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Alltag im Krieg. Tatjana Wladimirowna lebt mit ihrer siebenjährigen Tochter seit einem Monat im ehemaligen Kulturpalast in Donezk. Gekocht wird über einem offenen Feuer im Hof.
© Jutta Sommerbauer

Russland und Ukraine im Krieg: Flüchtlinge in Donezk - gefangen im Keller

In der Stadt Donezk tobt der Krieg seit Wochen, Zivilisten finden nur noch in Kellern und Bunkern Schutz vor Artilleriebeschuss. Und täglich sterben Menschen. Eine Reportage.

Ist es nun so weit? Ist an diesem Donnerstag eingetreten, wovor sich so viele Menschen so lange fürchteten? Eine Militärkolonne habe die Grenze zur Ukraine überquert, mehr als 1000 russische Soldaten seien im Land, heißt es. Nur 100 Kilometer von der Rebellenhochburg Donezk hielten sie sich auf.

Für die Menschen in der Stadt ist die Lage damit noch dramatischer geworden. Tausende verstecken sich wegen des Artilleriebeschusses seit Wochen in Bunkern. Einer davon ist der Keller des ehemaligen Kulturpalastes im Donezker Randbezirk Petrowskij.

Am Eingang erinnern Aushänge an frühere Tage. Fotos von Kindern beim Karatetraining. Werbung für Englischkurse. Probezeiten der Kindertanzgruppe. Doch die drei Stockwerke des wuchtigen klassizistischen Gebäudes sind verwaist. Nur den Keller des Hauses erfüllt noch Leben. „Unseren Bienenstock“ nennt ihn Tatjana Wladimirowna, und wenn man mit der 36-Jährigen die Betonstufen in das Dunkel hinabsteigt, dann weiß man, wie treffend dieser Ausdruck ist: Das Untergeschoss ist verzweigt wie ein Labyrinth. Von einem langen Gang führen links und rechts kleine Kojen weg. In ihrem Inneren harren Menschen aus. Nackte Wände, Leitungsgewirr, Kerzenschein.

Manche sitzen seit Wochen hier

Manche sitzen hier seit Tagen, andere seit Wochen. „Ich bin seit dem 8. Juli hier“, sagt eine Frau, deren Gesicht im Dunkel unsichtbar bleibt. Eine andere sagt, sie sei Anfang August eingezogen. Sie sind gekommen, weil es ihnen über der Erde zu unsicher geworden ist. Alte Menschen, Frauen, 40 Kinder. Sie haben Stühle aneinandergeschoben und alte Türen darübergelegt. Auf den Türen liegen Matratzen. Auf diesen behelfsmäßigen Betten schlafen sie. Unter dem Nachtlager liegen Kleidung, Wasserflaschen, Spielzeug. Vor ein paar Wochen, als die Menschen noch in ihren Häusern lebten, inspizierten Beamte den Keller des Kulturpalastes. Sie befanden, dass er als Luftschutzraum geeignet sei. Seine Wände sind bis zu eineinhalb Meter dick, sie stammen aus den 1930er Jahren. Schon den Zweiten Weltkrieg hat das Gemäuer überstanden. Tagsüber, wenn es eher ruhig ist, halten sich etwa 100 Menschen im Kulturpalast auf, erklärt Swetlana Iwanowna, eine füllige Frau mit sorgenvollem Blick. Sie hat bisher am Eingang des Hauses Wache geschoben.

Jeden Tag gibt es zivile Opfer

Bunkereingang. Wenn abends der Artilleriebeschuss stärker wird, füllt sich der Keller des Kulturpalastes.
Bunkereingang. Wenn abends der Artilleriebeschuss stärker wird, füllt sich der Keller des Kulturpalastes.
© Jutta Sommerbauer

Der Krieg zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten im Donbass, dem großen Industriezentrum mit seinem Steinkohleabbau, hat die Stadt erreicht. Die Armee hat um die Millionenmetropole einen Belagerungsring gezogen, beide Seiten feuern mit Artillerie und Raketen aufeinander, jeden Tag gibt es mehrere zivile Opfer. Swetlana Iwanowna versorgt nun mit anderen Freiwilligen die Zivilisten. Am Morgen schlüpft sie hinaus, um Gebrechliche in ihren Quartieren mit Essen zu versorgen, in den leer stehenden Wohnungen nach dem Rechten zu sehen und im Supermarkt ein paar Lebensmittel zu kaufen. Gegen Abend, wenn der Artilleriebeschuss über dem Arbeiterviertel stärker wird, füllt sich der Keller. Eilig laufen die Menschen herbei, zum Eingang an der linken Seite des Baus, wo in großen roten Buchstaben steht: „ubeschischte“. Luftschutzbunker. Dann sitzen hier 400.

