Paris nach den Terror-Anschlägen: Ein Leben zwischen Trotz und Trauer
Die einen verlassen ihre Häuser nicht mehr, die anderen feiern auf der Straße, gerade jetzt. Wie kann ein Leben in dieser verwundeten Stadt aussehen? Eine Reportage.
Dort, wo die Mörder von Paris ihr blutiges Handwerk verrichtet haben, sitzt Samstagnacht eine Frau vor ihrem Haus auf dem Bordstein. Sie trägt Pyjama, in der Hand ein Glas Rotwein, im Mund eine lange Mentholzigarette. Von der Rue du Chemin Vert ist es nicht weit zu den Orten, an denen die Attentäter im 10. und 11. Arrondissement wahllos in zwei Cafés, einer Bar, einem Restaurant und einem Konzertsaal schossen.
Dann sagt die Frau, die Linda heißt und nicht viel mehr über sich verraten will: „Paris ist ein Luder.“ Ein solches Luder aber lasse sich auf keinen Fall von irgendwem diktieren, wie es zu leben und zu lieben habe. Mit ihrem lilafarbenen Herzmuster auf der Hose und den völlig zerzausten, hochgesteckten Haaren sieht sie aus wie eine Gestrandete zwischen den Welten.
Es gibt das Paris vor und nach der Horrornacht dieses unglückseligen Freitags. Man wird sehen, ob sich diese beiden Lebenswelten – vorher und nachher – annähern können. Viele Menschen haben jetzt nur Angst, deshalb sind die Straßen fast leer. Wenige sitzen an den Tresen der Bars, kaum einer tanzt in den Clubs. Manche sind aber auch trotzig, wie Linda, die die Stille für eine kleine private Party auf dem Asphalt nutzt. Sie trinkt einen Schluck aus ihrem Weinglas: „Ah, que la vie est belle!“
Der Satz ist eigentlich Paris, so wie man es kennt, eine Stadt der Freiheit, eine, um das Leben zu genießen. Die Philosophie der Frau auf dem Bürgersteig teilen viele in diesem Viertel. Aber trauen sich die Pariser auch in Zukunft, danach zu leben, oder wird für lange Zeit alles anders sein, wird sich dauerhaft ein Grauschleier aus Furcht über diese Stadt legen?
Dieser 13. November 2015 geht so oder so in die Geschichte Frankreichs ein als der Tag, an dem Terroristen das Gesellschaftsmodell der Republik ins Visier genommen haben. Der Tag, an dem mindestens sieben Selbstmordattentäter in einer konspirativen und wohl koordinierten Aktion 129 Menschen töteten. 99 Schwerverletzte kämpfen in Pariser Krankenhäusern noch immer um ihr Leben.
Das Wort der Stunde: la guerre
Frankreich dagegen ringt nun schon wieder, zum zweiten Mal innerhalb dieses Jahres, um sein Selbstverständnis. Präsident François Hollande benutzte ein Wort, das in Paris nicht nur Linda unterstreichen möchte: la guerre. „Frankreich befindet sich im Krieg“, lautet immer wieder die Kernbotschaft aus dem Elysée-Palast.
Ausnahmezustand. Den hat die Regierung seit dem Algerien-Krieg erst zwei Mal verhängt – übrigens nicht nach dem Anschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ im Januar, bei dem zwölf Menschen getötet wurden und vier weitere beim Angriff auf einen jüdischen Supermarkt. Seitdem sind in Paris noch mehr Sicherheitskräfte unterwegs als ohnehin schon. 425 Millionen Euro will die Regierung in den kommenden drei Jahren in Geheimdienste, Innenministerium und Polizei stecken, knapp 3000 neue Stellen schaffen. Seit Januar sieht man allerorten Polizisten mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen. Sie gehören inzwischen zum Stadtbild.
