Warum Griechenland Syriza wählt: Eine griechische Familiengeschichte
An jedem Küchentisch, in jeder Taverne wird kurz vor der Wahl in Athen laut über einen Weg aus der Krise gestritten. Links oder rechts? Wie in der Familie des 88-jährigen Apostolos. Eine Reportage über vier Generationen, deren Geschichte auch die eines ganzen Landes ist.
Apostolos’ Foto steht auf der Kommode in einem verrauchten Wohnzimmer am Rande von Athen. Streng blickt der Mann mit dem Schnauzbart in Richtung Sofa, wo seine Tochter Natasha sitzt und von der griechischen Linkspartei Syriza schwärmt.
Diese Geschichte beginnt mit ihm. Sie reicht über vier Generationen, von den zwanziger Jahren bis zum 25. Januar 2015, an dem die Griechen sich bei Neuwahlen wahrscheinlich für einen linken Umsturz in ihrem Land entscheiden werden. Die Geschichte von Apostolos’ Familie, die ihren Nachnamen lieber nicht verraten möchte, ist auch die eines ganzen Landes.
Die kommende Wahl ist eine der wichtigsten für das Land seit Beginn der Krise 2008. In den Umfragen liegt die griechische Linkspartei Syriza vor den regierenden Konservativen. Die deutsche Regierung warnt vor einem Austritt aus dem Euro, die griechische Wirtschaft rechnet mit dem Schlimmsten. Viele Wähler aber erhoffen sich ein Ende der harten Sparpolitik, einen Neuanfang.
Apostolos, inzwischen nicht nur sechsfacher Vater sondern auch dreizehnfacher Großvater und neunfacher Urgroßvater, 88, blind und taub, findet den Linksrutsch furchtbar. Das erzählen seine Kinder, die Informationen nur noch stückchenweise an ihn herantragen. Er wird 1926 in einem Dorf auf der Halbinsel Peloponnes geboren, nicht weit vom Meer. Auf die zwei oder drei Linken in seinem Dorf zeigen sie mit dem Finger. Schon sein Vater und dessen Vater haben rechts gewählt. So war das eben, man folgte auch an der Wahlurne den Eltern, der Tradition. Aber auch wenn die Familie in Griechenland schon immer wichtig war und in der Euro-Krise noch wichtiger geworden ist, hat sich die Gesellschaft grundlegend verändert.
Den ersten Bruch mit der Tradition wagt Apostolos selbst. In seinem Dorf gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg keine weiterführende Schule, er aber will eine gute Ausbildung für seine Kinder und zieht mit ihnen nach Athen. Die Großstadt ist eine andere Welt. Laut, chaotisch, aufregend. Als aus seinen Kindern Teenager werden, herrscht im Land die Militärdiktatur. Während die zwei Söhne dem Vater folgen, werden die vier Töchter – wie viele andere Griechen in dieser Zeit – ganz anders politisiert. „Ich habe schon als Schülerin Flugblätter der Kommunisten geschmuggelt“, sagt Natasha und grinst. „Uns haben sie nicht durchsucht, uns hat das keiner zugetraut.“
Wie ihre drei Schwestern hat Natasha lange braune Haare, die sie zum Zopf gebunden trägt und in denen bis heute keine graue Strähne zu sehen ist. Auch mit Mitte fünfzig ist in ihr noch das Mädchen von damals zu erkennen. Dem Vater konnte sie von den Kommunisten nichts erzählen. Irgendwann aber wurde Natasha verhaftet und alles flog auf. Wie der Vater da reagierte? „Er fand das falsch, aber er hat es akzeptiert“, sagt sie. Erst viele Jahre später begannen sie, in der Familie offen über Politik zu reden. Das mussten sie lernen, denn während der Militärherrschaft erzählte man so etwas nicht einmal den besten Freunden.
Kinder, die ihre Eltern unterstützen - obwohl es andersherum sein sollte
Wer heute Griechen abends zusammensitzen sieht, gerade in den letzten Wochen dieses Parlamentswahlkampfs, kann sich das Klima der Angst, dass die zweite Generation dieser Familie geprägt hat, nicht mehr vorstellen. An jedem Küchentisch, in jeder Taverne, in jeder Bar wird laut und leidenschaftlich über den richtigen Weg aus der Krise gestritten. Bei Natasha und ihrem Ehemann Fontas klingt das ungefähr so:
„Ich denke…“
„Ach, hört nicht auf sie!“
„…dass Syriza hier endlich etwas ändern wird!“
„So ein Quatsch, die werden sie nicht lassen.“
„Du Pessimist! Das glaube ich nicht.“
„Weil du naiv bist! Sie werden denselben Weg gehen wie alle Parteien in diesem Land!“
Wenn die beiden auf ihrem Sofa fröhlich streiten und rauchen, kann man sich grob vorstellen, wie es klingt, wenn sich die knapp 50 Verwandten, die allesamt in Athen leben, zu Weihnachten oder anderen großen Familienfesten treffen. Auch mal hier in der Zwei-Zimmer-Wohnung von Natasha und Fontas. „Es wird dann zwar inzwischen richtig eng, aber nicht mehr so laut wie früher“, sagt Fontas und lacht. „Den Konservativen in der Familie gehen langsam die Argumente aus.“
Eigentlich halten nur einer von Natashas Brüdern und seine Familie noch wie der Vater zur konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia. Tassos, er ist der älteste aus der zweiten Generation, hat einen Brillen- und Kontaktlinsen-Handel aufgebaut, bei dem er zeitweise auch bis zu acht seiner Verwandten beschäftigt hat. Die Familie sorgt für die Familie, auch wenn es immer wieder Konflikte gibt, weil der eigene Vater oder Onkel gleichzeitig der Chef ist. Vor allem, seitdem es nun auch bei Tassos finanziell nicht mehr ganz so gut läuft.
