„Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“: Eine Flucht vor den Nazis wird zum Abenteuer
In Caroline Links Verfilmung von Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, triumphiert nicht der Schrecken. Das ist im Geist der Autorin.
Eine Geschichte, die im Februar 1933 in Berlin beginnt. Der Vater des neunjährigen Mädchens Anna muss als prominenter jüdischer Publizist über Nacht aus Deutschland fliehen, Anna, ihre Mutter und der kaum zwei Jahre ältere Bruder folgen dem Papa bald ebenso jäh und lassen ihr Hab und Gut, ihr bisheriges Leben für immer zurück. Doch diesen Schicksalshieb intoniert Caroline Links Verfilmung von Judith Kerrs autobiografischer Kindheitserinnerung „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ auf ganz überraschende Weise.
Kein dämonischer „Führer“ tritt hier auf, und keine Nazikolonnen marschieren durchs Bild. „Ich wollte nicht diese schon tausendmal gezeigten Szenen“, sagt die Regisseurin des am ersten Weihnachtsfeiertag mit hohen Erwartungen in die Kinos kommenden Films. „Keine verkleideten Komparsen als blonde, hochgeschorene, grimmig schauende SA-Schläger!“
Stattdessen beginnt Links filmische Adaption eines Weltbestsellers scheinbar harmlos. Aber auch schlagend. Es fängt an mit einem kindlichen Faschingsfest. Anna und ihre Freundinnen juxen herum in märchenhaften Verkleidungen – da brechen ein paar Jungs herein. Sind buchstäblich: Hitler-Jungen. Sie motzen los in ihren Braunhemden mit den komischen (komischen?) Hakenkreuzen, auch Annas geliebtes Plüschtier, ein rosa Kaninchen, gerät in ihre Fänge, doch nach einem allgemeinen Geraufe müssen die Jungnazis das Feld erstmal räumen. Alle lachen. Ein Kinderspiel, was sonst. Vielleicht waren die dummen bösen Jungs gar keine richtigen Nazis, es sind ja nur Faschingskostüme. Maskeraden.
Trotzdem stimmt diese filmische Ouvertüre schon alle bedrohlichen Motive der folgenden Geschichte an. Das wirkt durchaus ingeniös. Und die zur Zeit der Dreharbeiten im Sommer 2018 wie im Buch neunjährige Hauptdarstellerin Riva Krymalowski ist als Judith Kerrs Alter Ego von Anfang an eine Wucht.
„Alle meine Film-Kinder sind immer neun Jahre alt!“
„Das wirkt ein bisschen magisch“, meint Caroline Link mit einem Lachen bei unserem Treffen im Hotel de Rome am Berliner Bebelplatz: „Alle meine Film-Kinder sind immer neun Jahre alt!“ So alt war das Mädchen in ihrem Debütfilm „Jenseits der Stille“ (1996) gewesen, ebenso die Titeldarsteller in „Pünktchen und Anton“ oder der zuletzt mit seiner Komödiantik fast vier Millionen Kinozuschauer bezaubernde Julius Weckauf als junger Hape Kerkeling in „Der Junge muss an die frische Luft“. Link sagt: „Mit neun sind sie noch berührend kindlich, die Pubertät hat noch nicht begonnen, aber die Jungen und Mädchen sind so selbstbewusst, dass sie bei entsprechendem Talent schon diese großen Rollen schaffen.“
Es ist der Morgen nach der Uraufführungsgala ihres neuen Films im Berliner Zoo-Palast, und Caroline Link schaut aus dem Hotelfenster mitten auf den Bebelplatz. „Dort stand ich gestern mit meiner siebzehnjährigen Tochter Pauline an der gläsernen Bodenplatte, und wir sahen die leeren Bücherregale darunter.“
[Kulturnachrichten, Tipps und Historisches aus den Berliner Bezirken finden Sie in unseren Leute-Newslettern, die es hier gratis gibt: leute.tagesspiegel.de]
Die Regisseurin, die mit ihrer Tochter in München-Schwabing lebt und nur kurz nach Berlin gekommen ist, spricht von dem Denkmal des israelischen Künstlers Micha Ullman: auf dem Platz, an dem im Mai 1933 Nazistudenten die Bücher Alfred Kerrs und Erich Kästners verbrannt haben. Judith Kerr, die im Sommer mit 95 Jahren in London verstorbene Kinder- und Jugendbuchautorin, war Alfred Kerrs Tochter. Im „Rosa Kaninchen“ spielt die Vaterfigur, einst Berlins und Deutschlands einflussreichster Theaterkritiker und Kulturpublizist, eine entscheidende Rolle. Und die Adaption von Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ war vor zwanzig Jahren Caroline Links zweiter großer Kinofilm. Mit dem folgenden dritten, mit „Nirgendwo in Afrika“, hat sie dann einen Oscar gewonnen.