Wie soll das trauernde, verwundete, ja schockierte Paris nun hinausfinden aus dem Gedanken, dass dieser erneute Angriff trotz aller Sicherheitsvorkehrungen erfolgte? Noch frisst Angst die Zuversicht, noch ist die ehemals sinnliche Stadt eine freudlose. Die Rockband Foo Fighters hat ihren Auftritt für Montagabend abgesagt. „Wir können es nicht anders ausdrücken: Es ist verrückt, und es kotzt uns an“, schreiben sie.
Auch U2 hatten ihr Konzert am Samstag gestrichen. Das Disneyland, mit 14 Millionen Besuchern jährlich Europas begehrteste Touristenattraktion, hält sich an die offizielle Staatstrauer, die Präsident Hollande angesetzt hat: Bis einschließlich Dienstag stehen die Achterbahnen still. Auch einige Kinos und Theater bleiben geschlossen, darunter das größte Kino der Stadt, das „Grand Rex“. Dabei geht es nicht nur um die Sicherheit der Besucher. Es geht auch um Pietät. Die Vorpremiere des Films „Jane Got a Gun“ mit Natalie Portman wurde abgesagt, über rote Teppiche läuft in diesen Tagen ebenfalls niemand.
Die Menschen fahren Taxi, haben Angst vor der Metro
Während andere Städte ihre Sehenswürdigkeiten in den Farben der französischen Flagge anstrahlen, bleibt der Eiffelturm – normalerweise leuchtet er jede Stunde auf – dunkel. Und unbegehbar. Auch die Kathedrale von Notre-Dame ließ am Sonntag aus Sicherheitsgründen keine Touristen zur Besichtigung hinein. Wer wollte, konnte jedoch an einem der fünf Gottesdienste teilnehmen. Die waren besucht wie immer, sagt eine Sprecherin. „Die Leute brauchen jetzt Trost.“
Schulen und Universitäten sollen am heutigen Montag wieder öffnen. Auch Unternehmen arbeiten zwar weiter, legen aber wie überall in Europa um 12 Uhr eine Schweigeminute ein. Eine renommierte Pariser Anwaltskanzlei erlaubt allen Mitarbeitern, die nicht im Zentrum wohnen, diese Woche von zu Hause aus zu arbeiten. Dienstreisen finden auch nicht statt. Bei einer großen Autoversicherung überlegen sie, den Angestellten Taxis zu bezahlen, damit niemand mehr Metro fahren muss. Eine Strategie gegen die Angst: Das führende Taxiunternehmen der Stadt, G7, hat weit mehr Aufträge als gewöhnlich. Viele weichen so der U-Bahn aus.
Nur einen kurzen Spaziergang von der Rue du Chemin Vert entfernt liegt der Club Bataclan, in dem die Terroristen ihr Massaker verübten und rund 90 Menschen töteten. Valérie Robert, 47, wohnt in Sichtweite zu dem alten, 1862 erbauten Theater. Während sie erzählt, zupft sie an ihrem dünnen rot-weiß gestreiften Pullover, wickelt eine ihrer kurzen Locken um den Finger. Die Linguistin und Germanistin an der Universität von Sorbonne hörte am Freitag von ihrer Wohnung aus die Detonationen und Schüsse. „Als ich realisierte, was da abgeht, versuchte ich meine Studenten zu erreichen“, sagt die Dozentin. Sie weiß genau, wie es ist, wenn man in dieser Stadt 25 Jahre alt ist und studiert. Dann startet man nämlich beispielsweise ins Wochenende mit einer Kneipentour im 10. und 11. Arrondissement. Danach geht man in ein Konzert. Später noch essen. Vielleicht tanzen.
In Paris kann man dabei im Jahr 2015 getötet werden.
"Ich brauche Wärme"
Nach der Horrornacht, in der Valérie Robert jedes Mal erleichtert durchatmete, wenn sie wieder ein Lebenszeichen von einem ihrer Liebsten und Bekannten bekam, zog sie für den Rest des Wochenendes zu ihrem Freund Pierre Brunet und seinen beiden Kindern Octave und Madeleine. „Ich brauche ein bisschen Wärme“, sagt sie an der Wohnungstür im fünften Stock. Sie lädt ein in die Stube, die ihr so viel Halt in diesen schwierigen Tagen gibt.