Laut gestritten wird für die Nea Dimokratia in Apostolos’ Familie derzeit allerdings nicht. Wer nicht links wählt, schweigt zur Zeit im Land. Denn sehr viele Griechen machen die Regierung und die EU für die Misere verantwortlich, in der sie jetzt schon seit einigen Jahren stecken. Und auch wer die Linken für die falsche Alternative hält, will nicht für die Nea Dimokratia von Premierminister Antonis Samaras Partei ergreifen.
Die Wohnung, in der Natasha und Fontas leben, seitdem ihre drei Söhne ausgezogen sind, liegt in einem der ärmeren Stadtteile Athens am Hang eines Berges. Der freie Blick über die Stadt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wege von hier in die Innenstadt sehr weit sind. Wer es sich leisten kann, lebt zentraler. Doch obwohl es in Griechenland durch die Krise viele Familien ohne Krankenversicherung, Heizung oder auch Elektrizität gibt, ist es für Ortsfremde in Athen nicht leicht zu erkennen, wo hier arm und wo reich wohnt. Überall an den Straßen wachsen Orangenbäume, die Fassaden sind bunt und die Sonne wärmt sogar im Januar. Nur die leer stehenden Geschäfte, in denen früher kleine Lebensmittelläden waren, zeigen, dass es in dieser Gegend nicht viel zu verdienen gibt.
In Natashas Wohnung zeugt vieles von besseren Zeiten. Neben der Kommode mit dem Bild von Apostolos steht ein Klavier, genauso wie in den Häusern der anderen Schwestern, obwohl keiner mehr darauf spielt. Es sind Symbole der aufstrebenden Schicht, der sie sich zugehörig fühlten. Ihre Kinder sollten Klavierspielen lernen, die dritte Generation es besser haben als ihrer Eltern, so wie die es besser hatte als die ihrer Großeltern.
Natasha und Fontas haben zusammen ein Möbelgeschäft besessen, das lief gut. Dann kam die Krise und sie schlossen es – gerade noch rechtzeitig, bevor die Schulden zu hoch wurden. Seitdem ist das Leben für sie anstrengender geworden. Knapp 1000 Euro beträgt die Rente von Fontas, die für zwei reichen muss, ihre Miete zahlt einer der Söhne. Sie fahren kaum noch in ihr kleines Ferienhäuschen auf dem Land, das Benzin ist zu teuer. Beim Einkaufen rechnen sie nach, ob es noch für ein weiteres Stück Wurst oder Käse reicht. Denn obwohl die Gehälter sinken und die Renten gekürzt wurden, blieben die Preise dieselben. Das Geld geht drauf für die Dinge des täglichen Lebens und für Versicherungen, denn soweit soll es nicht kommen, dass sie die verlieren. Eigentlich hatten sie sich die Zeit nach dem Auszug der Kinder anders vorgestellt. „Aber wir wollen nicht zu viel jammern, wir hatten lange ein schönes Leben“, sagt Fontas, der in diesem Moment viel älter aussieht als 66. Nur: Statt von ihren Kindern abhängig zu sein, würden sie die lieber unterstützen.
Mit Syriza soll der Neuanfang kommen.
Der Weg zur dritten Generation ist nicht weit, führt durch kleine Straßen nach Peristeri, ein Arbeiterviertel. Dort wohnen die beiden Neffen von Natasha noch bei ihren Eltern. Sie sollten längst ausgezogen sein. Doch obwohl beide im Gegensatz zu fast 50 Prozent ihrer Altersgenossen einen Job haben, reicht das Geld nicht für eine eigene Wohnung. „Ich habe jeden Tag das Gefühl, dass wir etwas verpassen“, sagt Giorgos, mit 28 der ältere der beiden, er jobbt in einem Laden seines Onkels. Er würde gerne reisen, nicht mal ein Mädchen will er nach Hause mitbringen. Seinen Freunden geht es genauso, nur wenige denken daran, eine eigene Familie zu gründen oder wagen eine feste Beziehung. „Es ist, als würden wir alle auf etwas warten“, erklärt er. Aber auf was, das wisse man nicht. Die Krise dauere nun schon sechs Jahre und er sehe nicht, dass es schnell besser werde.