Judith Kerr freute sich auf die Verfilmung
Tochter Pauline überlege gerade, nach dem Abi Politik und Geschichte zu studieren, vielleicht an der Humboldt Universität, die ja gleich vis-a-vis des Bebelplatzes liegt. Irgendwie trifft so alles zusammen: Das Familiäre und die Zeitgeschichte, der Blick auf den historischen Ort – und Caroline Links besonderes Interesse, gerade mit Kindern auch für die Erwachsenen ein Stück Welt zu erzählen.
Wie hat sie über ihre Kinoversion des „Rosa Kaninchens“ mit der in Berlin geborenen Engländerin Judith Kerr gesprochen? Der Fragesteller weiß aus persönlichen Begegnungen, wie sehr sich Judith Kerr auf die Verfilmung ihres populärsten und inhaltlich gewichtigsten Buchs über die Zeit der Emigration in der Schweiz und in Frankreich (bis zur Ankunft schließlich in England) gefreut hat. Caroline Link verblüfft zunächst mit der Antwort: „Ich hätte ihr den Film jetzt so gerne gezeigt. Aber wir haben uns leider nie getroffen. Immer nur telefoniert.“ Vielleicht sei das so auch besser gewesen. Denn Kerr, die Links „Nirgendwo in Afrika“ sehr mochte, sei jedesmal darauf bedacht gewesen, dass die Regisseurin sich nah an das Buch halten möge, nichts ändern sollte und vor allem auf den Vater, der als sprachmächtig scharfer, streitbarer Theater- und Zeitkritiker durchaus auch umstritten war, kein Schatten fiel.
„Es waren gute Gespräche. Aber Judith Kerr war in ihrer sanften Höflichkeit zugleich sehr entschieden. Ich habe schnell gemerkt, wenn ich ihr jede neue Drehbuchfassung schicke, dann wird das eine lange Diskussion. Und irgendwann hat sie selbst gesagt: Ich will gar nicht mehr zuviel darüber wissen. Machen Sie mal, und dann sehe ich mir lieber den fertigen Film an!“
Eine Literaturverfilmung braucht ihre Freiheit
Die mit viel quecksilbrigem Temperament begabte, resolut freundliche und jedem Stargetue abholde 55-jährige Oscarpreisträgerin fügt hinzu: „Obwohl wir etliche Nebenfiguren und Nebenhandlungen kappen oder in eins zusammenfügen mussten und in den Frankreich-Episoden beispielsweise ein großer Tanz auf den Champs-Élysées technisch und finanziell unmöglich gewesen wäre, habe ich mich an den Geist des Buchs gehalten.“
Wie sehr eine Literaturverfilmung, die keine Literaturverfälschung ist, allemal ihre Freiheiten braucht, zeigt schon der erwähnte Beginn. Das Buch hat eine ganz andere Anfangsszene: Judiths romanhafte Doppelgängerin Anna und ihre Freundin sehen auf dem Nachhauseweg von der Schule ein großes Plakat mit „dem Mann“ darauf, den ein anderes Kind wegen des schmalen Oberlippenbärtchen für Charlie Chaplin gehalten hatte. Woraus sich in einem längeren, die politische Lage mit kindlichem Witz erklärenden Dialog ergibt, dass jener Mann gewiss nicht Charlie ist. Das freilich hätte filmisch eher witzlos und kaum glaubwürdig gewirkt, weil Hitler auf den Wahlplakaten von 1933 Chaplins Tramp überhaupt nicht ähnlich sah – und Chaplins berühmte Satire „Der große Diktator“ erst 1940 produziert wurde.
