das zu glauben. Aber es ist eben auch fast unmöglich, Details über den genauen Hergang herauszubekommen. Denn die Orchestermitglieder schweigen. Die Wahlordnung, die sich das Orchester selbst gegeben und von einem Anwalt hat absegnen lassen, verbiete es, Interna preiszugeben, heißt es offiziell. Manche Details könnten die Musiker ohnehin nicht berichten, erklärt ein Prominenter der Berliner Klassikszene. Demnach wurden am Montag nach jedem einzelnen Wahlgang stets nur vier Orchestermitglieder über die exakten Abstimmungsergebnisse informiert. Der Rest erfuhr nur, dass erneut keine Einigung erzielt wurde.
Am Tag danach dirigiert Paavo Järvi
Am Tag nach dem Debakel ist es keine leichte Aufgabe für den Dirigenten Paavo Järvi, unter diesen Umständen die Probe zu leiten. Immerhin kann er unbefangen vors Orchester treten, befand sich sein Name doch gar nicht erst auf der Shortlist der Favoriten. Andris Nelsons war da zu finden, der 36-jährige Lette, der für die Fortsetzung einer ästhetischen Richtung steht, wie sie Simon Rattle seit 2002 vorgegeben hat: neugierig, auch bei der Erforschung der Repertoire-Ränder. Sein Antipode ist Christian Thielemann, 56, Berliner, dazu bekennender Preuße und Spezialist der deutschen Romantik. Daniel Barenboim war der dritte Kandidat, seit mehr als 50 Jahren ein enger Freund des Orchesters, und allen Beteuerungen zum Trotz, er werde die Staatsoper nicht verlassen, dennoch einer, der den Posten staatstragend ausfüllen könnte. Als Nummer vier wurde Riccardo Chailly gehandelt, Barenboims Nachfolger am Mailänder Scala-Opernhaus und Leipziger Gewandhauskapellmeister. Ein sensibler Italiener. Das Gerücht geht um, es sei am Montag auf die Wahl zwischen den Dirigenten Andris Nelsons und Christian Thielemann hinausgelaufen.
Doch keiner dieser Herren – an Damen herrscht in der Klassik weiterhin Mangel – ist es nun also geworden. Soll man da von einer Katastrophe sprechen? Peter Raue, Berlins bekanntester Kulturgänger, der als langjähriger Anwalt der Philharmoniker bei den Wahlen von Claudio Abbado wie Simon Rattle sogar als Notar vor Ort anwesend war, will zu der Causa gar nichts sagen. Karl Leister, der von 1959 bis 1993 Solo-Klarinettist der Berliner Philharmoniker war, glaubt nicht, dass die geplatzte Wahl das Ansehen des Orchesters beschädigt habe. Er hoffe trotzdem, dass sich der Vorgang nicht noch einmal wiederhole. „Die Mitglieder sind alle – freundlich formuliert – Indivualisten“, sagt Leister. „Aber bei so einer Wahl muss man an alle und nicht nur an sich denken.“
Wie die internationale Fachwelt reagiert
Auch international ist die Nicht-Entscheidung überrascht zur Kenntnis genommen worden. Der renommierte britische Musikpublizist Norman Lebrecht sorgt sich in seinem Blog sehr wohl um das Ansehen der Philharmoniker: „Die Unsicherheit, die am Montag ans Licht kam, schwächt das starke Image des Orchesters“, schreibt er auf slippedisc.com. Und er befürchtet, dass Kandidaten, die gestern womöglich auf einen Anruf warteten, bei der nächsten Wahl für die Philharmoniker nicht mehr erreichbar sein werden. „Niemand wird gerne übergangen oder nur für den Zweitbesten gehalten.“
Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner gibt diplomatisch zu Protokoll: „Es ist zuweilen besser, eine wichtige Entscheidung zu vertagen, als eine zu treffen, die auf keine ausreichende Zustimmung im Orchester stößt.“ Und fügt, nachdem er auf die Autonomie des Orchesters und die Staatsferne künstlerischer Entscheidungen verwiesen hat, noch hinzu: „Ich bin zuversichtlich, dass die Philharmoniker am Ende des Diskussionsprozesses zu einer überzeugenden, von einer großen Mehrheit getragenen Lösung finden werden.“
Karajans Nachfolge war ebenfalls umstritten
So wie es bei den letzten drei künstlerischen Leitern gewesen ist. Bis zu Herbert von Karajan entschied das Orchester nicht alleine, sondern in Abstimmung mit der Konzertdirektion Wolff, die das damals noch privatwirtschaftlich organisierte Ensemble managte. Erst 1954, als der damalige Leiter Wilhelm Furtwängler starb, stimmten die Philharmoniker erstmals über ihren Chef ab. Schon zwei Wochen nach Furtwänglers Tod verkündeten sie: „Die versammelten ständigen Mitglieder des Berliner Philharmonischen Orchesters glauben, in Herbert von Karajan die künstlerische Persönlichkeit zu sehen, welche die Tradition des Orchesters fortzusetzen vermag. Die Resolution wurde einstimmig gefasst.“ Karajan sagte „mit tausend Freuden“ zu – und überrumpelte die Musiker, die ihn zunächst nur testweise engagieren wollten, mit der Forderung, ihm die Stelle gleich auf Lebenszeit zu übertragen. Was dann auch geschah.
34 Jahre später sah alles ganz anders aus: Für Karajans Nachfolge kamen in den Augen des Orchesters gleich zehn Maestri infrage. Alle wurden gefragt, ob sie denn im Falle eines Falles die Wahl annehmen würden – und alle bis auf einen sagten zu. Der Klarinettist und ehemalige Philharmoniker Karl Leister hat 1989 die Wahl von Abbado in der Siemens-Villa in Lankwitz mitgemacht. Nummer 2 wurde damals Bernard Haitink, sagt er. Vor der Abstimmung habe man zusätzlich Carlos Kleiber und Leonard Bernstein angefragt. „Wir wussten, dass sie nein sagen, aber aus Respekt wollten wir fragen“, sagt Leister. Für den als besonders schwierig geltenden Carlos Kleiber, der sich selber dem Orchester nicht zumuten wollte, rückte schließlich Claudio Abbado nach. Als der Italiener dann als Sieger feststand, waren die übrigen Kandidaten sauer – weil sie die unverbindliche Anfrage als Quasi-Zusage gewertet hatten.
Mit Claudio Abbado entschieden sich die Musiker damals gegen die Tradition und für einen Neuanfang. Während Karajan einen prächtigen Sound liebte, setzte Abbado auf klangliche Transparenz. Und auf Komponisten, die das Orchester zuvor hatte links liegen lassen.
Warum die Philharmoniker einen Reibungspunkt brauchen
Mutig voran wählten die Philharmoniker dann auch wieder, als Abbado angekündigt hatte, Berlin zum Sommer 2002 zu verlassen. Damals teilte sich das Orchester in die wertkonservativen Barenboim-Verehrer und die innovativ eingestellten Rattle-Fans. Die Wahl verlief reibungslos, dennoch dauerte es lange, bis sich die unterlegene Fraktion mit dem Ergebnis angefreundet hatte. Und inoffiziell kann man erfahren, dass rund 30 Musiker bis heute bei ihrer ablehnenden Haltung geblieben sind. Was sie Simon Rattle auch bei jeder Gelegenheit spüren lassen.
