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Auf dem Lageso-Grundstück.
© AFP

Chaos am Lageso: Ein unsicherer Ort - mitten in Berlin

Flüchtlinge werden ausgeraubt, wartende Frauen erleiden Fehlgeburten, Salafisten wollen rekrutieren. Und Mohamed bleibt verschwunden. Helfer sprechen von Chaos am Lageso.

Tag 14 ist bald zu Ende, und die Hoffnung, dass die Suche nach Mohamed doch noch gut ausgeht, dass alles bloß ein Versehen war, sie schwindet. Dafür wächst die Wut. Denn was passiert ist, hätte verhindert werden können, sagt Lenier Schmidbauer. „Es kann nicht sein, dass jeder Fremde unkontrolliert aufs Gelände darf.“ Lenier Schmidbauer ist 42 und eine der Freiwilligen, die hier seit Monaten jeden Tag aushelfen. Jetzt steht sie am Haupteingang Turmstraße im Berliner Stadtteil Moabit, direkt neben dem grauen Metallmast mit der Überwachungskamera, die den vierjährigen Mohamed an der Hand seines mutmaßlichen Entführers filmte. Keine zehn Meter entfernt befindet sich die Pförtnerloge. Lenier Schmidbauer deutet mit dem Finger auf die Angestellten der Sicherheitsfirma, die hinter der Fensterscheibe sitzen. „Ich habe die mehrfach gebeten, dass sie sich doch zumindest von jedem kurz den Ausweis zeigen lassen. Nichts geschah. Es ist das reinste Chaos.“

Chaos. So lautet das mit Abstand häufigste Wort, das jeder hört, der mit Helfern über die Zustände auf dem Gelände des Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso) spricht. Das Areal auf der nördlichen Seite der Turmstraße, schräg gegenüber dem Kleinen Tiergarten, das seit Monaten nicht aus den Schlagzeilen kommt, weil sich hier alle neu eintreffenden Flüchtlinge registrieren lassen müssen und die Beamten mit dem Andrang heillos überfordert sind. Es ist ein verwinkeltes, geradezu labyrinthisches Areal, auf dem sich jeden Tag mehrere tausend Menschen drängen.

Viele Helfer sind überzeugt, dass es eben kein Zufall war, dass ausgerechnet in diesem Gewusel ein Vierjähriger aus der Obhut seiner Mutter verschwand. Weil das Lageso ein extrem unsicherer Ort sei und einer, der Menschen verroht und solche anzieht, die es sowieso schon sind. Ein Ort, an dem die Zivilisation zunehmend abhandenkommt.

150 Meter rauf aufs Gelände. Im überfüllten Flur von Haus D, der Zentrale des Vereins „Moabit hilft“, ist soeben eine sichtlich aufgelöste Frau mit zwei Kleinkindern eingetroffen. Alle drei weinen. Die Frau sagt, sie sei gerade von Fremden geschlagen und ausgeraubt worden. Die Täter hätten ihr die Tasche und das Handy entrissen. Mitten am Tag, mitten auf dem Gelände.

So etwas passiert inzwischen fast täglich, sagt Diana Henniges. Sie ist die Sprecherin von „Moabit hilft“, dem Verein, der seit Beginn der Lageso-Krise einen Großteil der ehrenamtlichen Arbeit leistet. Henniges hat seit Wochen einen 18-Stunden-Tag und jetzt auch noch Fieber. Zum Gespräch bittet sie in die Abstellkammer, den einzigen Raum, in dem man sich ungestört unterhalten könne, wenigstens kurz. Jetzt sitzt sie zwischen Windeln und Babycreme-Kisten.

Wie sich das Land Berlin auf dem Lageso-Gelände verhalte, grenze an unterlassene Hilfeleistung, sagt sie. Der Satz, den sie dann hinterherschiebt, klingt aber noch deutlich dramatischer. Sie sagt: „Wenn sich hier nichts ändert, gibt es garantiert bald den ersten Toten.“

Das liege einerseits an der miserablen medizinischen Versorgung. Mehrere Flüchtlinge seien schon in den Warteschlangen zusammengebrochen, drei Frauen hätten Fehlgeburten erlitten. Unter den Wartenden befänden sich zahlreiche, die an Lungenentzündung, Hepatitis, Krätze, offenen Ekzemen oder an einem Bandscheibenvorfall litten. Nun drohe auch noch die Kälte. „Man hört die Kinder aus drei Metern Entfernung mit den Zähnen klappern“, sagt Diana Henniges. Neulich erst hätten sie eine Mutter überreden müssen, mit ihrem vier Wochen alten Baby nicht in der Kälte zu übernachten.