Als Judith Kerr, diese etwas feenhafte kleine große Lady, im September vor drei Jahren zum letzten Mal in ihre Geburtsstadt gekommen war, hat sie bei einer Lesung und einem Gespräch vor Hunderten jungen Menschen im rappelvollen Berliner Festspielhaus einen Satz gesagt, den manche Zuhörer sehr erstaunlich fanden: „Es ist auch herrlich, ein Flüchtling zu sein!“ Wer aber das fast 40 Jahre nach den geschilderten Ereignissen geschriebene, 1971 erschienene „Rosa Kaninchen“ gelesen hat oder demnächst auf der Leinwand sieht, kann dies aus der nachgetragenen Perspektive von überlebenden, erwachsen gewordenen Kindern verstehen. Aus dem Vertrauten in die Fremde geworfen zu sein, dort neue Sprachen zu lernen und Städte und Länder zu sehen, kann für Kinder auch ein Abenteuer bedeuten. So lange die Familie dabei zusammenbleibt. „Und Judith alias Anna hat ihre Eltern nie so viel und nah bei sich gehabt wie in den Jahren der Emigration“, sagt Link.
Die Familie hält liebevoll zusammen
Tatsächlich war der Berliner Starkritiker Alfred Kerr, der hier Arthur Kemper heißt und von dem im Typus nicht unbedingt als Intellektueller erwartbaren Oliver Masucci verkörpert wird, fast jeden Abend im Theater oder bei Veranstaltungen der in der Weimarer Republik boomenden Kulturszene. Judiths Mutter Julia (hier Dorothea, mit viel Charme dargestellt von Carla Jury) war Komponistin und Musikerin. Die Erziehung jedoch des Nachwuchses lag in großbürgerlichen Familien vielfach in den Händen von Kinderfrauen und Haushälterinnen. Hier heißt das von den Kindern geliebte Faktotum „Hempi“ – in Gestalt der großen Berliner Schauspielerin Ursula Werner, die schon in Caroline Links Kerkeling-Film eine Seele von Oma war. Das „Rosa Kaninchen“ malt nun aus, wie die plötzlich fast mittellose Familie Kerr/Kemper in der Not des Exils, so hat es Judith Kerr betont, liebevoller denn je zusammenhielt.
Das gerät optisch manchmal auch zur Idylle. Die Kerrs wohnten vor dem Umzug nach Paris, wo Kerr dank seines fließenden Französisch immer mal schlecht bezahlte Arbeit für kleine (Exil-)Blätter fand, in einem sehr einfachen Gasthof am Zürichsee. „Aber da ist heute alles verbaut und unmöglich, einen in den Dreißiger Jahren spielenden Film zu drehen“, erklärt die Regisseurin. Während man Pariser Szenen halbwegs authentisch noch in Prag drehen konnte – mit einem gar nicht hollywoodhaften Etat von nur gut neun Millionen Euro –, fand sich die Schweiz, außer am Bodensee, vornehmlich in einem zauberhaften alten Bergbauerndorf in Graubünden.
Hier kämpft dann die schwarz gelockte, zwischen Schüchternheit, Neugier und aufbegehrendem Trotz wunderbar flirrende Riva Krymalowski als Anna im Zwergschulenunterricht mit ihren heidiblonden, langzöpfigen neuen Klassenkameradinnen und den Zungenbrechern des Schwyzerdütsch. Das setzt sich so unterhaltsam fort, wenn Anna und ihr Bruder (Marinus Hohmann) in Frankreich dann wieder eine neue Sprache oft fehlerhaft komisch, oft kindlich-keck aufschnappen müssen. Meist ist da jener Optimismus spürbar, den auch die historischen Eltern Kerr ihren Kindern mit auf den Weg geben wollten. Migration, das wäre die vereinfacht nüchterne Botschaft, gehört mit zur Moderne. Mit Härten und neuen Chancen.
Großes Kino für die ganze Familie
Zurück bleibt neben der Haushälterin Hempi ein von den Nazis in den Tod getriebener Zoologen-Onkel Julius (Justus von Dohnányi). Und als zum Finale am Meereshorizont die letztlich rettende Insel England auftaucht (gedreht vor der Küste Usedoms), ist in Paris auch die unerbittlich die Wohnungsmiete eintreibende Madame Prune endlich passé.