Im Wohnzimmer ist es wohltemperiert, die Patchworkfamilie sitzt am gedeckten Tisch. Edles Porzellan. Es riecht nach Käse, Nüssen und feinem Salatdressing. Eine Flasche Rotwein, Jahrgang 1999, schon fast leer. Im Regal stehen Bücher mit großen Titeln: „Grundlagen der Ethik“ oder „Recht und Revolution“. „Wir sind eine typische Bobo-Familie“, sagt Pierre Brunet, 46, Jurist. Bobo ist eine Wortkreation aus „Bourgeois“ und „Bohémien“. Er sagt: „Uns geht es gut in diesem Viertel.“ Dann lässt er sich aufs Sofa fallen, grübelt kurz, analysiert. „Die Terroristen haben gezielt gehandelt. Diese Attentate können nicht aus dem Ausland gelenkt sein.“ Pierre Brunet behauptet: „Die Strippenzieher dieser Verbrechen sind Europäer wie wir.“
Die 17-jährige Madeleine guckt ihren Vater irritiert an und unterbricht ihn durch Kichern. Sie kennt das schon, Papa doziert. Er ergänzt: „Syrische Pässe hin oder her, diese Attentate sind doch nicht in Raqqa geplant.“
Die wahllosen Schüsse in die Menge der Restaurantterrassen und Konzerthallen in der östlichen Innenstadt von Paris zielten präzise auf einen bestimmten Teil der französischen Gesellschaft. Zwischen dem Gare du Nord und der Bastille wohnen viele Wissenschaftler, Anwälte, Lehrer, Journalisten, junge Unternehmer, Studierende. Hier war es für die Terroristen leicht, so viele wie möglich von ihnen zu ermorden.
Der Professor wiederum, Pierre Brunet, drückt es in seiner Analyse hart aus: „Wir Bobos bleiben gern unter uns.“ Das sei den Menschen hier zum Verhängnis geworden.
Zur Zielscheibe geworden
Familien wie die Brunet-Roberts bilden in ihren schön renovierten Apartments, wo früher Afrikaner, Araber, arme Franzosen wohnten, das Rückgrat der Republik. Der Staat zählt auf diese Menschen und rekrutiert seinen Nachwuchs aus ihren Reihen. Die beiden aber sagen: „Wir schließen Menschen aus, deswegen sind wir zur Zielscheibe geworden.“ Und dann fällt ein Satz, den man seit Freitagabend sehr oft hört in Paris und den hier Pierre Brunet ausspricht: „Ich habe Angst, dass es gar nicht mehr aufhört.“
Damit wäre Paris kein Sehnsuchtsort mehr, sondern tatsächlich nur noch die Stadt der Angst. Und natürlich ist das auch die Sorge der Unternehmer, die von der Attraktivität der Metropole leben. Nicole Grunder, Chefin von „Stadtrundgang Paris“, hat darüber viel nachgedacht. Ihre Agentur richtet sich an deutschsprachige Besucher, und Grunder hat bereits Samstagfrüh alle Touren für die nächsten Tage per SMS und Mail abgesagt. Ohne Stornierungskosten.
„Es kam mir unangemessen vor, Leuten fröhlich Paris zu zeigen“, sagt Grunder. Sie habe aber auch niemanden gefunden, der ihre Gäste, allein am Samstag sechs Gruppen, durch die Stadt geführt hätte. Ihre Guides wollen weder das Haus verlassen noch in die Metro steigen. „Das kann ich gut verstehen.“ Gestern sei sie ebenfalls den ganzen Tag daheim geblieben. „Aber jetzt will ich spüren, welche Energie die Stadt gerade hat.“ Deshalb wolle sie nun gleich losstiefeln, eine Reisegruppe will trotz allem die Innenstadt sehen: den geschlossenen Louvre, die Seine.
Es scheint die Sonne in Paris.