Hinzu komme das eklatante Sicherheitsproblem. Dass ein kleiner Junge wie Mohamed hier einfach so verschwinden könne, liege eindeutig „an den katastrophalen Verhältnissen an diesem unsicheren Ort“. Ein Ort, der auch deshalb so unübersichtlich sei, weil sich derart viele Menschen quasi permanent auf dem großen Platz vor Haus J aufhalten müssen - immer die Leuchttafel im Blick in der Hoffnung, dass eine der dort angezeigten neun Wartenummern die eigene ist. „Wie kann man es da Eltern verübeln“, fragt Diana Henniges, „wenn sie in dieser angespannten Situation über einen so langen Zeitraum nicht ständig ihr Kind im Auge behalten können?“ Haus J ist auch das Gebäude, in dem Mohamed verloren ging.

Es war Donnerstagmittag, der 1. Oktober, als Aldiana J., 28, ihren Sohn zum bislang letzten Mal sah. An diesem Tag war sie mit Mohamed und seinen zwei Geschwistern gekommen, auch ihr Freund Claudiu D. war dabei. Sie sind aus Bosnien geflüchtet, aber schon seit 2013 in Berlin. Anders als die meisten Flüchtlinge am Lageso kämpfen sie nicht für ihre Erstregistrierung, sondern für die Verlängerung ihrer Duldung. Nach Mohameds Verschwinden hatten Ermittler deshalb zunächst auch den Verdacht, die Eltern könnten ihren Sohn versteckt halten, um nicht abgeschoben zu werden. Das ist inzwischen vom Tisch. Die Polizei vermutet, dass der Junge Opfer eines Verbrechens wurde. Der Einsatz von Suchhunden blieb ebenso erfolglos wie das mehrfache Durchkämmen von Kellern und Dachböden in der Nachbarschaft, zuletzt an diesem Mittwoch.

Laut Polizei verschwand Mohamed am fraglichen Tag zwischen 12 und 13 Uhr. Die Kamera filmte ihn und seinen mutmaßlichen Entführer um 14.40 Uhr beim Verlassen des Grundstücks. Was bedeutet, dass er sich ab dem Zeitpunkt, als seine Mutter ihn vermisste, noch wenigstens eine Stunde und 40 Minuten auf dem Areal aufgehalten haben muss. Womöglich in einem der Innenhöfe, womöglich in einem Versorgungszelt oder mitten in der unübersichtlichen Menschenmenge vor Haus J.

Dort hat sich längst herumgesprochen, dass ein Kind vermisst wird. Und das macht auch denen Angst, die heute in der Schlange stehen. Heba Jenyat, eine Sunnitin aus der syrischen Hafenstadt Latakia, in der das Assad-Regime herrscht und deshalb Sunniten verfolgt werden, hat ihre zwei kleinen Kinder heute im Aufnahmelager bei der Großmutter gelassen. „Wenn ich sie mitnehme, verbiete ich ihnen, hier ohne mich rumzulaufen.“ Das heißt, sie dürfen gar nicht laufen, denn Heba Jenyat muss das Display im Auge behalten. „Seit dieser Junge verschwunden ist, bin ich noch strenger“, sagt sie. Es ist ihr 29. Tag vor Haus J.

161 Hinweise gingen bei der Polizei seit Veröffentlichung des Überwachungsvideos ein, eine konkrete Spur war bisher nicht darunter. Die Polizei hat ermittelt, dass sich der mutmaßliche Täter schon in der Vergangenheit auf dem Grundstück herumtrieb. Flüchtlinge und Unterstützer vermuten, dass der Verdächtige ein Helfer gewesen sei oder sich jedenfalls über einen längeren Zeitraum als solcher ausgegeben habe. Diana Henniges von „Moabit hilft“ bestätigt das, sagt aber auch: „Bei uns ist er nie aufgetaucht.“

Sie fürchtet, dass mit der Nachricht, Mohameds Entführer sei ein Ehrenamtlicher gewesen, nun auch noch das Vertrauen der Flüchtlinge schwinde. Das Verhältnis zum Sicherheitspersonal ist sowieso bereits angespannt. Immer wieder trifft man Flüchtlinge, die sich über schroffe Behandlung beschweren - die berichten, ihre Fragen und Bitten würden mit einem energischen „Shut up!“ beantwortet. Die Einlasser am Zelt der Essensausgabe sind sichtlich gestresst. Ständig versuchen einzelne Flüchtlinge, sich an der Warteschlange vorbei ins Zelt zu schummeln. Weil die Securitys kein Englisch sprechen, schnauzen sie die Regelbrecher auf Deutsch an: „Mach, dass du da wegkommst“, oder auch: „Ey, hältst du mich für blöd, oder was?“

Unter den Flüchtlingen, die seit mehr als einem Monat vor Haus J stehen, verbreiten sich Verschwörungstheorien. Da gibt es zum Beispiel das Gerücht, Angehörige bestimmter Ethnien würden bevorzugt behandelt. Das vergiftet die Atmosphäre zusätzlich. Eine Gruppe von Syrern behauptet, Menschen aus Indien, Afghanistan und Bangladesch seien viel schneller abgefertigt worden.

