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Tage der Angst. Im Gazastreifen gibt es keine Sirenen, die vor Bombenangriffen warnen, und keine Schutzräume.
© dpa

Nahost-Konflikt: Ein Zeichen der Menschlichkeit mitten im Krieg

Sie sagt „Toda raba“ – vielen Dank. Sie spricht die Worte auf Hebräisch, obwohl sie aus dem Gazastreifen ist. Maleha Khatib ist mit ihrem kranken Enkel in eine Herzklinik bei Tel Aviv gekommen. Denn hier werden auch palästinensische Patienten behandelt.

Es gibt den Moment, in dem Politik keine Rolle mehr spielt, auch im Nahen Osten. In dem eine fast unüberwindbare Grenze kein Hindernis mehr darstellt. In dem die Wut auf Israel und die Hamas der Angst um das eigene Kind weicht, das im Sterben liegt. Es gibt diesen Moment, in dem die Worte von Golda Meir schmerzen. Sie sagte einmal, es werde erst Frieden geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie „uns“ – die Israelis – hassen.

Derzeit wird die ehemalige Ministerpräsidentin in Israel häufig zitiert mit dieser Unterstellung, Eltern in Gaza und anderen arabischen Gegenden liebten ihre Kinder nicht genug. Kaum irgendwo scheint sie so falsch wie auf der Station der pädiatrischen Kardiologie im Wolfson-Krankenhaus in Holon, südlich von Tel Aviv.

An diesem Dienstagvormittag liegt Abdul Rahman mit geschlossenen Augen auf dem Schoß seiner Großmutter Maleha Khatib, die winzigen Hände zu Fäusten geformt. Er ist gerade einmal 25 Tage alt. Die Ärzte haben ihm über dem linken Ohr die pechschwarzen, samtigen Haare abrasiert, um einen Zugang zu legen für die Infusionen, nachdem seine kleinen Ärmchen keine passenden Venen mehr hergegeben haben.

Eine 15 Zentimeter lange Narbe zieht sich über seine Brust

Maleha Khatib hat gerade ein frisches, weißes Handtuch aus dem Schwesternzimmer geholt. Sie sitzt auf einem blauen Plastiksessel und wickelt das bleiche Geschöpf in das Handtuch ein. Eine knapp 15 Zentimeter lange Narbe zieht sich über seine kleine Brust.

Eigentlich, sagt Maleha Khatib, sei sie zu alt, um sich wie eine Mutter um den kleinen Menschen zu kümmern. Sie ist Mitte 60 und hat zwölf Kinder auf die Welt gebracht. Nun ist sie auch für ihren Enkel Abdul wie eine Mutter, zumindest für 14 Tage.

So lange war er in seinem so jungen Leben im Krankenhaus in Israel. Er wurde im Gazastreifen geboren, Tage, bevor der Krieg begann. Sein Herz pumpte nicht genügend Blut in die untere Körperhälfte. Er aß kaum, nahm nicht zu. Der Arzt sagte, Abdul könne nicht überleben, wenn er nicht bald operiert würde. Jemand müsse ihn über die Grenze bringen, über den sogenannten Erez Crossing, nach Israel, in das Wolfson-Krankenhaus in Holon. Die Familie zögerte nicht lange – auch, wenn die Rettung im feindlichen Israel wartete.

3400 Kinder wurden hier in fast 20 Jahren behandelt

Jeden Dienstag werden im Wolfson- Krankenhaus Kinder aufgenommen aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Die Herzspezialisten behandeln die kleinen Patienten hier umsonst im Rahmen des Save a Child’s Heart-Programms, das durch Spenden finanziert wird. 3400 Kinder wurden hier in fast 20 Jahren behandelt, die Hälfte davon Palästinenser.

Doch vor allem für die Kinder aus Gaza ist der Weg nach Israel schwer – gerade in Kriegszeiten. Denn die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel ist fast unüberwindbar. Israelis ist die Einreise nach Gaza verboten, Palästinenser kommen nur mit Genehmigung nach Israel, meist nur aus medizinischen Gründen.

Und so benötigte auch Abdul vor zwei Wochen eine Einladung des Krankenhauses in Holon, um hier behandelt zu werden. Es musste schnell gehen. Nur eine Begleitperson ist erlaubt. Wer sollte Abdul über die Grenze bringen? Die Familie entschied sich für die Großmutter, die Erfahrene. Sie war schon zuvor als Begleitperson in israelischen Krankenhäusern. Abduls Mutter, die vor seiner Geburt als Arabisch-Lehrerin gearbeitet hat, hat den 40 Kilometer langen und sechs bis 14 Kilometer breiten Landstreifen nie verlassen. Es war eine schwere Entscheidung.