"Nicht so schlimm wie in Israel"
„Ich sage meinen Gästen immer wieder, es ist zwar nicht so schlimm wie in Israel hier, aber es ist ein anderes Leben als in Deutschland.“ Sie sei den Notstand gewohnt, hier eine Bombendrohung, dort ein auffälliges Päckchen im Bahnhofsmüll, ein colis suspect, weshalb die Metro nicht weiterfahren kann. „Seit die französische Armee 2013 in Mali eingeschritten ist, spätestens aber seit ,Charlie Hebdo‘ sind wir erprobt. Bombendrohungen laufen nicht einmal mehr im Fernsehen.“
Grunder war sogar leicht genervt von den ständigen Kontrollen nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ im Januar. Beispielsweise im jüdischen Viertel Le Marais, wo sie bei jedem Besuch eines öffentlichen Gebäudes mit der gesamten Reisegruppe Taschen- und Ausweiskontrollen über sich ergehen lassen musste. „Im Nachhinein war ich wohl ein bisschen naiv.“ Das Marais ist ein Viertel, in das einige Reiseveranstalter ihre Kunden zunächst nicht mehr führen wollen.
Im Internet besprechen sich Reisende, ob sie ihren Städtetrip überhaupt antreten sollen. „Jetzt erst recht“, raten manche. Nicole Grunder sieht das Weihnachtsgeschäft gefährdet. „Da kommen sonst die Leute, um über die Weihnachtsmärkte zu spazieren. Ausgerechnet zu einem christlichen Fest.“ Allerdings hätte sich der Markt nach „Charlie Hebdo“ innerhalb von zwei Wochen erholt.
Zentraler Ort der Trauer
Damals lagen Berge von Rosen vor den Redaktionsräumen des Satiremagazins. Schockierte Pariser klebten ihre Kondolenzbotschaften an die Fassaden. Viele Franzosen fragten sich, ob das nur ein Anfang sei. Nach dem 13. November sind sie sich sicher. Gleichzeitig sind sie irritiert über den Fokus der aktuellen Angriffe: Es werden nicht mehr ganz bestimmte Individuen, die etwas gesagt oder getan haben, oder Institutionen angegriffen – sondern völlig unbeteiligte Menschen.
„Wir haben nicht ihren Propheten beleidigt“, sagt eine Frau an der Place de la République und fragt, was eigentlich die Forderungen dieser Terroristen seien. Der zentrale Platz ist wieder zum Ort der Trauer geworden. Wieder filmen unzählige Fernsehkameras, wie nach und nach Menschen auf den Platz strömen. Wieder legen sie Blumen nieder, zünden Kerzen an, senken den Kopf, sprechen sich Mut zu. Ein Kamerateam bedrängt einen Mann, der seine Tränen nicht zurückhalten kann. Die Reporterin redet so lange auf ihn ein, bis er erzählt, dass seine Freundin bei den Attentaten am Freitag getötet wurde. „Pourquoi?“ Mehr bringt er nicht über die Lippen.
Trauer und Trotz liegen sehr dicht beieinander in diesen Stunden und Tagen. Fragt man die Menschen, ob sie am Montag vorhaben, zur Arbeit zu gehen, lautet die Antwort: „Was denn sonst?“
An der Rue du Chemin Vert will sich Linda in den ersten Stunden des Sonntags wieder in ihre Wohnung verkriechen. „Ein Luder muss auch mal schlafen“, scherzt sie noch, gibt den Code für das Haustürschloss ein und verschwindet im dunklen Flur. Die Fenster eines Apartments im ersten Stock sind weit aufgerissen. Laute Musik drängt auf die verlassene Straße. Die jungen Leute, die hier Party machen, haben gerade eine Flasche Champagner geköpft. Sie lachen, denn sie spielen ein Spiel: Wer am schrägsten beim Karaoke singt, hat gewonnen.
Als Erstes ist eine unangenehm hohe Stimme zu hören, mit starkem französischen Akzent wird der Song „Bad Romance“ von Lady Gaga ins Mikrofon geschmettert.
So klingt die Résistance von Paris.