Tatjana Wladimirowna, deren zarte Figur in einem grün-schwarz gemusterten Hausmantel steckt, hat Anfang August mit ihrer siebenjährigen Tochter im Kulturhaus Zuflucht gesucht. Am 2. August schlug eine Grad-Rakete in einer Schule gleich neben ihrem zweistöckigen Wohnbau ein. Wladimirowna und ihre Tochter gingen rechtzeitig im Flur in Deckung. Die Wucht der Explosion zerbrach die Fensterscheiben, Gegenstände flogen durch die Luft. Vor dem Haus knickte ein Baum um, die gelbe Fassade des Wohnblocks ist vernarbt.

Nach Hause zurück traut sie sich nicht mehr

Kaum war der Beschuss vorbei, da flüchteten Mutter und Tochter mit ein paar Habseligkeiten. Wladimirowna sitzt im Kulturhaus und denkt an ihre Waschmaschine, an den Mikrowellenherd, den Boiler. Alles, was sie besitzt, befindet sich in diesen vier Wänden. Sie traut sich nicht mehr zurück. Die Angst vor Plünderern ist groß. Doch noch größer ist die Angst vor neuen Einschlägen. „Jeden Tag warte ich auf die Nacht, jede Nacht auf den Tag“, sagt sie. Am Abend sollte man versuchen, rechtzeitig vor dem intensiven Beschuss einzuschlafen. Vor zehn Uhr.

Wladimirowna hat ein Gehör für die Geschosse entwickelt. „Es gibt Menschen, die können Bach von Beethoven unterscheiden“, sagt sie. „Ich kann Grad-Raketen von Granaten unterscheiden.“ Wenn Grad-Raketen auf das Viertel fliegen, dann sind es viele zischende Geschosse kurz hintereinander. „Tuf-tuf-tuf-tuf-tuf“, macht Wladimirowna das Geräusch nach. Die Granate einer Haubitze erzeugt einen einmaligen dumpfen, wummernden Klang.

Ihr 78-jähriger Großvater Andrej Andreewitsch harrt noch immer in seiner Wohnung aus. Allein. Er wohnt nur 100 Meter entfernt von dem Kulturpalast, aber für sie, die sich nicht hinauswagt, ist er unerreichbar. Swetlana Iwanowna bringt ihm Essen.

Von außen wirkt die Siedlung verwahrlost

Die niedrigen Häuser der Bergarbeitersiedlung stehen in Reih und Glied, ein sozialistisches Ensemble aus den 50er Jahren. Von außen wirkt die Siedlung verwahrlost, doch im Inneren der Wohnungen ist es einfach, bieder und ordentlich. Viele haben renoviert in den letzten Jahren: das Bad, die Küche, den Boden. Andrej Andreewitsch liegt in Trainingshosen auf dem Bett, im abgedunkelten Zimmer ist es stickig. Die Fensterscheiben hat er mit Klebestreifen fixiert, damit es bei einer Explosion das Glas nicht in den Raum schleudert. An Glassplittern im Körper sterben viele.

Andreewitschs Arme zittern, er leidet an Parkinson, kann kaum gehen. Jeder Schritt ist eine Anstrengung. „Das Wort Separatist kannte ich bisher nicht“, sagt er, wenn man ihn über den Konflikt im Donbass fragt. Er hat 50 Jahre lang im Schacht gearbeitet, mit 18 hat er dort begonnen. „Verstecken Sie sich im Korridor, wenn wieder etwas einschlägt“, rät ihm Iwanowna. Er nickt. In der Wohnung unter ihm harrt ein Ehepaar aus. Der Mann, auch ein pensionierter Kumpel, kann sich nicht bewegen. Anatolij Michalowitsch liegt in Unterhosen auf dem Bett und drückt das kleine Kassettenradio ans Ohr. Was sie berichten? „Es wird Krieg geben“, sagt er tonlos. Dann schaltet er auf das Musikprogramm um. Seine Frau sagt, den Tränen nahe: „Ich kann ihn nicht alleine lassen.“

Die Kinder reden über Bomben wie über Spielzeug

Wladimirowna steht mit anderen Frauen im geschützten Innenhof, dem einzigen Ort, wo sie sich an die Luft trauen. Auf ein paar Quadratmetern spielen die Kinder. Ein Mädchen sitzt auf einer Holzplanke und malt Bilder aus. Zwei Jungs spielen mit einem Ball. Andere machen sich an den Löschschläuchen zu schaffen, die in einer Ecke stehen. Spielzeug ist rar hier. Viele Familien sind nur mit dem Nötigsten gekommen. Die Kinder sind genügsam geworden. „Zu Hause ist es schöner“, sagt der elfjährige Zhenja. „Doch sie haben unser Haus bombardiert.“

Die Kinder im Hof des Kulturhauses kennen die Vokabeln des Krieges, sie wissen, dass„Widerstandskämpfer“ gut sind und die ukrainischen Soldaten böse, so sagen es die Eltern. Die Kinder reden über Bomben wie über Spielzeug, aber wenn der Beschuss lauter wird, sind sie die Ersten im Keller. Sie werden diesen Sommer nicht ans Meer fahren. Sie wissen nicht, wann die Schule wieder anfangen wird. Der Schulbeginn ist von 1. September auf den 1. Oktober verschoben worden. Doch dass der Krieg in einem Monat vorbei ist und bis dahin alle beschossenen Gebäude, wie etwa die Schule in der Nähe des Kulturpalastes, wieder instand gesetzt sind, ist nach den neuesten Nachrichten so gut wie ausgeschlossen.