Keine Zeit zum Packen. Maleha Khatibs Weg in die Klinik

Gerettet. Maleha Khatib hat mit ihrem Enkel in Israel Hilfe gefunden.
Gerettet. Maleha Khatib hat mit ihrem Enkel in Israel Hilfe gefunden.
© Lissy Kaufmann

Maleha Khatib möchte nicht über Politik sprechen. Sie möchte niemanden kritisieren. Sie möchte niemandem recht geben. Die Israelis hätten sie hier zwei Wochen lang mit Respekt behandelt, sie wertgeschätzt. „Toda raba“ – vielen Dank, sagt sie, die sonst kein Hebräisch spricht. Dreimal sagt sie die Worte, als Alona Raucher, die Kinderherzspezialistin, das Zimmer betritt, sich auf den Sessel setzt und sagt, dass die Ergebnisse sehr gut sind und Abdul heute das Krankenhaus verlassen kann.

Ihrem Enkelkind wurde hier das Leben gerettet. Dafür hat die Großmutter Tage vor der Intensivstation gewartet, als Abdul mit offenem Herzen dalag und durch eine Sonde ernährt wurde. Sie hat gebetet – auf einem Teppich, den ihr eine andere arabische Mutter aus dem Westjordanland mitgebracht hatte. Maleha Khatib konnte ihren in der Eile nicht mehr einpacken, als sie den Gazastreifen verließ.

Zwei Wochen hat sie auf dem ausklappbaren Sessel neben dem Kinderbettchen von Abdul geschlafen. Und wenn sie es hier nicht mehr aushielt, für ein paar Stunden auf dem Rasen im Innenhof des Krankenhauses.

Weil sie aus Gaza kommt, darf sie nicht vom Klinikgelände

Das Klinikgelände durfte sie als Palästinenserin aus Gaza nicht verlassen – anders als Palästinenser aus dem Westjordanland. Eine Sicherheitsmaßnahe, eingeführt nach der zweiten Intifada, als überall in Israel Busse explodierten. Alle Palästinenser, vor allem aus Gaza, werden hier seither als potenzielle Gefahr gesehen. Israel macht keine Ausnahmen. Auch nicht für Großmutter Maleha, die selbst Herzprobleme hat, und nur leicht nach vorn gebeugt über den Krankenhausflur humpeln kann. Yousef, der Fahrer einer christlichen Hilfsorganisation, hat sie und Abdul vor zwei Wochen an der Grenze zum Gazastreifen abgeholt und hierher ins Krankenhaus gefahren. Heute Nachmittag soll er sie zurückbringen.

Maleha Khatib hat alles für ihren Enkel getan, ohne zu zögern. Als der Krieg begann, hat sie mit der doppelten Angst gelebt: um Abdul und um ihre Familie zu Hause im Gazastreifen, ohne Sirenen und ohne Schutzräume. Mehrmals am Tag bat sie eine Krankenschwester, die Nummer ihrer Familie auf ihrem kleinen, alten Handy zu wählen, weil sie selbst schlecht sieht und die Tasten zu klein sind.

Ihr Mann und ihre Kinder erzählten ihr, wie sie das Haus nicht mehr verließen, aus Angst vor den Bomben. Währenddessen lief Maleha Khatib auf dieser Seite der Grenze in den Bunker, als der Alarm begann und über dem Himmel von Holon das israelische Schutzschild Iron Dome die Raketen abfing. „Das erste Mal war ich gerade im Badezimmer, um mich für das Gebet zu waschen. Ich bin sofort zurück ins Zimmer, aber Abdul war nicht mehr da. Ich hatte furchtbare Angst und habe dann verstanden, dass ihn bereits jemand mit in den Bunker genommen hat.“

Der Alltag bringt sie zum weinen

Nun möchte und muss die Großmutter nach Hause, zu ihrer Familie, auch wenn es dort unsicherer ist. Der Krieg ist grausam. Doch es ist das normale Leben im Gazastreifen, der Alltag in einem völlig abgeschnittenen Landstrich, auch ohne Krieg, der sie an diesem Vormittag zum Weinen bringt. Mit einer Hand hält sie ihren Enkel, mit der anderen wischt sie sich die Tränen vom Gesicht. Die Familie habe kein Geld, es gebe kaum Arbeit im Gazastreifen. Ihre Tochter habe wenigstens als Lehrerin gut verdient, doch nun habe sie das Kind bekommen.