„Sind Sie sicher?“

„Natürlich, wir haben es gesehen.“

„Und warum sollte das so sein?“

„Weil ein Mann vom Sicherheitsdienst Inder ist.“

Mittlerweile kommt es vermehrt zu Schlägereien unter den Flüchtlingen. Sicherheitskräfte setzen Pfefferspray ein und schubsen, wenn sie sich bedroht fühlen. Die Ehrenamtlichen haben Anschläge auf Englisch und Arabisch an die Bäume geheftet. Bei Tumulten werde jegliche Hilfe sofort eingestellt, heißt es da.

Es sei eben ein Irrglaube, sagt ein Helfer, dass Menschen, die sehr arm sind und arm dran, in einer Situation wie dieser humaner oder nachsichtiger miteinander umgingen als gewöhnliche Menschen unter gewöhnlichen Umständen. Wer das glaube, werde bei der Arbeit vor Ort rasch eines Besseren belehrt.

Hinzu kommen Fremde, die überhaupt nicht vorhaben, sich hier registrieren zu lassen. Die unübersichtliche Lage ziehe Menschen mit schlechten Absichten geradezu an, sagt Caritas-Direktorin Ulrike Kostka: „Das Chaos bietet leider Freiräume für alle Sorten von Machenschaften.“ Dritte, die das Elend der Flüchtlinge ausnutzen wollten, ließen sich gegenwärtig kaum fernhalten. Als kurzfristige Maßnahme fordert Ulrike Kostka die Einrichtung einer „Fast Lane“, die ausschließlich Familien und alleinerziehenden Frauen vorbehalten sei. „Die Wartezeit der Mütter mit ihren Kindern muss drastisch abnehmen.“ Außerdem müssten Eltern gezielt angesprochen und über die Gefahren auf dem Grundstück aufgeklärt werden. „Manche lassen ihre Kinder herumlaufen, weil sie nicht ahnen, wie riskant das ist.“

Mohamed ist nicht der einzige Flüchtling, der vermisst wird. Auch die 26-jährige Kurdin Ronja A. ist verschwunden. Die Familie hat Bilder mit ihrem Konterfei an Häuserwände geklebt. Ronja A. trägt Kopftuch und spricht nur Kurdisch. Zuletzt gesehen wurde sie am 4. Oktober, drei Tage nach Mohameds Verschwinden, oben am Bahnsteig des nahe gelegenen S-Bahnhofs Bellevue. Die Polizei äußert sich zu dem Fall bisher nicht. Es könnte schließlich sein, dass sich die Gesuchte gar nicht von ihrer Familie finden lassen will.

Und dann sind da auch noch die Salafisten. Helfer bestätigen, dass sich die radikalen Islamisten regelmäßig im Zelt der Essensausgabe herumtreiben und gezielt Flüchtlinge ansprechen. Auch dort kann jeder rein, der sich in die Schlange stellt. Spätabends warten sie an der Turmstraße auf dem Bürgersteig und begrüßen Neuankömmlinge. Viele dieser Salafisten sympathisierten mit dem Terrornetzwerk Al Qaida und dessen Vertretern in Syrien, der Al-Nusra-Front. Unter ihnen befindet sich auch der Deutsch-Marokkaner Abu D., der vom Verfassungsschutz als „Gefährder“ eingestuft wird. Zu Jahresbeginn wurde sein Reisepass eingezogen.

Die Salafisten dementieren nichts. Ein enger Vertrauter von Abu D. sagt am Telefon sogar, man suche gezielt das Lageso auf, um dort „notleidenden Menschen Hilfe anzubieten“. Dies sei eine „ehrenamtliche Arbeit“. Manchmal brächten sie Halal-Lebensmittel mit, vor allem aber nähmen sie „mit viel Geduld Beratungen“ vor. Das betreffe etwa rechtliche Fragen und Angelegenheiten im Umgang mit der deutschen Bürokratie, aber „wir können genauso helfen, wenn es darum geht, eine Moschee zu empfehlen“. Und ja, dabei entstünden natürlich auch Freundschaften.

Das Engagement der Salafisten komme gut an, behauptet der Vertraute von Abu D. am Telefon. „Es gibt eine Menge Menschen dort, die sich über unsere Zuwendung freuen. Die Leute suchen ja nach Glaubensbrüdern und -schwestern, weil sie in dieser fremden Welt ihre Identität bewahren möchten.“ Dann sagt er noch: „Die Flüchtlinge wollen hier ankommen, und wir helfen dabei.“

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