Auf den Männern in diesem Alter liegt ein besonderer Druck, denn an der traditionellen Idee, Männer müssten für ihre Familie ausreichend sorgen können, hat die Krise nichts verändert. Wohngemeinschaften unter Freunden sind verpönt, die Chance, sich von Zuhause abzunabeln gleich null. „Wir in Griechenland nennen sie schon die verlorene Generation“, mischt sich Eleni, die Mutter der Brüder ein. „Damit sind eigentlich alle zwischen 20 und 40 Jahren gemeint.“ Die Brüder wehren sich nicht gegen diesen Titel. Griechenland verlassen wollen sie nicht, es könnten ja nicht alle einfach abhauen, sagen sie. Wie leicht ihnen das Zusammenleben mit den Eltern fällt? Schulterzucken. Gibt es viel Streit? Schulterzucken. Der Vater sucht selbst seit fünf Jahren Arbeit, er kann seinen Söhnen nicht helfen. Zwischenzeitlich legt die Mutter Holz im Ofen nach. In der Wohnung stehen alle Türen offen, es ist ihre einzige Wärmequelle, Zentralheizung ist zu teuer. In der vergangenen Woche hat es in Athen geschneit.
Die meisten hier im Raum werden Syriza wählen, der ein oder andere auch die Kommunisten. Sie hätten, so sagen die beiden Brüder, bei dieser Wahl erstmals das Gefühl, es könne sich etwas ändern. „Schlechter als jetzt, wo es keine Jobs und keine Zukunft gibt, wie soll das gehen?“, fragt Giorgos. Der Euro ist ihnen ziemlich egal, die Europäische Union sehen sie als Projekt, das vor allem den reichen Deutschen dient.
Nicht weit entfernt lebt eine der Frauen, die für die vierte Generation von Apostolos’ Familie sorgen sollen. Seine Enkelin Elena wohnt in einem der besten Viertel Athens, in Kolonaki. Die Wohnung ist elegant eingerichtet. Elena ist im Gegensatz zu ihren Verwandten groß gewachsen und blond, „schon 35“ und „immer noch kinderlos“, wie es in ihrer Familie heißt. „Ich habe mich lange nicht getraut, Kinder zu bekommen“, sagt sie. „Das war bei all meinen Freundinnen so.“ Sie hatte als studierte Biologin einen Job im Marketing einer Laborkette. Auch sie wird links wählen und gehört damit zu der Gruppe, die bei der Wahl den Ausschlag geben könnte. In Wähleranalysen sind die meisten Syriza-Anhänger jung, gut gebildet, aber gering verdienend. Die Wähler der Regierungspartei sind zum Großteil bereits über 65 und verdienen gut.
„Seit kurzem sehe ich das mit den Kindern aber anders“, sagt Elena dann. „Ich habe mich an die Krise gewöhnt und will jetzt trotzdem welche. Ich habe keine Lust mehr, Angst zu haben!“ Sie sagt das, obwohl oder vielleicht gerade weil kurz vor Weihnachten das passiert ist, wovor sie sich die ganzen Jahre gefürchtet hatte. Sie wurde von einem auf den anderen Tag entlassen. „Ich fürchte ich war zu teuer“, sagt sie. Ihre Chefs werden ihre Führungsposition neu ausschreiben, auf Mindestlohnbasis. 586 Euro brutto.
Solange sie selbst keine Kinder hat, passt Elena auf die anderen Urenkel von Apostolos auf. „Ich dachte lange, es ist keine gute Welt, in die wir die Kleinen setzen“, sagt sie. „Am Anfang der Krise haben alle gedacht, wir müssten Tomaten und Kartoffeln auf dem Balkon pflanzen, um zu überleben.“ Heute kann sie darüber lachen. „Es ist doch gut zu sehen, was ein Volk alles durchstehen kann.“ Es gebe keine Angst vor einem Neuanfang. Warum nicht die Linken ausprobieren? „Wer alles verloren hat, der fürchtet sich nicht mehr“, sagt sie. „Das ist der Unterschied zwischen uns und den Deutschen. Wir schielen nicht mehr darauf, was wir in der Vergangenheit alles hatten.“
Dann zitiert sie aus dem Gedächtnis einen Spruch, der ihr beim letzten Auftritt des Syriza-Politikers Alexis Tsipras, des potenziellen neuen Ministerpräsidenten, besonders gut gefallen hat: „Syriza ist Europa. Und Europa verändert sich.“ Der Vater, Opa und Uropa Apostolos, hofft sie, wird davon nicht mehr viel mitbekommen. Es würde ihn nur aufregen.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite, der Reportagen-Seite, des Tagesspiegels.