„Nicht mal Eier können wir uns leisten“, sagt Maleha Khatib. Die Nachbarn hätten ihr Geld mit auf den Weg gegeben, umgerechnet 100 Euro. Es ist Ramadan, eine Zeit, in der Muslime besonders auf ihre Nächsten achten und Bedürftigen helfen. So bringen muslimische Familien aus Jaffa jeden Abend zum Fastenbrechen etwas Humus, Labane Käse, Pitabrot und Salat in das Krankenhaus, auch für Maleha.

Tag der Entscheidung. Für Taman Nazers Sohn steht die letzte Untersuchung an

Auch der Sohn von Taman Nazer wurde in Holon untersucht.
Auch der Sohn von Taman Nazer wurde in Holon untersucht.
© Lissy Kaufmann

Auch Taman Nazer, die an diesem Mittag in Holon ankommt, hat Angst um ihren vierjährigen Sohn Naman. Nicht nur, weil seine Aorta verengt ist und er vielleicht operiert werden muss. Sie hat auch Angst, weil die israelische Armee vor einer Woche begonnen hat, ihre Nachbarschaft in Beit Lahiya im Norden des Gazastreifens zu bombardieren. Sie seien gerade draußen mit den Nachbarn zusammengesessen, wie es Brauch sei im Ramadan. Taman Nazer erzählt, dass die israelische Armee auf den offenen Feldern um ihr Haus Stellungen der Hamas vermute und diese Gegend besonders stark attackiert werde. Sie und ihr Mann packten nach dem ersten Einschlag die nötigsten Sachen und fuhren mit ihren sechs kleinen Kindern zu ihrem Onkel in das etwas südlicher gelegene Jabalia. Dort leben sie derzeit zu acht in einem Zimmer.

70 Kilometer ist sie gefahren

An diesem Mittag ist sie mit Naman aus dem gut 70 Kilometer entfernten Jabalia bis nach Holon gefahren. Um 7.30 Uhr begannen sie ihre Reise, lange mussten sie an der Grenze warten. Fünf Stunden später läuft Taman Nazer den Krankenhausgang entlang und hält ihren Sohn an der Hand. Es ist ihr drittes Mal hier. Heute werden die Ärzte beurteilen können, ob Naman operiert werden muss.

Fatima, die arabische Helferin des Programms, die auch übersetzt, begrüßt die beiden auf der Untersuchungsstation im oberen Stockwerk. Sie müssen sich kurz setzen und warten, Naman muss noch Beruhigungstropfen nehmen, damit er bei der Herzuntersuchung nicht herumzappelt. Taman Nazer hält ihren Sohn im Arm und versucht, die bräunliche Flüssigkeit aus einer Spritze in seinen Mund zu träufeln. Wie alle Kinder ist auch Naman nicht begeistert. Er weint, dreht den Kopf weg, spuckt die Flüssigkeit wieder aus. Beim zweiten Versuch klappt es. Ein paar Minuten später liegt Naman im abgedunkelten Untersuchungsraum auf der Liege, über ihm auf dem Bildschirm läuft eine arabische Zeichentrickserie, die er völlig ruhig anstarrt. Eine Ärztin beobachtet auf einem anderen Bildschirm neben der Liege seinen Herzschlag. Seine Mutter sitzt daneben, sie stützt den Kopf auf ihre Fäuste.

Die Aorta ist groß genug, eine OP nicht nötig

Eine Viertelstunde später ruft die Ärztin Hanita Schai die Helferin Fatima in das Untersuchungszimmer. Fatima übersetzt: Das Herz von Naman arbeite ausgezeichnet, die Aorta sei groß genug, eine Operation nicht nötig. Die beiden können nach Hause fahren.

Taman Nazer ist erleichtert. Sie zieht dem Kleinen Hemd und Weste über und setzt ihn draußen im Gang vor sich auf eine der kleinen bunten Kinderbänke. Naman schaut noch etwas schläfrig, langsam kaut er an einem Keks, den seine Mutter ihm in die Hand gedrückt hat. Sie müssen noch auf ein paar Unterlagen warten.

Yousef, der Fahrer, steht schon bereit. Knapp eine Stunde wird die Fahrt zum Checkpoint dauern, Taman Nazer, Naman, Abdul und Maleha Khatib werden gemeinsam fahren. Sie werden die guten Nachrichten mit nach Hause bringen, dass die Herzen der Kinder heil sind, dass alles gut gegangen ist, dass man ihnen auf der anderen Seite der Grenze geholfen habe. Doch sie werden zurückkehren in ein Leben, das nicht viel Raum lässt für Hoffnung. Ein Leben, in dem sie gerade jetzt trotzdem Angst haben um ihre Kinder.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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