Sie ist unter vielen Guten und Hilfreichen die einzige Böse. „Judith Kerr lässt die Täter nicht eigens auftreten. Die Bedrohung bleibt trotzdem im Hintergrund immer präsent“, betont Caroline Link. Aber zusammen mit ihrer Drehbuch-Koautorin Anna Brüggemann hat sie aus einer Randfigur einen zeithistorischen Charakter gemacht. Die von Anne Bennent glänzend verkörperte Pariser Kleinbürgerin Madame Prune wird neben Riva Krymalowski zum schaupielerischen Ereignis. Eine griesgrämige Concierge und Antisemitin, die aus ihrer Mördergrube ein raues Herz macht. Sie wirft den Schatten für das noch kommende Unheil.
Link will offenkundig: großes Kino für die ganze Familie. Deshalb hält sich der Schrecken in Grenzen, und jedem Anfang, selbst im Exil, wohnt ein Zauber inne. Das ist im Geist der Autorin Judith Kerr, die den Erwachsenen den Spiegel, den Spott, die Trauer und die Überlebensfreude der Kinder entgegenhält.
Da kommt Riva!
Eine Seitenfrage an die Regisseurin mit dem Auge für literarische Stoffe, in denen Kinder und Jugendliche die Hauptrollen spielen: Hätte auch „Harry Potter“ für sie einen Reiz gehabt? „Nee“, lacht sie, „überhaupt nicht. Das braucht viel zu viele technische Effekte.“ Sie hat mit ihrer Tochter die Bücher gelesen und „gerne die Filme gesehen“. „Aber mich nervte schon, wenn wir für die Paris-Episoden den Eiffelturm digital herstellen mussten.“
Da geht die Tür auf. Da kommt Riva. Schwarz gelockter Wuschelkopf wie im Film, aber sie ist inzwischen weiter gewachsen und vor einem Monat elf geworden. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht der Schriftzug „Love“, und der gilt ohne Zweifel auch Caroline Link, die nach einer beiderseitig juchzenden Umarmung („Hallo, mein Schatz!“) das Gespräch nun verlässt. Nicht ohne anzumerken: „Vergiss nicht, wir beide müssen heute Mittag noch in den Fernsehapparat.“ Gemeint ist ein gemeinsamer Live-Auftritt beim ZDF.
Riva Krymalowski ist so aufgekratzt wie auch ein bisschen müde. Ihr strahlendes Lachen geht immer mal wieder kurz in ein Gähnen über. Am Vorabend ist sie bei der Filmpremiere im Zoo-Palast zum ersten Mal über den Roten Teppich gelaufen, hat den Film mit Eltern, den beiden jüngeren Geschwistern und fünf Freundinnen aus ihrer Schule gesehen und danach noch gefeiert. Heute hat sie dafür schulfrei bekommen – und wie das Geschick es will, Riva geht in Grunewald just auf dieselbe Grundschule, auf der Judith Kerr bis zu ihrer Flucht gewesen ist.
„Ich hätte Judith Kerr so gerne mal kennengelernt!“
Natürlich hat sie (zweimal) das „Rosa Kaninchen“ gelesen und ruft aus: „Ich hätte Judith Kerr so gerne mal kennengelernt! Sie hat früher auch in unserer Schule vorgelesen, aber das war vor meiner Zeit.“ Die Zeit Rivas wird nach ihrem ersten Film, bei dessen Dreharbeiten sie wie jetzt im Gespräch von ihrer Mama begleitet wird, wohl eine neue sein. Aber es soll auch keine völlig andere werden. Die Schule, 2020 der Wechsel aufs Gymnasium bleiben erstmal die Hauptsache, obwohl sie „wahrscheinlich Schauspielerin“ werden und bleiben will. Seit sie vier ist, gehört sie – die Mutter hat für Film- und Fernsehproduktionen in Babelsberg gearbeitet – zu einer Kinder-Agentur; über sie hatte sie sich mit einem Video für das „Rosa Kaninchen“ beworben und wurde sofort für ein Casting eingeladen. Jetzt hofft sie für die nächsten Sommerferien schon mädchenhaft selbstbewusst auf „ein neues Projekt“.
Caroline Link, die sich seit vielen Jahren in sozialen Institutionen wie in der Vereinigung „Children for a better World“ engagiert, hat gleichfalls ein neues Projekt. Sie arbeitet an einem TV-Mehrteiler. Es ist ein Originalstoff über eine Therapeutin und vier Kinder mit psychischen Problemen. Auch das eine Zeitgeschichte.