Neben dem Müll kocht sie Kartoffeln über dem offenen Feuer

Im Innenhof quillt der Müll aus den Tonnen. Es gibt niemanden, der ihn wegbringen könnte. Ein paar Meter weiter steht Tatjana Wladimirowna und kocht Kartoffeln am offenen Feuer. Eine andere Frau hat Hackfleischbällchen geformt, die in der geschwärzten Pfanne brutzeln. „Ein Luxus-Essen habt ihr heute“, sagt Wladimirowna zu der anderen Mutter. Fleisch und Wurst müssen sofort zubereitet werden. Strom gibt es derzeit nicht, also funktioniert auch kein Kühlschrank.

„Wer hätte gedacht, dass ich mal so leben werde?“, fragt die Kindergärtnerin. Sie stammt aus einer Bergarbeiterfamilie, sie fühlt sich als Angehörige der Arbeiterklasse. Sie ist russischsprachig, in der Hauptstadt war sie noch nie, ihre Heimat war die Sowjetunion und ist heute der Donbass. Der in Kiew im November 2013 begonnene Aufstand gegen den früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch ist ihr so fremd wie der Westen. Übrig bleibt das Gefühl, dass die Belagerten nun für die Taten der anderen bezahlen müssen. „Kiew hat uns doch längst vergessen, nur der Donbass sorgt für uns.“ Der Donbass – oder vielmehr dessen neue Herren von der Donezker Volksrepublik.

Swetlana Iwanowna (links) gehört zu den Freiwilligen, die die Zivilisten versorgen. Im Hof verbringen die Familien den Tag.
Swetlana Iwanowna (links) gehört zu den Freiwilligen, die die Zivilisten versorgen. Im Hof verbringen die Familien den Tag.
© Jutta Sommerbauer

Nachdem die Separatisten im April nach Besetzungen öffentlicher Gebäude und dem Gefügigmachen der Sicherheitsstrukturen im Donbass die Macht an sich gerissen haben, hören die Menschen nur noch antiukrainische Töne in den Medien. Seit der Konflikt militärisch ausgetragen wird, hat sich die Propaganda noch verstärkt. „Donbass ohne Oligarchie und Korruption“ verspricht ein Plakat. Die Separatisten kündigen an, die „Faschisten zu erwürgen“. Wie tief die Versuche gehen, den Feind zu erniedrigen, war auch am ukrainischen Unabhängigkeitstag am vergangenen Sonntag zu beobachten: Da ließen die Separatisten etwa 100 gefangene ukrainische Soldaten mitten durch Donezk paradieren. Es war ein Gegen-Aufmarsch zu der pompösen Militärparade in Kiew, und es sollte den militärischen Gegner demütigen. Frauen mit Kalaschnikows bewachten den Zug der Kriegsgeiseln. Die Umstehenden beschimpften die Ukrainer als „Faschisten“. Hinter den Vorgeführten säuberten zwei Straßenfahrzeuge den Asphalt mit Wasser vom „Faschisten-Dreck“.

Die Bewohner des Kulturpalastes sind überzeugt, dass die ukrainische Armee es war, die ihre Wohnungen zerstört hat. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom Juli vermutete ebenfalls, dass das Viertel von ukrainischen Stellungen bombardiert wurde.

Oft ist nicht festzustellen, wer verantwortlich war

Doch auch die Separatisten verfügen über schwere Waffen, und sie feuern aus dem Stadtgebiet heraus. Oft ist im Nachhinein nicht mehr feststellbar, wer für welchen Schlag verantwortlich ist. Raketensysteme werden aufgestellt und wieder abgebaut, die Stellungen ändern sich, die Front bewegt sich. Einmal seien an einem einzigen Tag 16 Menschen umgekommen, sagt Swetlana Iwanowna. Doch die genauen Opferzahlen der vergangenen Wochen kennt niemand. Petrowskij liegt nahe der Frontlinie. Die Grad-Raketen haben eine große Zerstörungskraft, aber sind nicht sehr zielgenau.

Aus Kiew erwarten sie sich hier keine Hilfe. Auch vom Roten Kreuz oder anderen Hilfsorganisationen haben die Menschen noch nie Güter erhalten. Nur die „Denerowzi“, die Donezker Separatisten, bringen Nahrung und Medikamente vorbei. Die prorussischen Helfer haben Zettel mit der Nummer eines Notfalltelefons verteilt.

Schon wieder sind fast alle Windeln aufgebraucht. Eine Palette Wasserflaschen steht in einer Ecke. Mit der kostbaren Flüssigkeit bereiten die Mütter Babybrei zu. „Die Denerowzi helfen uns, wo sie können“, hört man hier. Die Menschen in Petrowskij sind ihnen dankbar. Eine andere Wahl haben sie nicht.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Jutta Sommerbauer

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