Berühmt ist Daniel Barenboims Rat an einen Nachwuchsmaestro: Wenn er den Gedanken nicht aushalten könne, von der Hälfte des Orchesters gehasst zu werden, solle er diesen Beruf gar nicht erst ergreifen. „Das Musikmachen ist eben eine sehr emotionale Angelegenheit“, sagt auch Kontrabassist Peter Riegelbauer am Tag nach der Wahl. Zusammen mit seinem Bratschisten-Kollegen Ulrich Knörzer hat er die montägliche Marathon-Sitzung im evangelischen Gemeindehaus in Dahlem geleitet. Auch er kann und will zwar keine Details erzählen, weder vom Prozedere des Wahlablaufs noch vom genauen Inhalt der Diskussion. Aber er versucht, um Verständnis dafür zu werben, dass die Musiker sich vertagen mussten: „Wir nehmen diese Entscheidung eben sehr ernst.“ Und die Sache ist schwieriger geworden: Bei der Wahl von Karajan, Abbado und Rattle war das Anforderungsprofil an den Chef noch ein ganz anderes: gute Musik machen, das genügte. Heute soll der künstlerische Leiter zudem das Gesicht des Orchesters sein, ein großer Kommunikator, offen für alle Aktivitäten der Philharmoniker von der Jugendarbeit bis zur Präsenz im Netz.
„Wir suchen hier nicht die Wahrheit, sondern eine Mehrheit“, so lautete das Motto von Rudolf Watzel, als er Orchestervorstand war und die Wahlen von Abbado und Rattle organisierte. Mit diesem Pragmatismus lässt sich 2015 offensichtlich keine Nachfolgerdiskussion mehr zum glücklichen Ende bringen. „Die Ziele, die wir haben, sind mehr oder weniger dieselben“, fasst Peter Riegelbauer zusammen. „Nur sind wir eben uneins, auf welchem Wege sie sich erreichen lassen.“ Will sagen: Traditionalisten und Innovative stehen sich unversöhnlich gegenüber, wobei der Graben auch durch die Generationen verläuft. Und dann fügt Riegelbauer hinzu: „Vielleicht machen wir es uns auch zu schwer.“
Sie sind das emotionalste Orchester der Welt
Über die Frage, ob die Philharmoniker das beste Orchester der Welt sind, lässt sich streiten. Zweifelsfrei aber sind sie das emotionalste Orchester der Welt. Sieht man den Wiener Philharmonikern beim Spielen zu, ergibt sich der Eindruck eines eher unbewegten Kollektivs. Bei den Berlinern dagegen ist alles in Bewegung, da wogt das Meer der Körper. Und dennoch – das betont Peter Riegelbauer – könnten alle sachlich diskutieren: „Es ist nicht so, dass die Stimmung am Montag aggressiv gewesen wäre. Es ging allein um die Sache.“
Besonders besorgt ist Peter Riegelbauer, dass die Nicht-Entscheidung einen der heiß gehandelten Kandidaten verletzt haben könnte. „Das wäre das schlechteste Signal.“ Da liegt er sicher nicht ganz falsch. Denn jeder, der sich Chancen ausgerechnet hat, weiß nun, dass er in den Augen des Orchester nicht das ganze Paket bieten kann: also großer Künstler zu sein und zugleich gewiefter Politik- und PR-Stratege, tiefgründiger Interpret und charmanter Mediendarling. „Wir wollten niemanden abwerten“, beschwört Riegelbauer. „Denn alle Kandidaten sind uns lieb und teuer.“
Wie soll es nun weitergehen? Die Frist von einem ganzen Jahr bis zum erneuten Wahlversuch, die Riegelbauer in der Nacht zum Dienstag angegeben hatte, relativiert er nun schon wieder. Sagt, ihm wäre es lieber, wenn es schneller ginge. Vor der Sommerpause aber will man die Sache nicht anpacken. Die Kollegen sollen Zeit bekommen, ihre Positionen in Ruhe zu überdenken.
Und schon spekulieren da welche, ob sich da vielleicht eine ganz andere Lösung anbahnt, ob ein einzelner Chefdirigent überhaupt noch zeitgemäß ist. Doch es ist ein absurder Gedanke. Denn die Qualität der Philharmoniker liegt ja gerade in ihrer Lust, sich an starken Persönlichkeiten zu reiben, mit ihnen auf Augenhöhe um den richtigen Interpretationsweg zu ringen – in dem Bestreben, gemeinsam künstlerisch zu wachsen.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.